Nur die Bodenhaftung nicht verlieren

Nur die Bodenhaftung nicht verlieren Lernen mit Multimedia - Lernen in Utopia?

12.03.1999
Von Helga Ballauf Schöne, paradoxe Cyberwelt. Um sich in ihr nicht zu verlieren, reicht bildhaft vermitteltes und computergeneriertes Wissen allein nicht aus. Klassische Kompetenzen wie Begriffsbildung, Kommunikation und Handeln müssen gepflegt werden. Darin waren sich die Referenten des Burda-Kongresses "Envisioning Knowledge - Die Wissensgesellschaft und die neuen Medien" einig.

Das Bild sieht aus, als sei es dem Buch "Struwwelpeter" entnommen: Altertümlich gekleidete Schüler sitzen ordentlich aufgereiht in den Bänken und blicken den Betrachter an. Jeder hat auf den Ohren eine Art Kopfhörer sitzen, dessen Kabel bis zur Zimmerdecke reichen. Von dort führen diese zu einer Maschine mit einem riesigen Schlund. Davor steht der Lehrer und füttert das Ungetüm - mit Büchern.

So stellte sich ein Zeichner vor rund 100 Jahren die Lernwelt anno 2000 vor. Für Luyen Chou, Hochschullehrer und Unternehmer aus New York, vermittelt dieses Bild zwei Botschaften: Verblüffend korrekt sei die Vision von der technologischen Entwicklung, vom Schritt zur automatisierten, programmierten Wissensvermittlung. Völlig in seiner Zeit gefangen bleibe der Zeichner jedoch, wenn er den Frontalunterricht und nur weiße, männliche Schüler abbilde. Chous Schlußfolgerung heißt: "Es ist leichter vorherzusehen, wie sich die Technologien entwickeln, als vorauszusagen, wie die Gesellschaft aussehen wird, die sie benutzt, und in welcher Weise sie dies tun wird."

Die Vorsicht war wohltuend, mit der Chou, Philosoph und Mitbegründer der Softwarefirma Learn Technologies Interactive, sein Thema "Wie und was werden wir morgen lernen?" anpackte. Er leitete auf dem Internationalen Kongreß der Burda Akademie zum Dritten Jahrtausend die bestehende Herausforderung historisch ab: Die Erfindung der Druckerpresse ermöglichte die Massenfertigung von Büchern und war damit die technologische Voraussetzung für das Schulsystem, das sich in den folgenden 200 Jahren weltweit herausbildete. Mit dem Computer ist eine neue technologische Stufe erreicht - jetzt muß die gesellschaftliche Debatte anlaufen, wie das adäquate Bildungssystem aussehen soll. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Wer sich als Getriebener der Informationstechnologie begreift und ganz schnell Fakten schaffen will, ist kein guter Ratgeber. Dieser Gedanke blitzte in den Kongreßdiskussionen immer wieder auf.

Wie mit Hilfe von Digitalisierung und Vernetzung aus Informationen Wissen werden kann, zeigt beispielhaft ein ausgefeiltes, interaktives Lernprogramm des National Museum of American Arts in Washington. Es erlaubt dem Nutzer, ein bestimmtes Gemälde in seinen Kontext zu stellen: Wer ist der Künstler? Wie war die Zeit, in der er lebte? Aus welchen künstlerischen Quellen hat er geschöpft? Wer hat seine Anregungen handwerklicher oder thematischer Art aufgegriffen und weitergeführt? Ein Mausklick genügt, um von Bild- zu Textinformationen zu zappen und sich selbst Zusammenhänge zu erschließen.

Weitreichende Erfahrungen mit multimedialem Lernen brachte der Direktor des Institute for Distance Education and Technology in Vancouver, Tony Bates, zum Münchner Kongreß mit. Das Fernlerninstitut arbeitet seit Jahren mit CD-ROMs, Web-Seiten und Videokonferenzen. Dies hat Lernmethoden, -umgebungen und Zielgruppen verändert, berichtete Bates: Eine bildungshungrige Venezuelanerin hat die Chance, von Caracas aus die gleichen Lehrangebote wahrzunehmen wie ein junger Kanadier. Auf Technologie basierende Wissensvermittlung werde billiger, gehe schneller und sei grenzenlos einsetzbar.

Damit ändere sich auch das Lernen: Statt vorgegebene Fakten zu pauken, müßten sich die Schüler Informationen suchen, sie analysieren, bewerten und zu Wissensbeständen zusammenbauen. Aufgabe der Lehrer ist es laut Bates, Methodenwissen und den Umgang mit Multimedia-Werkzeugen zu vermitteln. Lernen am Computer verändere und ergänze das Lernen im direkten Dialog, ersetze es aber nicht. Zwischen der Arbeit mit Multimedia und der persönlichen Kommunikation müsse eine neue Balance entstehen, wünschte sich der Direktor der kanadischen Fernlernanstalt. Die spannende Herausforderung heißt für ihn: Welche Lerninhalte sind auf welche Weise besser zu vermitteln?

Auf keinen Fall die Bodenhaftung verlieren - das war die Botschaft von Bates und seinem New Yorker Kollegen Chou. Daß es im Zeitalter der Informationstechnologie nicht immer leicht sein wird, reale und virtuelle Welt noch auseinanderzuhalten, machte der Professor für Anglistik und Kunstgeschichte an der Universität von Chikago, W.J. T. Mitchell, deutlich. "Put new life in old bones" - neues Leben in alte Knochen bringen: Mit diesem Spruch wirbt ein Museum in den USA für die virtuelle Animation seines Dinosaurierskeletts. In einem Video stapft es knochenklappernd durch die Ausstellungsräume. Die Filme "Jurassic Park" oder "The lost World" von Stephen Spielberg haben dem Dino-Kult unserer Tage mächtig Auftrieb gegeben. Ein ausgestorbenes Tier hat mit Hilfe der Informationstechnologien eine zweite Natur, ein neues Eigenleben erhalten.

"Digitale Animation und biogenetische Ingenieurskunst sind verschmolzen. Auf industrielle Weise wurde scheinbar ein lebender Organismus produziert. Das ist eine spektakuläre und gleichzeitig bedrohliche Neuerung", so Mitchells Einschätzung. Er knüpfte an Walter Benjamins Gedanken an, wonach es eine Verbindungslinie gab zwischen der zentralen Technologie des Industriezeitalters, der Fließbandproduktion, und den neuen Bildmedien jener Zeit, Fotografie und Film.

Dinosaurier als Sinnbild unserer Zeit

Die heutige Entsprechung dieser Verquickung von Kapital, Technologie und bildlicher Darstellung sieht Mitchell in der "biokybernetischen Reproduktion", für die beispielhaft der virtuell "belebte" Dinosaurier steht. Kein Wunder, daß er die Menschen so fasziniert, meinte Mitchell, vereinige er doch auf beispiellose Weise mehrere Widersprüche in sich: Er ist uralt und dennoch hochmodern; er ist ein industrielles Produkt und doch ein scheinbar lebendiger Körper; er ist Phantasie- und Wissenschaftsprodukt zugleich, Symbol großer Stärke und gleichzeitig Symbol der Katastrophe. Ein Dinosaurier-Aufkleber von Rüstungsgegnern knüpfte daran einst mit dem Spruch an: "Ausgestorben. Zu viel Panzer. Zu wenig Hirn.

Helga Ballauf ist freie Journalistin in München.