"Ohne langfristige Investitionen geht nichts"

24.10.1986

Mit Dr. Jürg Tschirren, Vorsitzender des Aufsichtsrats der deutschen Bull AG, sprach Beate Kneuse

- Herr Dr. Tschirren, Sie sind 1967 aus der Schweiz zur damaligen deutschen Bull-General-Electric-Tochter gekommen. Wie gestaltete sich Ihr Aufgabenbereich?

Ich war vor meinem Wechsel nach Deutschland erst Verkäufer und danach Geschäftsführer bei der Schweizer Bull-Niederlassung. Im Oktober 1967 wurde ich dann nach Köln versetzt und habe dort die Geschäftsführung übernommen, die zur damaligen Zeit auf das Marketing und den technischen Kundendienst beschränkt war. 1970 wurde ich Alleingeschäftsführer.

- Nachdem Sie Ihr Amt angetreten hatten, fanden einige Fusionen in USA und Frankreich statt. Wie würden Sie diese Zusammenschlüsse heute bewerten, und welche Auswirkungen hatten sie für die Filiale in Deutschland?

Ich glaube, man kann und darf nicht nur die Fusionen nach 1967 betrachten, sondern muß vor allem zurückgreifen auf den ersten Zusammenschluß mit General Electric 1964. Dieser war eigentlich entscheidend, denn er verschaffte Bull den Durchbruch in die moderne elektronische Datenverarbeitung. Darüber hinaus konnte sich Bull amerikanisches Know-how zunutze machen und gleichzeitig finanzielle Engpässe beseitigen. Der Aufbau eines modernen elektronischen DV-Angebotes ist sehr kostspielig, und ohne Partner hätte Bull dies nicht realisieren können.

Mit General Electric brachen für Bull die "Lehr- und Wanderjahre" an: Man wurde größer, wurde Konzernmitglied. Man mußte lernen, als Konzernmitglied zu operieren, und lernen, in eine finanztechnische, strategische und planerische Disziplin eingebunden zu sein. Bull machte in diesen Jahren einen Riesenfortschritt. 1970 fusionierte General Electric mit Honeywell. Das war für Bull eine große Sache. Denn im Gegensatz zu General Electric, die in Europa mit nur wenigen Niederlassungen vertreten waren, hatte Honeywell eine vollständige Vertriebsorganisation aufzuweisen. Nicht in allen Ländern gleich groß, aber doch vergleichbar mit der Bull-Organisation. In Deutschland waren dies zirka 1100 Mitarbeiter von Honeywell und ebenfalls rund 1100 von Bull.

Die Aufgabe bestand darin, diese beiden Mannschaften zu verschmelzen. Somit brachte der Eintritt von Honeywell auch eine organisatorische Herausforderung für uns mit sich. 1976 erfolgte schließlich die Fusion zwischen Honeywell Bull und der CII, die sich in Frankreich abspielte. Die CII war eine staatlich geförderte Computergesellschaft die auch im Rahmen des Unidata-Projektes aktiv war. Personell waren wir in Deutschland von dieser Maßnahme nicht betroffen; die CII hatte nur ein kleines Büro in Frankfurt. In Frankreich jedoch mußten viele Mitarbeiter übernommen und eingegliedert werden.

- Sie haben gerade das Unidata-Projekt angesprochen: Welche Idee stand hinter dem Unidata-Zusammenschluß, und woran ist es letztendlich gescheitert?

Hinter der Idee steckt das, was Bull heute auch anstrebt: die Zusammenarbeit der europäischen Computerindustrie. Gescheitert ist das Projekt meiner Meinung nach deshalb, weil es keine einheitliche Führungsstruktur gab. Man wollte zwar kooperieren, aber trotzdem selbständig bleiben. Für den Außenstehenden entstand der Eindruck, daß die Aktivitäten der Kooperationspartner weiterhin vom Konkurrenzdenken bestimmt wurden. Somit war man weit entfernt von einer einheitlichen Firma, und jeder der drei Partner - also Siemens, Philips und CII - machte letztendlich was er wollte. Das konnte nicht gutgehen, Bull hat nicht umsonst bei den jeweiligen Fusionen die Unannehmlichkeiten bei der Bereinigung von Führungsstrukturen durchgefochten.

- Welchen Stellenwert ordnen Sie im Gegensatz zu der damals gescheiterten Unidata heutigen europäischen DV-Kooperationen zu?

Ich glaube, daß solche Kooperationen der richtige Weg sind, um die europäische Computerindustrie weiterzuentwickeln. Bull arbeitet heute zum Beispiel erfolgreich mit ICL und Siemens im Forschungszentrum in München zusammen. Derartige Kooperationen - wie sie auch andere Unternehmen initiieren und betreiben - sind ohne Zweifel wichtig. Dennoch sollte man sich nicht nur auf die europäische Schiene versteifen. Zur Stärkung der europäischen Computerindustrie benötigen wir auch das amerikanische Know-how. So hat Bull mit Honeywell seinen wichtigsten Partner.

- Hat aber die europäische DV-Industrie gemessen an früheren Zeiten gegenüber den USA - und besonders gegenüber dem Marktriesen IBM heute nicht an Boden verloren?

Nein, aus meiner Sicht heraus ist Europa heute stärker als in den sechziger oder siebziger Jahren. Unternehmen wie Siemens, Nixdorf, Philips und Bull stehen heute besser da als noch vor 10 oder 15 Jahren. Deshalb sehe ich auch kein Davonziehen der IBM. Die europäische Computerindustrie hat sich eindeutig entwickelt, und der Trend zur technologischen Unabhängigkeit besteht heute weitaus mehr als früher. Und betrachtet man die Marktanteile der letzten Jahre, so läßt sich auch da kein Davonziehen von IBM feststellen. Im Gegenteil: Laut Diebold-Statistik sind IBMs Marktanteile bei Standardcomputern rückläufig. Unternehmen wie Siemens und Nixdorf konnten ihre Position halten, wenn nicht sogar ausbauen. Und für Bull sind die Marktstellung, die Produktstellung und die Zukunftsperspektiven besser denn je.

- Dennoch fällt immer wieder zuerst der Name IBM, wenn über Datenverarbeitung gesprochen wird.

Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Den Eindruck, daß man nur von der IBM spricht, hatte ich vor einigen Jahren stärker. Als ich 1962 bei Bull begann, mußte man immer erst einmal lang und breit erklären, wer Bull ist, bevor man ein Angebot unterbreiten konnte. Heute dagegen werden wir bei größeren Projekten automatisch in den Kreis der Bewerber eingereiht. Natürlich hat IBM nach wie vor den größten Marktanteil und ist demzufolge auch bei Großprojekten, die in der Öffentlichkeit eine größere Aufmerksamkeit finden, stärker vertreten als Siemens, Nixdorf oder Bull.

- Ein wichtiges Kapital in der Geschichte Bulls ist die 1981 in Frankreich vollzogene Nationalisierung des Konzerns. Wie nahmen sie diese Maßnahmen auf? Und wie sehen Sie die Zukunftsperspektiven des Konzerns, vor allem im Hinblick auf die von der Regierung angekündigte Reprivatisierung?

Zweifellos waren viele Kunden und Interessenten verunsichert, als Francois Mitterand in seinem Wahlkampf immer wieder betonte, im Falle eines Wahlsieges unter anderem auch Bull zu nationalisieren. Ich sage bewußt nationalisieren, denn zu einer Verstaatlichung besteht ein gravierender Unterschied. Bei einer Nationalisierung geht das Kapital in die Hände des Staates über, bei einer Verstaatlichung erhalten Unternehmen sowie Mitarbeiter einen gewissen Behörden- beziehungsweise Beamtenstatus.

Ich selbst habe diesen Schritt von Anfang an begrüßt. Als Mitglied des Beirats der Präsidenten von Bull in Paris verfügte ich über ausreichend Insider-Informationen, um zu sehen, daß unsere Probleme der damaligen Zeit-Unterkapitalisierung und der hohe Stellenwert von Forschung und Entwicklung-mit den finanziellen Mitteln der privaten Aktionäre kaum hätten bewältigt werden können. Dagegen war ich überzeugt, daß der Staat im Falle einer Mehrheitsbeteiligung an der CII Honeywell Bull das erforderliche Kapital zur Verfügung stellen würde. Dies geschah dann auch. Das Kapital von Bull wurde ständig aufgesteckt und Forschung und Entwicklung gefördert.

Ganz entscheidend ist meiner Ansicht nach aber gewesen, daß 1982, als es zu einem Führungswechsel in der Geschäftsleitung von Paris kam, ein Datenverarbeitungsspezialist eingesetzt wurde. Der neue Aktionär, der Staat, ließ sich also nicht dazu verleiten, etwa einen verdienten Politiker zum Konzernleiter zu berufen, sondern stellte mit Jacques Stern einen EDV-Fachmann, einen Spezialisten vor allem auf dem Gebiet hochentwickelter Software, an die Spitze des Unternehmens. Gerade die Tatsache, einen Software-Fachmann in dieser Position zu haben, zahlte sich für Bull aus.

Für die Zukunft des Konzerns bin ich zuversichtlich. Die Gruppe Bull wird ihren heutigen Marktwert und Marktstand noch weiter entwickeln. Die Weichen dafür sind gestellt. So sind wir mit unserem BlueGreenKonzept in der Büroautomation/Bürokommunikation eingestiegen, haben uns auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Datenverarbeitung mit neuen Produktlinien engagiert, und die heutige Computerlinie Bull DPS 7 wird ebenfalls konsequent weiterentwickelt. An unserer kontinuierlichen Entwicklung würde auch eine Reprivatisierung nichts ändern. Vorausgesetzt allerdings, daß auch die künftigen Anleger eine europäische Computerindustrie wünschen und weiterentwickeln wollen und gewillt sind. Denn ohne langfristige Investitionen geht im Computergeschäft nichts.

_AU:Beate Kneuse