Objektorientierung macht kuenftige Systeme flexibler Komplexen Organisationen ist Groupware noch nicht gewachsen Von Michael Wagner*

24.09.1993

Software zur Unterstuetzung von Teams und Organisationen, also Groupware, erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Groesste Hemmnisse fuer die weitere Verbreitung von Workgroup-Com- puting sind die Heterogenitaet bestehender Systeme und die immanente Komplexitaet grosser Organisationen. Erst die Ueberwindung beider Hindernisse mit Techniken der Objektorientierung wird den Groupware-Systemen zum Durchbruch verhelfen.

Die Begriffe "Groupware", "Workflow" und "Business Pro- cess Re- Engineering" sind in aller Munde. Die Revitalisierung veralteter Organisationsstrukturen mit Hilfe von computerbasierten Systeme und die Nutzung brachliegender Computerressourcen scheinen sich ideal zu ergaenzen. Die Visionaere unter den Groupware-Protagonisten sehen gar "lernende Organisationen", "virtuelle Teams" und "selbstorganisierende fraktale Unternehmen" in greifbarer Naehe.

Die Realitaet in den Unternehmen ist jedoch ganz anders. Die geplanten Reorganisationsmassnahmen sind oft schon durch die historisch gewachsene heterogene Infrastruktur zum Scheitern verurteilt. Die notwendigen Folgeinvestitionen, um sinnvolle organisatorische Massnahmen umzusetzen, lassen die Vorhaben fragwuerdig erscheinen. Darueber hinaus bedingen grosse Organisationen heute eine Komplexitaet, der die existierenden Groupware- Systeme in der Regel (noch) nicht gewachsen sind.

Auf Grund der guten Erfahrungen im Bereich des Software- Engineerings draengen daher Techniken der Objektorientierung in die Groupware-Szene, die zur Loesung der angesprochenen Probleme beitragen koennen. Die Vorteile der Objektorientierung fuer die Entwicklung komplexer Softwaresysteme lassen sich fast ausnahmslos auf die Gestaltung und das Management von Groupware-Systemen uebertragen.

Um Vorteile objektorientierter Systeme - wie beispielsweise die Wiederverwendung - gedanklich auf Groupware zu uebertragen, muessen zunaechst einmal einige Konzepte der Objektorientierung naeher erlaeutert werden. Objektorientierte Systeme fassen Informationen und die zugehoerigen Operationen in "Objekten" zusammen. Durch diese Kapselung von Eigenschaften wird die Komplexitaet der Gesamtaufgabe auf die Definition von Schnittstellen zwischen den einzelnen Objekten reduziert. Die Steuerung eines objektorientierten Systems beschraenkt sich dadurch auf den Austausch von Nachrichten zwischen den Objekten, die auf eine eingehende Nachricht gemaess ihrer Definition reagieren. Um die Strukturierung des Gesamtsystems zu erleichtern, werden Objekte mit gleichen Schnittstellen zu "Klassen" zusammengefasst. Da manche Klassen aehnliche Schnittstellen beschreiben und sich oft Ueberschneidungen ergeben, werden gemeinsame Schnittstellen-Teile, das heisst Eigenschaften von Objekten, zwischen Klassen "vererbt". Um die Vererbungsbeziehungen nicht zu kompliziert zu gestalten, kann - wie in der Natur - nur innerhalb einer Hierarchie von Eltern auf Kinder, nicht aber zwischen Geschwistern vererbt werden.

Um die Erzeugung neuer Objekte zu vereinfachen, werden Objekte immer gemaess einer Klassendefinition, das heisst mit einer festgelegten Schnittstelle, erzeugt. Alternativ wird auch das Clonen von Objekten, das heisst das Kopieren von Objekten samt ihrer Schnittstellen-Definition, zur Erzeugung neuer Objekte verwendet.

Die geschilderten Mechanismen sind ein ideales Werkzeug fuer die Strukturierung von Systemen und damit auch fuer die Repraesentation von Organisationen. Stellenbeschreibungen und die Festlegung von Abteilungen sind nichts anderes als Schnittstellen-Definitionen. Die Prinzipien der Objektorientierung koennen bei geschickter Handhabung auf die Gestaltung von Organisationen angewandt werden. Die Delegation von Aufgabenbereichen laesst sich durch die Vererbung darstellen, die Einrichtung neuer Abteilungen und Stellen durch die Erzeugung von Objekten. Auf diese Weise kann durch die Mittel der Objektorientierung eine informationstechnische Repraesentation der Organisation erarbeitet werden, die sehr wohl in der Lage ist, die Komplexitaet auch groesster Unternehmen zu bewaeltigen.

Sogar der dynamische Ablauf in Unternehmen laesst sich ohne weiteres durch objektorientierte Systeme bewaeltigen. Der Austausch von Nachrichten zwischen Objekten entspricht der Kommunikation zwischen Abteilungen beziehungsweise Stellen.

Die zur Zeit intensiv diskutierte Anwendung von Workflow- Automation- Systemen fuer das Re-Engineering von Organisationen wird ab einer gewissen Groesse der Organisation ohne objektorientierte Techniken nicht mehr zu handhaben sein. Auf der anderen Seite ist das groesste Problem fuer die Implementierung effektiver Workflow-Anwendungen die Heterogenitaet der Infrastruktur.

Die Umsetzung der durch Objektorientierung gezaehmten Komplexitaet scheitert oft an der unzureichenden Informations-Infrastruktur. Die Heterogenitaet bestehender Systeme weist eine noch weitaus groessere Komplexitaet auf als die beschriebenen Organisationsstrukturen. Um das Management heterogener Systeme in den Griff zu bekommen, werden dringend Standards fuer die Spezifizierung der verteilten Systeme und Software benoetigt. Erfreulicherweise haben sich mehrere Standardisierungsgremien dieser Aufgabe angenommen. Die International Standardization Organization (ISO) hat ein Modell entwickelt, das die Zusammenarbeit von Netzwerk-Management-Werkzeugen unterschiedlicher Hersteller auf eine gemeinsame Basis stellen wird. Damit wird es moeglich sein, dass die Netzwerk-Administratoren Informationen ueber Teilsysteme des Netzwerks ohne Ruecksicht auf die verwendete Software austauschen koennen, eine der Grundvoraussetzungen fuer die Implementierung unternehmensweiter Groupware-Loesungen. Die Grundlage fuer hoeherwertige Softwaresysteme; die Zusammenarbeit zwischen Anwendungen zur Integration von Unternehmensprozessen ist dadurch noch nicht gewaehrleistet. Dieses Problems hat sich die private Standardisierungsorganisation Object Management Group (OMG) angenommen. Ihre Common Object Request Broker Architecture (Corba) ermoeglicht auf Basis der objektorientierten Technologie die Kommunikation zwischen Applikationen unabhaengig von den verwendeten Programmiersprachen, Betriebssystemen oder Netzprotokollen.

Corba dient als Medium fuer die Interoperabilitaet von Softwaresystemen und ist das entscheidende Bindeglied fuer die Verbindung von bisher eigenstaendigen Anwendungen zu unternehmensweiten Prozessen. Sofern die existierenden Anwendungen ueber Programmier-Schnittstellen verfuegen, ist dies mit Corba sogar ohne Aenderung der bestehenden Software moeglich. Es muessen lediglich Uebersetzungsroutinen fuer die Verzahnung der Anwendungsfunktionen mit der Corba-Kommunikation ergaenzt werden.

Der Corba-Standard ist noch nicht vollstaendig. Ausserdem wird es noch einige Jahre dauern, bis sich die Corba-Kommunikation allgemein durchgesetzt hat. Einstweilen wird man mit den bestehenden Systemen leben muessen, von denen hier zwei exemplarisch auf ihre Objektorientierung abgeklopft werden.

Als Negativbeispiel kann in diesem Zusammenhang Lotus Notes dienen. Dies impliziert nicht, dass Notes ein schlechtes Groupware- System ist, sondern zeigt nur, welche Moeglichkeiten bei der Entwicklung von Lotus Notes trotz guter Ansaetze verschenkt wurden. Notes speichert Informationen in Dokumenten, die ueber Formulare oder als listenartige Ansichten zusammengefasst dargestellt werden koennen. Dokumente sind aus Feldern aufgebaut, und die Definition einzelner Felder kann fuer mehrere Felder gemeinsam festgelegt werden. Leider wurde auf einen weitergehenden Vererbungsmechanismus der Definition von Dokumenten oder Teilen, sogenannten Sektionen, verzichtet. Dies haette die Modellierung von Organisationen und die Verwaltung von Aenderungen in diesen Modellen sehr vereinfacht. Immerhin koennen in Notes Dokumentenhierarchien aufgebaut und bei der Erzeugung untergeordneter Werte aus uebergeordneten Dokumenten automatisch uebernommen werden (Lotus spricht hier von Vererbung, der Vorgang entspricht aber eher einem Clonen neuer Dokumente).

Diese Hierarchiebeziehung laesst sich allerdings nur bei der Erzeugung von Dokumenten nutzen, nicht etwa bei der Arbeit mit ihnen. Durch die Vorgabe von drei aufeinander aufbauenden Dokumenttypen werden die Modellierungsmoeglichkeiten fuer Notes- Datenbanken weiter eingeschraenkt, was auf eine zu enge Leistungsoptimierung zurueckzufuehren ist. Lotus Notes ist keine objektorientierte Groupware, obwohl erste positive Ansaetze in der Software enthalten sind.

Als positives Beispiel kann Synergie von VW-Gedas gelten, das von Digital Equipment als Object Works lizenziert wurde. Synergie bildet die typische Bueroumgebung mit Hilfe eines objektorientierten Systems ab. Abteilungen, Stellen, Personen und Rollen, die Personen in der Organisation einnehmen, werden ebenso als Objekte repraesentiert wie die alltaeglichen Buerogegenstaende Aktenschrank, Ablage, Ordner und Dokumente.

Die Achillesferse von Synergie ist die Verfuegbarkeit fuer nur ein einziges Netzwerkprotokoll: TCP/IP. Im Gegensatz dazu hat es Lotus geschafft, mit Notes nicht nur eine ganze Reihe von Plattformen zu unterstuetzen, sondern auch verschiedene Netzwerkoptionen zwischen diesen Plattformen zuzulassen. Neben Netbios und Apple Talk stehen Netware, Lan Manager und TCP/IP- Optionen zur Auswahl.

Beruecksichtigt man die stuermische Entwicklung im Bereich der Netzwerkstandards und Telekommunikation, insbesondere die Diskussion um ISDN, FDDI und ATM-Netze, so ergeben sich fuer Groupware-Systeme voellig neue Perspektiven. Mit der Verfuegbarkeit von 1- bis 100-Mbit/s-Verbindungen relativiert sich die Frage der Optimierung von Kommunikationsmechanismen. Hingegen zeigt die Moeglichkeit, aus jedweder Applikation Dienste anderer Softwaresysteme auch ueber weitere Strecken ohne Zeitverlust zu nutzen, die Bedeutung, die ein objektorientierter Kommunikationsstandard wie Corba fuer Groupware-Systeme hat.

Groupware-Systeme: objektorientierte Eigenschaften und die Faehigkeit, Komplexitaet zu repraesentieren

*Michael Wagner promoviert an der TU Muenchen ueber objektorientierte Groupware und ist als freier Berater und Journalist taetig.