Das neue Paradigma ist nicht nur fuer Entwickler interessant

Objektorientierung bringt auch den Anwendern konkreten Nutzen

07.05.1993

Die Diskussion um die Leistungsfaehigkeit objektorientierter Technologien blieb bisher im wesentlichen auf einen exklusiven Kreis innerhalb der Software-Entwickler beschraenkt. Dementsprechend konzentrierten sich die Argumente fuer die Objekttechnologie auf die Vorteile fuer Entwickler: kuerzere Entwicklungszeiten, hoehere Wiederverwendbarkeit, verbesserte Produktivitaet - alles Pluspunkte, die die Entwicklungskosten fuer Programme reduzieren, - und last, but not least, bessere Softwarequalitaet.

Dass sich die objektorientierten Datenbank-Management-Systeme (ODBMS) effizient in den Unternehmen einsetzen lassen, ist noch wenig bekannt: Kaum jemand kann sich vorstellen, wie Objektorientierung bei der Erstellung einer Inventurliste oder bei der Aufbereitung des monatlichen Umsatzberichtes helfen soll.

Effizienter und kostenguenstiger

Tatsache ist, dass objektorientierte Technologien bereits heute ganz konkreten Nutzen im Arbeitsalltag bringen. Die unterschiedlichsten Aufgaben lassen sich damit effizienter und kostenguenstiger erledigen. Hier ein Beispiel:

Jeder, der im Berufsleben steht, benutzt einen Kalender oder ein sogenanntes Zeit-Management-System. Der Vorteil solcher Zeitplaner liegt darin, dass sie neben dem eigentlichen Kalenderteil eine Art Notizbuch sowie eine Katalogisierung von Aktivitaeten und deren Prioritaeten enthalten.

Dieses Hilfsmittel hat inzwischen auch Einzug auf dem Computer gehalten. Dort heissen solche Produkte "Personal Information Manager" oder kurz PIM. Der Unterschied zur Papierversion liegt in den Moeglichkeiten, die grundsaetzlich jede Software bietet: Bestimmte Schritte, die von Hand ausgefuehrt werden mussten, koennen nun automatisch vollzogen werden. Ist es in der Papierversion notwendig, Termine aus dem Jahres- in den Monatskalender und in die Tagesuebersicht zu uebertragen, so leistet die Software diesen Schritt automatisch.

Geht es nicht um die Termine, sondern um die Aktivitaetenliste, so ist die Papierversion des Zeitplaners hoffnungslos im Nachteil. Der Benutzer des papiernen Zeitplaners muss jeden Tag seine Aktivitaetenliste in den Tageskalender uebertragen. Allein diese "doppelte Buchfuehrung" ist so aufwendig, dass viele ihren Zeitplaner nach kurzer Zeit wieder in die Ecke legen.

In der bisher verfuegbaren Zeitplanersoftware ist dieses Problem allerdings auch nur ungenuegend geloest. Hier zeigt sich, dass konventionelle Software schnell an ihre Grenzen stoesst und scheinbar einfache Aufgaben - wie das Uebertragen der Jobs in die Aktivitaetenlisten - nicht zufriedenstellend loesen kann.

Objektorientierung hingegen wuerde hier weiterhelfen. Eine objektorientierte Programmierung des Zeitplaners erlaubt naemlich, dass auch die Aktivitaeten innerhalb eines Abschnitts im Tageskalender gefuehrt werden.

Bislang war die Software beispielsweise nicht in der Lage, bei einem Vermerk "Herrn Mueller anrufen" in der Aktivitaetenliste auch die Telefonnummer des Herrn Mueller zu nennen, da sich diese im Adressbuchteil des Zeitplaners befindet. Bei einem objektorientierten Datenbanksystem hingegen sind die Informationen ueber direkte Verweise miteinander verbunden. Von der Aktivitaet "Herrn Mueller anrufen" gibt es also einen direkten Verweis auf das Objekt "Herr Mueller" mit allen zugehoerigen Daten, also zum Beispiel der Telefonnummer.

Das Ablaufen beziehungsweise Durchwandern dieser Verweise wird als Navigation bezeichnet. Sie bietet eine neuartige Form der Informationsvernetzung, wie sie bei relationalen Systemen nicht moeglich ist.

Auch der Adressbuchteil kann mittels Objektorientierung wesentlich funktioneller gestaltet werden. So waere dann endlich Schluss mit der laestigen Pflicht, beim einem neuen Kontakt in einem grossen Unternehmen ausser dem Namen jedesmal wieder die komplette Firmenanschrift eintragen zu muessen. Im Falle eines Umzugs der Firma braucht die Adresse nur einmal geaendert zu werden; sie erscheint dann bei allen Ansprechpartnern des Unternehmens automatisch.

Informationen haben oft unterschiedliche Formen

Dieses kleine Beispiel zeigt, dass der konkrete Nutzen der Objekttechnologie in einer Steigerung der Automatisierung von Arbeitsschritten liegt. Weitere Anwendungen, die durch die Verwendung von objektorientierten Datenbanksystemen einfacher oder sogar ueberhaupt erst moeglich werden, liegen beispielsweise in der Bueroautomation.

In diesem Bereich kommen auch Multimedia-Anwendungen zum Einsatz. Programme koennen auf Dokumente zugreifen, die unterschiedliche Datenformen - Text, Grafik, Bilder sowie Audio- und Video- Information - enthalten. Um all diese verschiedenen Informationen zu integrieren, bedarf es einer objektorientierten Basis. Realisieren laesst sich die Basis als Document-oriented-Interface (DOI).

Ein DOI basiert vollstaendig auf dem objektorientierten Paradigma. Aus Sicht des Anwenders ist das DOI die logische Weiterfuehrung der durch die grafischen Oberflaechen eingelaeuteten Evolution. Statt den Benutzer im Kontext der jeweiligen Anwendung zu fuehren, stellt das DOI den Zusammenhang mit der zu verrichtenden Aufgabe her, erlaubt also eine vorgangsorientiertere Verarbeitung.

Diese Schnittstelle erlaubt eine grundsaetzlich andere Arbeitsweise am Computer. Anstatt wie bisher eine Anwendung aufzurufen, oeffnet der Benutzer einen Vorgang oder ein Dokument. Dieses Objekt kann verschiedene Unterobjekte enthalten - Text, Grafik, Audio oder Video -, die sich alle innerhalb des einen Dokuments bearbeiten lassen.

Damit sind aber auch die bisher ueblichen Standardanwendungen wie Textverarbeitung oder Tabellenkalkulation ueberholt. An deren Stelle werden Werkzeuge treten. Hierfuer ein Beispiel: Ein Textverarbeitungs-Paket mit der bisher ueblichen Palette von Einzelfunktionen kann sehr schnell durch ein Edit-Werkzeug ersetzt werden. Dieses Tool fuehrt nun alle Editierfunktionen an jedem beliebigen Textobjekt durch - gleichgueltig, ob der Text in einem grossen Textdokument oder innerhalb einer Grafik eingebettet ist.

Jeder bekommt seinen digitalen Assistenten

Analog dazu berechnet ein Tabellenkalkulations-Tool Tabellenobjekte unabhaengig davon, aus welcher Datei sie stammen. Ein Layout-Tool erledigt die Seitengestaltung auf ganz aehnliche Weise. Selbstverstaendlich lassen sich dann auch alle Tools miteinander mischen. Der wesentliche Vorteil ist dabei, dass sich jeder Benutzer nach Bedarf seinen Werkzeugkasten zusammenstellen kann.

Neue Anwendungen, neue Tools oder Software-Chips werden nicht nur schneller verfuegbar, sondern auch wesentlich guenstiger sein und koennen in grossen Stueckzahlen vertrieben werden. Statt 800 Mark werden die meisten dieser Werkzeuge wahrscheinlich nur noch 80 Mark kosten.

Die Verbesserung in der Funktionalitaet und Benutzerfreundlichkeit wird dem Computer vollkommen neue Anwendungsgebiete erschliessen. In wenigen Jahren muessen die meisten Berufstaetigen keinen Taschenkalender mehr mit sich herumtragen, sondern verfuegen ueber ein handliches Geraet, in dem alle wichtigen Informationen wie Termine und Adressen enthalten sind.

Diese Personal Digital Assistants (PDAs) koennen elektronische Nachrichten empfangen, versenden oder weiterleiten sowie die neuesten Nachrichten von Reuter oder moeglicherweise das Fernsehprogramm der aktuellen Woche abfragen. Ausserdem teilt das Geraet dem Videorekorder mit, welche Sendung er aufzeichnen soll. Dass dieses Szenario keine Utopie ist, belegen die Ankuendigungen bekannter Hard- und Softwarehersteller, die ihre Produkte uebrigens alle und ausschliesslich mit objektorientierten Technologien entwickeln.

Die aufgefuehrten Anwendungsbereiche haben zwar leicht unterschiedliche Anforderungen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass komplexe Beziehungen einfach und rationell abgebildet sowie verknuepft werden koennen.

Mit relationalen Datentypen ist das nicht moeglich. Nur mit objektorientierten Typen lassen sich Grafiken oder komplexe Diagramme, zum Beispiel Schaltkreise, Illustrationen von Einzelteilen oder Molekularstrukturen, darstellen und auf Objektebene manipulieren.

Bildhaft ausgedrueckt, entspricht die heutige Nutzung gaengiger Softwareprodukte dem Autofahren vor 50 Jahren - mit Handschaltung und Zwischengas. Die neue Softwaretechnologie wird uns in die Lage versetzen, vollautomatisch zu fahren und dabei noch flexibler auf die unterschiedlichsten Nutzungsmoeglichkeiten zu reagieren.

Die Vorteile objektorientierter Technologie lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Musste sich der Anwender bisher nach den Moeglichkeiten des Computers richten, so richtet sich der Computer jetzt erstmals nach den Beduerfnissen des Anwenders.

Was bedeutet dies nun fuer die existierende Softwarelandschaft? Neuesten Zahlen zufolge haben die relationalen Datenbanksysteme inzwischen eine Marktdurchdringung von 17 Prozent erreicht - nach nunmehr fast 15 Jahren Praesenz. Es laesst sich also eine Bewegung zu neueren Softwaretechnologien feststellen, allerdings nur eine sehr langsame.

Der groesste Hemmschuh bei der Durchsetzung neuer Technologien duerfte die Tatsache sein, dass sich alle bisher geleisteten Software-Investitionen und -Aufwendungen nicht einfach von einem Tag auf den anderen wegwerfen lassen. Das Neuprogrammieren mit herkoemmlicher Vorgehensweise ist naemlich immer noch aufwendig. Um aus der herkoemmlichen Welt in die Objektwelt zu gelangen, sind verschiedene Ansaetze moeglich. Tatsaechlich erfordert bereits die Migration von hierarchischen zu relationalen Datenbanken einen gewissen Aufwand.

Um den Uebergang von relationalen auf objektorientierte Systeme zu erleichtern, arbeiten die Entwickler zum einen daran, die Abfragesprache SQL mit Objektorientierung auszustatten. "O-SQL" soll also einen Migrationspfad liefern. Ob sich dieser Pfad tatsaechlich auftut, bleibt abzuwarten.

Zum anderen verfolgen Entwickler den Ansatz, vorhandene relationale Daten in ein objektorientiertes Datenbanksystem zu ueberfuehren und zu verkapseln. Es scheint jedoch nicht sehr wahrscheinlich, dass ein Anwender, der in den letzten Jahren zu einem relationalen System gewechselt hat, jetzt schon wieder "Migrationslueste" verspuert.

Anders verhaelt es sich mit Anwendungen, die traditionell nichts oder nur wenig mit dem Tabellenmodell der relationalen Datenbanken anfangen konnten. Die technischen Anwendungsfelder, zum Beispiel CAD, bewegen sich bereits heute von sogenannten Flat-File Strukturen in Richtung Objektorientierung.

Die Migration zu objektorientierten Systemen wirft eine Reihe von Problemen auf - sowohl in technischer als auch in praktischer Hinsicht. Diese Schwierigkeiten stehen der Einfuehrung neuer Softwaretechnologie jedoch nicht prinzipiell im Wege. Wie das Beispiel Schallplatte kontra CD zeigt, wird sich langfristig sicher die bessere Technologie durchsetzen.

*Thomas Woywod ist Vice-President Marketing and Sales bei der BKS Software Entwicklungs GmbH in Hamburg.