Ermittlung des Outsourcing-Potentials (Teil 1)

Ohne eine IT-Neugestaltung ist die DV-Auslagerung sinnlos

13.03.1992

In der Diskussion des Themas Outsourcing wird die Erwartung, Kosten reduzieren zu können, nach Meinung von Wilfried Heinrich* unangemessen stark betont. Ebenso werde der Fehler gemacht, die DV-Auslagerung ohne Bezug auf die Unternehmensstrategie als isolierte Maßnahme vorzunehmen. Im ersten Teil seines Beitrags zeigt der Autor, welche Faktoren für den Outsourcing-Boom verantwortlich sind und wie sie miteinander verflochten sind.

Die zahlreichen DV-Probleme haben in vielen Unternehmen zu einer "Legitimationskrise" des Computers geführt. Die Verantwortlichen finden im Gehege veralteter oder gar widersprüchlicher Architekturen nicht mehr das Ticket für den Innovationszug gen Zukunft. Sie müssen steigende Bedürfnisse befriedigen, obwohl ihnen das Management bei den Budgets mehr und mehr die Daumenschrauben ansetzt.

DV-Komplexität ist unüberschaubar geworden

Die DV-Verantwortlichen befinden sich noch immer in einem Feldzug gegen die abteilungsegoistische Systemvielfalt, werden jedoch beim Streben nach abgestimmten DV-Strategien immer wieder von deren partikularen Interessen überrollt. Sie wissen um die Sicherheitsrisiken der eigenen Informationstechnik und müssen hoffen, daß das Schicksal weiterhin einen großen Umweg um die eigene DV-Abteilung macht.

Nähere Betrachtungen dieser Probleme offenbaren, wie schwer es ist, gangbare Wege aus dem Dilemma zu finden. So ist zum Beispiel die DV-Komplexität heute nahezu unüberschaubar geworden. Welcher DV-Leiter ist heute noch in der Lage, kurzfristig ein halbwegs genaues Bild der eigenen Informationstechnik zu geben? Spätestens bei der Aufzählung der im Einsatz befindlichen Software werden die meisten DV-Leiter zu Spekulationen übergehen.

Lange Zeit folgten die Anwender den Lockrufen der Computerbranche und zahlten dafür den Preis, daß die DV bald unkoordiniert zerstückelt war und mangels zentraler Steuerung in jeder Fachabteilung ein anderes Gesicht zeigte. Es entstand eine technische Insel neben der anderen. Trotzdem mußten konsequenterweise Neuerungen selbst dann integriert werden, wenn die konzeptionelle Grundstruktur schon lange überaltert war.

So entstanden heterogene und individuelle DV-Landschaften, die eine Reihe problematischer Konsequenzen nach sich zogen:

- ineffiziente Nutzung der DV wegen fehlender Integration der Anwendungen uneinheitlicher Benutzeroberflächen, der Kombination alter und neuer Systemkonzepte, der rechnerabhängigen Datennutzung, unzureichender Organisationslösungen etc.;

- zu hoher Projektaufwand bei neuen Entwicklungen wegen unterschiedlich konzeptionierter Softwarelösungen und Trägersysteme verschiedener Generationen (Heterogenität von Schnittstellen, Protokollen, Systemsoftware etc.);

- schlechte Integrationsfähigkeit zusätzlicher Verarbeitungskapazitäten durch Beschränkung der systemtechnischen Infrastruktur;

- begrenzte Innovationsfähigkeit aufgrund der veralteten systemtechnischen Basis;

- zu hoher Wartungsaufwand sowohl für Hardware als auch für unzureichend dokumentierte individuelle Anwendungen;

- ungünstige Kosten-Nutzen-Relation durch überdurchschnittlich hohen Projektwand bei der Entwicklung und Implementation neuer Anwendungssysteme, durch Integration neuer Hardware etc.;

- geringe Steuerungsmöglichkeiten seiten des Managements, da die heterogene Systemlandschaft einer unternehmensweiten Informationsstruktur im Wege steht;

- Sicherheitsprobleme, deren Ursachen in den veralteten Systemen und der Heterogenität liegen.

Unter diesen Vorzeichen verliert die Informationstechnik ihre Bedeutung als Instrument mit dem sich die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen läßt. Sie leidet unter den Bremseffekte der ungünstigen Kosten-Nutzen-Relationen und ihrem geringen Steuerungspotential.

DEC zum Beispiel hat in eine jüngeren Erhebung bei Kunde festgestellt, daß 90 Prozent der befragten Unternehmen drei und mehr Betriebssysteme im Einsatz haben. Auch ohne repräsentativen Charakter der Analyse, und obwohl die Vielfalt der Betriebssysteme nicht allein das Problem ausmacht wird hier die strukturelle Schwäche der DV-Realität bei den Anwendern deutlich. Es ist kaum anzunehmen, daß Kundenbefragungen anderer Hersteller zu weniger eindeutigen Ergebnissen kommen würden.

Die Zeit, in der das Management fast vorbehaltlos die jährlich wachsenden Budgetsteigerungen akzeptierte, ist vorbei. Immer häufiger wird die Frage gestellt, ob den Investitionskosten ein Äquivalent auf der Nutzenseite gegenübersteht und ob die Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsprognosen eingetroffen sind. Die Antworten sind meist wenig befriedigend, statt dessen stellen die Controller fest, daß die DV-Gesamtkosten im Vergleich zu den Wachstumsraten des Umsatzes überproportional steigen, während gleichzeitig der Nutzen sinkt.

Das Hauptproblem, das dem Management zu schaffen macht, ist die wirtschaftliche Beurteilung von IT-Investitionen. Über lange Zeit wurde diese Frage völlig stiefmütterlich behandelt. Untersuchungen dokumentieren, daß ein Engagement im Bereich Informationstechnik nicht zwangsläufig mit der Leistungsfähigkeit des Unternehmens korreliert. Vielmehr zeigen die Erfahrungen, daß leistungsfähig strukturierte und organisierte Unternehmen ihr Wettbewerbspotential durch die Informationstechnologie noch ausbauen können, während, so die Erkenntnisse der Diebold Deutschland GmbH, es den weniger leistungsfähigen Betrieben - hart gesagt - um so schlechter geht, je mehr sie für Informationstechnik ausgeben."

Die Rechner werden noch zu wenig genutzt

Kaum verwunderlich, daß sich die Controller mehr und mehr auf den Plan gerufen fühlen und den Nutzen mancher Investitionen kritisch hinterfragen. Die interne Studie eines mittelständischen Unternehmens mit 1200 Beschäftigten sagt beispielsweise aus, daß nur ein Drittel der 283 PCs einen Nutzungsgrad von über 40 Prozent erreicht.

Jeder zweite Arbeitsplatzrechner wird sogar "selten" beziehungsweise "so gut wie nie" benutzt. Im Rahmen einer konsequenten Bedarfsplanung und Arbeitsorganisation hätten zudem Hardware-, Software-, Implementierungs- und Schulungskosten von über einer Million Mark eingespart werden können - ein Beispiel für viele.

Charakteristisch für die ganze Geschichte der Informationstechnik sind auch die kontinuierlichen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt. Hier erwuchsen zusätzlich finanzielle Probleme, weil die Beseitigung des Personalmangels teuer bezahlt werden mußte, ohne daß die DV-Probleme damit wirklich gelöst worden wären. Unter diesen Vorzeichen haben die DV-Abteilungen der Anwender immer wieder mit Mängeln zu tun, die sich hemmend auf sämtliche Aufgaben, von der konzeptionellen Ausrichtung bis hin zum operativen Geschäft, niederschlagen:

- Das vielfältige Aufgabenfeld in der DV verlangt Multitalente, wodurch die ebenfalls erforderliche Spezialisierung in vielen Bereichen auf der Strecke bleibt.

- Infolge ständiger personeller Engpässe wird auf eine regelmäßige Fortbildung der Mitarbeiter verzichtet und damit das eigene Know-how verringert.

- Der Blick für konzeptionelle Notwendigkeiten verliert sich in den kaum zu bewältigenden Problemen des Alltags, wodurch gleichzeitig ein fruchtbarer Nährboden für innerbetriebliche Kritik geschaffen wird.

- Anwendungsstau und fehlende Konzepte reduzieren die Akzeptanz der Fachabteilungen. Dort werden die Mängel der DV als willkommener Anlaß gesehen, DV-Politik in eigener Regie zu betreiben.

- Das unkontrollierbare Eigenleben verschiedener Funktionsbereiche und Organisationseinheiten untergräbt die Kompetenz der DV-Verantwortlichen. Sie geraten in die Rolle des Zaungastes, weil sie sich damit zufrieden geben müssen, die drängendsten Tagesprobleme zu lösen.

- Frustration und Motivationsprobleme der Mitarbeiter führen zu einer überdurchschnittlichen Fluktuation.

Das Thema Sicherheit muß als ein generelles Bewußtseinsproblem der Informationstechnik bezeichnet werden. Wie anders läßt sich erklären, daß etwa 99 Prozent aller Rechenzentren nicht in der Lage sind, nach einem Katastrophenfall innerhalb von 48 Stunden einen zumindest begrenzten Notbetrieb wieder aufzunehmen?

Nur 150 Unternehmen mit Groß-DV verfügen gegenwärtig über ein Ausweich-Rechenzentrum. Die statistische Wahrscheinlichkeit für einen Großschaden liegt nach Expertenmeinung zwar nur in der Größenordnung von zehn hoch minus fünf jährlich, aber bei rund 100000 Rechenzentren beziehungsweise DV-Großanlagen wären immerhin 50 Unternehmen in der Bundesrepublik betroffen.

Totalausfall hat den Ruin zur Folge

Der Gerling-Konzern hat errechnet, daß beispielsweise Versicherungen einen Totalausfall ihrer zentralen DV nur etwa fünfeinhalb Tage überleben würden. Produktionsbetriebe müßten ähnlich schnell Konkurs anmelden, und Handelsunternehmen sowie Banken stünden bereits nach zwei Tagen vor dem wirtschaftlichen Aus. IBM-Untersuchungen über Rechenzentrumsunfälle in den USA belegen, daß jedes vierte Unternehmen nach einem solchen GAU wirtschaftlich ruiniert war.

Mit ähnlichen Erkenntnissen wartet auch der Haftpflichtverband der deutschen Industrie auf. Rund 40 Prozent der von weitreichenden DV-Ausfällen betroffenen Firmen mußten demnach spätestens nach zwei Jahren einen wirtschaftlichen Zusammenbruch hinnehmen. Ursache dafür war in fast allen Fällen weniger der finanzielle Schaden an der Hard- und Software, sondern vielmehr der daraus resultierende Produktionsausfall sowie die aufwendige, zum Teil manuelle Neuaufbereitung von Daten. So entstanden Folgekosten, die in der Regel weit über dem Schaden im Systembereich lagen.

Wie akut das Thema Sicherheit auch heute noch ist, dokumentiert die 90er KES-Sicherheitsenquete. Diese inzwischen jährlich erscheinende, anerkannte Analyse der "Zeitschrift für Kommunikations- und EDV-Sicherheit" sagt beispielsweise aus, daß 67 Prozent der Unternehmen über keine gültige Sicherheitsstrategie verfügen und jedes zweite keine Backup-Planung vornimmt. KES bezeichnet dies als einen alarmierenden Wert, nicht nur im Hinblick auf physische Katastrophen, sondern auch wegen des Virusrisikos. Immerhin neun Prozent der Enquete-Teilnehmer hatten sich nach eigenen Angaben mit Viren herumzuschlagen."

Der Grund, warum sich Anwender den erforderlichen Sicherheitsstrategien noch immer verweigern, ist vor allem durch die beträchtlichen Kosten erklärbar. Die ohnehin schon überbordenden DV-Budgets würden bei Zusatzkosten im Sicherheitsbereich endgültig zum innerbetrieblichen Pulverfaß.

Ist das Outsourcing dazu geeignet, die genannten Probleme in den Griff zu bekommen? Gerade was die Kostenproblematik anbelangt, ist in der öffentlichen Diskussion seit geraumer Zeit die Auslagerung von DV-Leistungen, als ideale Problemlösung hochstilisiert worden. Deutlich geringere und gleichzeitig fixe Kosten wurden versprochen - ein Traum der Controller scheint in Erfüllung zu gehen. Möglicherweise ist dieser Optimismus zumindest teilweise berechtigt, nur: Welche Bereiche sollen ausgelagert werden - etwa die kostenträchtigsten? Und außerdem: Wie sind die anderen Probleme anzugehen?

Mit der Reduzierung auf den Kostenaspekt wird man den strategischen Optionen, die sich hinter Outsourcing verbergen, nicht gerecht. Wie anhand eines Szenarios dargestellt werden soll, bieten Auslagerungskonzepte durchaus mannigfaltige Möglichkeiten der Problemlösung.

Allerdings ist dabei auch zu beachten, daß sich die oben genannten Problemkategorien in der Regel nicht einfach isolieren lassen. Sie befinden sich vielmehr in einem Wechselspiel und konstituieren sich teilweise gegenseitig, beispielsweise in dieser Weise:

- Die Komplexität der DV reduziert die Wirtschaftlichkeit der informationstechnischen Basis (ungünstige Kosten-Nutzen-Relation) und forciert gleichzeitig die Personal- und Sicherheitsprobleme;

- Die Kostensituation mindert die Investitionsspielräume für ein Revirement der unbefriedigenden DV-Situation, begrenzt die Innovationsfähigkeit, beschränkt Maßnahmen zur Ausfallsicherheit und durchkreuzt personelle Pläne.

- die Personalprobleme hinterlassen in konzeptioneller Hinsicht negative Spuren bei der Ausgestaltung der DV-Entwicklung, sind ein Störfaktor für akzeptable Kosten-Nutzen-Relationen und drängen Sicherheitsfragen in den Hintergrund.

Outsourcing ist von vielen Faktoren abhängig

Diese Betrachtung der Problemstruktur ließe sich sicher weiter ausdifferenzieren, aber an dieser Stelle sollen nur die wechselseitigen Abhängigkeiten der verschiedenen Einflüsse transparent gemacht werden. Sie machen es fast unmöglich, ohne Beachtung des gesamten Wirkungsgefüges einen einzelnen Bereich herauszufiltern und ihn in den Mittelpunkt von Strategien zu stellen.

Wer beispielsweise aufgrund technischer Instabilitäten oder begrenzter Produktionskapazitäten bestimmte DV-Funktionen auslagern will, muß sich fragen, ob die verbleibenden Rechnerkapazitäten noch einen adäquaten Nutzungsgrad aufweisen oder ob ein wirtschaftlicher Betrieb nicht mehr gewährleistet ist.

Möglicherweise wird hierdurch ein neues Problem geschaffen, weil mit einer Verringerung der Kapazitäten automatisch die bislang zentralistische Ausrichtung des Unternehmens in Frage gestellt wird. (wird fortgesetzt)

*Wilfried Heinrich ist Mitarbeiter des Rheinischen Genossenschafts Rechenzentrums in Köln/Porz und Autor des Buches "Outsourcing. Strategien, Modelle, Praxis", Datacom-Verlag, Bergheim.