Online-Recruiting: Ernüchterung statt Euphorie

16.07.2002
Von in Ingrid
Als das Internet noch für Fortschritt und Prosperität stand, sprachen Unternehmen gerne davon, zukünftig alle Bewerbungen nur noch online zu managen. Inzwischen sind einige Personalabteilungen von einer E-Mail-Bewerbungsflut überrollt worden, so dass sie heute die neuen Möglichkeiten differenzierter beurteilen.

„Die Euphorie lässt nach. In Zukunft wird es ein sinnvolles Nebeneinander von Internet und Print geben”, meint Hans-Christoph Kürn, Personal-Manager bei der Siemens AG und für das Recruiting verantwortlich. Aus eigener Erfahrung weiß er, dass einige Kollegen aus den Fachabteilungen lieber eine Bewerbungsmappe in der Hand halten und darin blättern, als am Bildschirm durch die Unterlagen des Bewerbers zu klicken. “Wir in der Personalabteilung sehen uns als interne Dienstleister und erfüllen die Wünsche unserer Kunden aus den Fachabteilungen”, zeigt sich der Personal-Manager diplomatisch.

Siemens erhält jährlich zirka 240 000 Bewerbungen, darunter 70 000 Initiativbewerbungen. Zwei Drittel erreichen das Unternehmen elektronisch. Auch in fünf bis sechs Jahren, davon ist Kürn überzeugt, wird es weiterhin Bewerbungen per Briefpost geben. “Es ist weder ein Bonus noch ein Malus, welchen Weg die Interessenten wählen”, ergänzt Kürn. Gerade bei Großunternehmen stieg durch die neuen Kommunikationswege die Zahl der Anfragen an. “Die Bewerber sind selbstbewusster geworden, und die Hemmschwelle, Anfragen zu schicken oder sich zu bewerben niedriger”, weiß SAP-Pressesprecher Markus Berner. Die Walldorfer erhielten 2001 zirka 30 000 Bewerbungen, davon kamen knapp die Hälfte über das Netz.

“Durch Online-Bewerbungen und E-Mails steigt die Zahl der Anfragen dramatisch an. Allerdings lässt die Qualität oft sehr zu wünschen übrig”, erzählt Marcus Fischer, der bei Audi in Ingolstadt für das Personal-Marketing in den Neuen Medien zuständig ist. Die klassischen Bewerbungsstandards gelten online genauso wie auf Papier, werden aber oft nicht eingehalten. “Wir bekommen E-Mails, in denen Interessenten beispielsweise schreiben: ‘Ich habe Betriebswirtschaft studiert und möchte irgendetwas in diesem Bereich bei Ihnen machen’,” erzählt er verwundert.

Doch die Personalabteilung beantwortet alle halbwegs ernsthaften Anfragen, fordert weitere Informationen an, verweist auf den Online-Bewerbungsbogen und fragt genauer nach den Qualifikationen. “Rund die Hälfte der Bewerbungen erreichen uns als Initiativbewerbungen ohne Bezug zu einer ausgeschriebenen Stelle”, konkretisiert Fischer. Momentan erhält das Unternehmen schon 40 Prozent der Bewerbungen über das Internet, zukünftig möchte der Personalexperte die Quote auf 80 Prozent erhöhen. Allerdings räumt auch er ein, dass sich nicht jede Position für eine elektronische Bewerbung eignet.

Unternehmen schätzen die Flut der Online-Bewerbungen ganz unterschiedlich ein. Für manche stellen die Mails eine zusätzliche Belastung dar, zumal die Interessenten eine schnelle Reaktion erwarten, andere hoffen, auf diese Weise talentierte Mitarbeiter zu finden. Beim Software-Beratungshaus sd&m kommt die Häfte aller Bewerbungen über das Netz. “Viele Bewerber nutzen die informelle E-Mail-Anfrage zur ersten Kontaktaufnahme. Die Hürde für die Bewerber ist dabei niedriger”, sagt Christoph Reuther, Personalleiter bei sd&m in München. Das Unternehmen hat ebenfalls mit einer Bewerbungsflut per E-Mail zu kämpfen, nimmt die möglichen Nachteile allerdings in Kauf. “Wenn jemand am Samstagabend surft und zufällig auf unser Unternehmen aufmerksam wird, schnell eine E-Mail-Anfrage abschickt, dann kann das durchaus ein potenzieller neuer Mitarbeiter sein.”

"Uns ist es am liebsten, wenn Bewerber ihre Unterlagen online schicken", erklärt Petra Scheungraber, CSC Ploenzke.

CSC Ploenzke setzt ebenfalls auf die virtuelle Bewerbungsmappe. “Uns ist es am liebsten, wenn Bewerber ihre Unterlagen online schicken. Bewerbungen in Papierform werden zur elektronischen Weiterleitung an die Fachabteilung eingescannt”, erklärt Petra Scheungraber, Leiterin des Personal-Marketings beim IT-Dienstleister das hausinterne Vorgehen. Die Auswahl läuft, was die Technik betrifft, elektronisch ab, allerdings benötigt das Beratungsunternehmen später von den zukünftigen Mitarbeiter die vollständigen Unterlagen, denn die Personalakten verwaltet CSC Ploenzke nach wie vor in Papierform.

“Vielleicht sind wir in diesem Punkt altmodisch, aber es ist oft angenehmer, die Akte der Mitarbeiters zu ziehen und darin zu blättern”, ergänzt die Personalfrau. Momentan kommen bereits 70 Prozent der Bewerbungen über das Netz, Scheungraber hält 80 Prozent für ein realistisches Ziel. Auch das Münchner Beratungshaus sd&m möchte spätestens zum Vorstellungsgespräch eine Bewerbungsmappe, selbst wenn die elektronischen Unterlagen vollständig waren. Die SAP AG wickelt den Einstellungsprozess überwiegend online ab, führt die Personalakten aber auf Papier.

Umständliche Bewerbungsbögen

Manche Unternehmen wollen als elektronische Bewerbung keine frei formulierten Briefe, sondern stellen standardisierte Bewerbungsbögen ins Netz. Mitunter wird den Bewerbern dabei einiges an Geduld, Zeit und schnellem Netzzugang abverlangt. Ständig öffnen sich neue Browserfenster, die Bewerbungsbögen lassen sich oft nur Punkt für Punkt abarbeiten, Attachments lassen sich nicht immer anhängen. Bei Audi beispielsweise ist selbst bei IT-Jobangeboten nicht immer eine Online-Bewerbung möglich.

Doch selbst der ausgefeilteste Bewerbungsbogen reduziert, vereinfacht und standardisiert. Hier kann die klassische Bewerbungsmappe oft mehr über den Bewerber aussagen. “Mit einer Online-Bewerbung entsteht eine Uniformität, die angehängte Attachments nicht ausgleichen können. Die persönliche Duftmarke des Bewerbers geht bei der virtuellen Variante verloren”, davon ist der Recruiting-Verantwortliche Kürn von Siemens überzeugt. Scheungraber von CSC Ploenzke sieht in Standards dagegen einen Vorteil: “Ich kann bei standardisierten Formularen schneller die Stärken des Bewerbers erkennen. Wir berücksichtigen die Individualität der Bewerber in unseren Bögen durchaus mit entsprechenden Fragen und freien Textfeldern.”

Zwar schreiben die meisten Großunternehmen ihre offenen Stellenangebote in den gängigen Jobbörsen aus, doch der Trend geht zum Stellenmarkt auf der eigenen Homepage. “Die BMW Group hat ein gutes Image, viele Leute interessieren sich für die Produkte und unser Unternehmen. Wir bauen unser eigenes Angebot weiter aus und gestalten es attraktiver; Jobausschreibungen in externen Stellenbörsen haben deshalb keine so große Bedeutung für uns”, erklärt Ralf Urlinger, der beim Münchner Autobauer für das Personal-Recruiting verantwortlich ist.

Bereits 1999 wollte BMW Bewerbungen auf Dauer nur noch online abwickeln. Im Jahr 2001 bewarben sich lediglich 30 Prozent der Kandidaten über das Internet, in diesem Jahr liegt die Quote um fünf Prozentpunkte höher, von einer reinen Online-Bewerbung ist das Unternehmen noch weit entfernt. “Über die verschiedenen Berufsgruppen hinweg nutzen in erster Linie Hochschulabsolventen die Online-Variante, Leute mit Berufserfahrung dagegen seltener.”

Ob virtuell oder per Post – die Personalexperten sind sich einig – Anschreiben und Lebenslauf sind selten auf das Unternehmen abgestimmt und ignorieren elementare Anforderungen. “Klassische Bewerbungsstandards gelten auch für eine elektronische Bewerbung”, erklärt Fischer von Audi, Massen-Mailings und fehlerhafte Anschreiben sind keine Seltenheit. Allerdings kennen Personalverantwortliche auch das andere Extrem. “Nur weil Siemens ein internationaler Konzern ist, wollen wir für eine in Deutschland ausgeschriebene Stelle keine komplette Bewerbung in Englisch. Das halte ich für ziemlich übertrieben”, erzählt Kürn.