Das Beispiel Autoindustrie

Ökosysteme in der digitalen Welt müssen erarbeitet werden

10.11.2015
Von 
Dr. Lars Schatilow ist selbstständiger Unternehmensberater und Gründer der Butran Business Transformation GmbH.
"Automobile Dienste" könnte eine Smart Service-Plattform der deutschen Autobauer heißen. Ein solches digitales Ökosystem setzt Dialogfähigkeit voraus.

Haben Sie schon mal den Selbstversuch unternommen und sich für Ihr Unternehmen ein wirklich neues digitales Geschäftsmodell überlegt? Damit meine ich nicht die Vernetzung Ihrer Maschinen, um die Effizienz zu steigern. Ich meine auch nicht die Optimierung der Schnittstelle zu Ihren bestehenden Kunden. Denn das ist nur die vertikale Dimension der Digitalisierung, in der Sie sich mit Ihrem Umfeld und radikalen Schritten nicht wirklich beschäftigen müssen.

Nein, ich meine vielmehr die horizontale Integration von Unternehmen mittels der Digitalisierung? Denn wenn Sie Ihrer Kreativität freien Lauf lassen, werden Sie feststellen: Sie haben stets unternehmens- und branchenübergreifende Ideen im Kopf. Derartige Visionen für das digitale Zeitalter gilt es zu verfolgen. Sie sind der Maßstab.

Vor der technischen Umsetzung von geplanten digitalen Produkten und Services sollten manche Hersteller ihre Scheu verlieren und gemeinsam an Projekten arbeiten.
Vor der technischen Umsetzung von geplanten digitalen Produkten und Services sollten manche Hersteller ihre Scheu verlieren und gemeinsam an Projekten arbeiten.
Foto: Agsandrew - shutterstock.com

Eine solche Idee hatte auch unser Co-Vorsitzender im Arbeitskreis der Akademie der Technikwissenschaften, Frank Riemensperger, als er die Vision für eine Smart Service Welt skizzierte: Unternehmen müssten im digitalen Zeitalter miteinander kooperieren und datenbasierte Wertschöpfungsnetzwerke bilden. Ziel sei es, die Schnittstellen zu Kunden nicht an internationale IT-Giganten zu verlieren. Denn der Verlust von Kontrollpunkten in der Wertschöpfung geht schneller als gedacht.

Keine Chance gegen Apple's digitales Ökosystem

Apple's digitales Ökosystem besteht derzeit aus Hard- und Software sowie Services. Man spricht auch von einem Bundling-Geschäftsmodell, in dem sich die verschiedenen Produkte und Dienste optimal ergänzen und somit ein "Biotop" bilden. Die Transaktionskosten sind für den Apple Nutzer einfach zu hoch, um zu einem anderen Anbieter beziehungsweise Ökosystem zu wechseln. Das selbstfahrende Auto ist daher ein weiterer wichtiger strategischer Baustein. Denn das Unternehmen wäre dort präsent, wo Menschen Zeit und Interesse an Apple's Services haben.
Dabei handelt es sich um Mehrwertdienste, die von Kooperationspartnern wie Apotheken, Cafés, Restaurants oder Einzelhändlern bereitgestellt werden. Sie sind damit Teil des Ökosystems und dürfen zu Apple's Konditionen Dienste und Dienstleistungen anbieten. Zeitgleich geraten sie in höchste Abhängigkeit von dem IT-Giganten aus dem Silicon Valley. Zudem droht ihnen der Verlust über die Kontrolle der Kundenschnittstelle. Denn die übernimmt weitgehend Apple.

Gegen diese Macht haben deutsche Autobauer im Alleingang keine Chance. Sie müssten bereits heute über Smartphones und Smart-Service-Plattformen auf dem technischen Niveau und dem Verbreitungsgrad von Apple, Google, Samsung oder Huawei verfügen. Alles andere würde als Insellösung nicht akzeptiert werden.

Hiesiger Autismus ist eine große Gefahr

Der gemeinsame Kauf des Kartendienstanbieters Nokia Here durch Daimler, Audi und BMW zeigt, dass sich die Branche ihrer bedrohlichen Lage bewusst ist. Man ist bemüht, mit Here einen Technikvorsprung gekauft zu haben, da die Karten von Nokia präziser sind als Google Map, was für das selbstfahrende Auto unerlässlich ist.

Doch zeigt der Kauf auch, dass es an der Fähigkeit zur gemeinsamen Entwicklung datenbasierter Software- und Service-Plattformen weiterhin fehlt. Lieber kauft man ein gemeinsames fertiges Produkt als dass man gegenseitiges Wissen preisgibt.

Das "autistische Verhalten" der Branche ist hoch riskant. Schon heute hängt für viele der Kauf eines Autos von dessen Zugriffsmöglichkeit auf die intelligenten (Smart) Services von Apple ab. Es wäre dringend erforderlich, dass sich die deutschen Autobauer mit branchenfremden Partnern zusammenschließen und ein gemeinsames digitales Ökosystem, "Automobile Dienste", aufbauen.
Sollten IT-Giganten ihre Services in deutschen Fahrzeugen anbieten wollen, müssten sie dies über die "Automobile Dienste"-Plattform tun. Die deutschen Autokonzerne und ihre Partner würden die Hoheit über Kundenschnittstellen behalten und ihre Marktposition ausbauen können.

Vielleicht tragen die negativen Beispiele der US IT-Giganten dazu bei, dass sich viele hiesige Unternehmen derzeit gegen die Teilnahme an Smart Service-Plattform-Projekten auflehnen. Angesichts der Ökosystem-Monopolstellungen von Apple, Google oder auch Facebook besteht der Verdacht, dass auch hier die finanzkräftigen "First Mover" Plattformbetreiber werden wollen, um die Konkurrenz an die Leine zu legen und Kundenschnittstellen zu übernehmen. Das Misstrauen ist groß.

Investitionen in Vertrauen notwendig

Der Aufbau digitaler Ökosysteme, an denen Konkurrenten und branchenfremde Akteure partizipieren sollen ist daher vor allem eine Organisations- und Kommunikationsaufgabe. Denn es geht darum, Akzeptanz und Vertrauen bei unterschiedlichen Stakeholdern des künftigen Ökosystems zu schaffen. Diese Werte sind entsprechend der Netzwerkökonomie zwingend erforderlich. Es gilt: Ohne Vertrauen keine Kollaboration - ohne Kollaboration kein Netzwerk - ohne Netzwerk keine Wertschöpfungseffekte.

Für die horizontale Dimension der Digitalisierung ist der Aufbau von Vertrauensbeziehungen das "A und O". Als Organisationsform bietet sich das Genossenschaftsmodell an. In ihm ist der gemeinschaftliche Geschäftszweck verankert und steht Monopolisierungsversuchen relativ robust entgegen. Zudem ist der Aufbau von digitalen Ökosystemen eine kommunikative Herausforderung. Diverse Marktakteure mit unterschiedlichen Motivationen sollen sich einem Konstrukt anschließen, dessen monetärer Nutzen meist nicht für jeden konkret aufgezeigt werden kann. Hingegen sind die vermeintlichen Risiken auf den ersten Blick eindeutig und vorstellbar.

Aufbau von digitalen Ökosystemen erfordert Dialogfähigkeit

Um die Stakeholder des künftigen digitalen Ökosystems zu gewinnen, sind zielgruppenspezifische Dialogformate erforderlich. Der Aufbau erfolgt daher meist gar nicht digital, sondern äußerst persönlich und zuweilen bilateral. Das ist ein zeitintensiver und aufwändiger Prozess unter kontinuierlicher Präsenz der obersten Managementebene.
Zudem ist die Einbindung von Experten ebenso wichtig, wie das Aufzeigen von Zahlen und Fakten von Vergleichsprojekten. Auch das Thema Datensicherheit bedarf hierzulande einer besonders aufwändigen und vertrauensbildenden Kommunikationsweise. Die Formate sollen die Überzeugungsarbeit des Plattform-Initiators bestmöglich unterstützen. Es ist daher hilfreich, wenn Stakeholder ihre Rolle im Wertschöpfungsnetzwerk bereits als Simulation erleben können.

Für den Erfolg der horizontalen Dimension der Digitalisierung ist der Aufbau von Vertrauen eine erfolgskritische Hürde. Visionäre aus Wirtschaft und Politik müssen sich darüber bewusst sein, dass an Kommunikation nicht gespart werden darf. (bw)