Objektorientierte Mittelstandssoftware auf SAP-Basis R/3-Kernel findet haeppchenweise Eingang in Fertigungsloesungen

31.03.1995

MUENCHEN (qua) - Ein Systemhauspartner der SAP sollte mehr tun, als nur R/3 zu verkaufen. Auf diesem Standpunkt steht Helmut Polzer, Geschaeftsfuehrer der BIW GmbH, Weinstadt. Deshalb will er die einzelnen Funktionen des R/3-Kernels zu neuen, objektorientierten Anwendungen zusammensetzen, um seinen Kunden massgeschneiderte und flexible Loesungen anbieten zu koennen.

Da Deutschlands groesstes Softwarehaus den ueberwiegenden Teil der hiesigen Grossunternehmen bereits zu seiner Klientel zaehlt, muss es schleunigst neues Kundenpotential erschliessen. Die breite Masse der mittleren Unternehmen zeigt sich bislang allerdings wenig geneigt, die Wachstumsziele der SAP tatkraeftig zu unterstuetzen. Das Anwendungspaket als solches findet bei kleineren Betrieben wenig Zuspruch. Wie Polzer erlaeutert, wimmelt es darin von Funktionsbloecken, die der Mittelstand einfach nicht benoetigt. Das Customizing von SAP-Software ist jedoch eine Wissenschaft fuer sich. Und kleinere Betriebe koennen es sich nicht leisten, ein Heer von Beratern zu bezahlen.

Mit ihrem neuen Systemhauskonzept will die SAP nun erreichen, was die Steeb-Akquisition und die eigene Mittelstandsgesellschaft nicht zuwege gebracht haben: die mittleren Unternehmen zu ihren Kunden zu machen. Laut Polzer wird sie damit aber kaum Erfolg haben, wenn sie die Partnerunternehmen zum verlaengerten Arm der Vertriebsmannschaft degradiert: "Wieso sollte den Systemhauspartnern gelingen, was SAP selbst nicht geschafft hat?" fragt sich der BIW-Geschaeftsfuehrer.

Die Riesen fungieren nur als Zulieferer

Deshalb legt Polzer sein Abkommen mit der SAP grosszuegig aus und nutzt die Grundfunktionen des R/3-Systems lediglich als Rohmaterial fuer integrierte Fertigungsloesungen, die er ab Ende des kommenden Jahres unter der Bezeichnung "R/3 Brain" vermarkten will. Selbstbewusst definiert der BIW-Chef Anbieter wie SAP oder Microsoft als "Zulieferer", obgleich er sich wohl bewusst ist, dass deren Groesse die seines eigenen Unternehmens vielfach uebertrifft.

Mit einem Jahresumsatz von 50 Millionen Mark kann BIW kein riesiges FuE-Budget unterhalten - auch wenn das Unternehmen eigenen Angaben zufolge 30 Prozent der Einnahmen in Neu- und Weiterentwicklungen investiert. Den Aufwand, um ein Softwaresystem Masche fuer Masche selbst zu stricken, beziffert Polzer auf 100 Millionen Mark. Demzufolge haette BIW die als "Brain 6" angekuendigte neue Generation seiner Fertigungssoftware erst in vier bis sechs Jahren auf den Markt bringen koennen.

Indem er die Grundfunktionen eines fertigen Softwarepakets nutzt, hofft Polzer, die veranschlagte Entwicklungszeit zumindest halbieren zu koennen. Neben dem SAP-Kernel haben Entwicklungsleiter Peter Fassbinder und sein Team auch die Systeme von Mitbewerbern wie IBM oder Oracle angeschaut. Den Ausschlag fuer die Entscheidung zugunsten R/3 gab wohl die Tatsache, dass die SAP jetzt zum dritten Mal Anlauf fuer den Sprung in den Mittelstand nehmen will und potentielle Partner mit Preisnachlaessen von 40 Prozent lockt.

Flugs tauften die BIW-Entwickler ihr Brain-6-Projekt in R/3 Brain um und nahmen eine Middleware in Angriff, die auf die "Remote Function Calls" der SAP-Workbench zugreift.

Diese Software soll es moeglich machen, die prozeduralen SAP- Anwendungen zu umgehen und auf die nach Polzers Schaetzung etwa 6000 einzeln gekapselten R/3-Funktionen zuzugreifen. Mit Hilfe der objektorientierten Entwicklungsumgebung "Openstep" will BIW diese Funktionen durch fremde Softwarekomponenten - beispielsweise Bueroanwendungen von Microsoft - erweitern und zu neuen Dialoganwendungen zusammensetzen.

Nach Angaben des Entwicklungschefs Fassbinder erwerben die Weinstaedter zwar den gesamten R/3-Kernel, nutzen aber nur die Funktionen, die sie fuer die Kundenloesung benoetigen. Im Extremfall koennte das fertige System, so bestaetigt Polzer, fuer jeden Kunden ein wenig anders aussehen.

Wie der BIW-Chef selbst einraeumt, duerfte die SAP von den BIW- Aktivitaeten nicht allzu begeistert sein (siehe CW Nr. 8 vom 24. Februar 1995, Seite 9). Dem Verdacht, er verstosse damit gegen den Buchstaben der Vereinbarungen, widerspricht Polzer jedoch vehement. Es handle sich dabei nicht um eine eigene Produktentwicklung, sondern um die Bereitstellung von Loesungen auf der Basis von R/3. Die SAP AG verzichtete auf eine Stellungnahme.

Polzers Mitbewerber zeigen allenfalls eine gewisse Skepsis, ob dieser Sonderweg zum Erfolg fuehren koenne. Schliesslich bleibe BIW "nicht im Standard". So aeussert beispielsweise Joachim Geffken, Geschaeftsfuehrer der Seitz GmbH, Pforzheim, die Ueberzeugung, die Anwender gaeben einer hundertprozentigen R/3-Loesung auf jeden Fall den Vorzug.

Seitz wie auch die anderen Systemhauspartner bieten den kompletten Anwendungskernel an, den sie lediglich durch Zusatzfunktionen anreichern. Eigenen Angaben zufolge ist Geffken "in Einzelfaellen" aber auch bereit, bestimmte R/3-Bausteine separat zu verkaufen und zu integrieren.

Nach Informationen eines SAP-Sprechers erhalten die Systemhauspartner auch dann ihren 40prozentigen Rabatt, wenn sie nicht den gesamten Funktionsumfang, sondern nur einen Teil der "zwoelf bis 15" Einzelmodule abnehmen.

BIW wird das derzeit aktuelle Brain-Release 5 noch etwa ein Jahr lang weiterentwickeln; bestehende Wartungsvertraege will das Unternehmen bis 1999 erfuellen. Voraussichtlich Ende 1996 wird Polzer seinen Kunden jedoch den Umstieg auf R/3 Brain anbieten. Wie der Geschaeftsfuehrer betont, muessen die AS/400-Anwender dazu keineswegs ihre Hardware verschrotten.

Erste Schritte in die OO-Welt

Seit der CeBIT kann BIW ein Anwendungsmodul vorweisen, das mit der objektorientierten Entwicklungssoftware Openstep entwickelt wurde. "Objectoriented Sales Application" (OSA) ist eine Loesung fuer Aussendienstmitarbeiter von Fertigungsbetrieben. Das Produkt fungiert als Client-Anwendung nicht nur fuer das hauseigene"Brain 5", sondern wahlweise auch fuer R/3 von SAP. Laut Geschaeftsfuehrer Helmut Polzer laesst sich auf diese Weise demonstrieren, wie objektorientierte Elemente mit unterschiedlichen Kernels arbeiten koennen. Die Windows-basierte Applikationssoftware ist dafuer konzipiert, die Ablaeufe zwischen Auftragsakquisition und Fertigung zu optimieren. Wie der Anbieter verspricht, setzt sie die Verkaeufer in die Lage, flexibel auf spezielle Anforderungen zu reagieren und die Kundenwuensche unmittelbar mit Lieferbedingungen, Preisen und Produktionsmoeglichkeiten in Einklang zu bringen.