Kluger Schachzug oder Verzweiflungstat?

Novell verschenkt seine Directory Services

22.11.1996

Microsofts Erzrivale im Netzwerkgeschäft plant, den Sourcecode seiner NDS kostenlos an alle Unix-Hersteller, Applikationsentwickler und Internet-Service-Provider (ISPs) zu lizenzieren. Zudem wollen die Netzspezialisten eine binäre Version der NDS für NT-Produkte im nächsten Jahr an OEM-Partner vergeben. Die Directory Services sind derzeit nach Meinung von Branchenkennern das technische Juwel im Novell-Produktportfolio.

Sollte das Angebot Zuspruch finden, so hätten die Netzwerker im Kampf um die Vormachtstellung im Networking-Business einen wichtigen Etappensieg erzielt. Konkurrent Microsoft verfügt derzeit nämlich über keine Verzeichnisdienste, die die Verwaltung großer Netze erlauben. Auch das Domain-Konzept des Windows NT Server ist für den Aufbau großer Netze keine Alternative, da die technischen Restriktionen des Netzwerk-Betriebssystems einen hohen Verwaltungsaufwand mit sich bringen.

Novell erhofft sich von seinem Schachzug, endlich die NDS als Standard für die Vernetzung unterschiedlicher Betriebssysteme etablieren zu können. Nützlicher Nebeneffekt eines weitverbreiteten NDS-Codes wäre, daß Novell eine breitere Basis an potentiellen Kunden für NDS-Ergänzungen und andere Produkte hätte. Der indirekte Vertrieb käme dem Unternehmen sicherlich gelegen, denn US-Quellen zufolge verlangsamt sich der Netware-Absatz.

Überdies sehen sich die Netzwerker mit der Gefahr konfrontiert, daß die NDS nicht rechtzeitig, bevor Microsoft seinen Verzeichnisdienst für NT fertiggestellt hat, die erforderliche kritische Masse erreichen. Analysten gehen davon aus, daß Novell noch rund 18 Monate Zeit bleiben, bis der Konkurrent den Entwicklungsrückstand aufgeholt hat.

Zur Zeit arbeitet Microsoft, sich der Kritik an der schlechten Skalierbarkeit und den unzureichenden Verwaltungsmöglichkeiten seiner Netzverzeichnisse bewußt, an den "Distributed Services". Diese sollen neben einem Verzeichnisdienst unter anderem das "Distributed Component Object Model", ein "Distributed File System" (DFS), sowie "Distributed Security" umfassen. Die derzeitige Alpha-Version der Directory-Services, im Microsoft-Deutsch heißen sie "Active Directory", beruhen letztlich auf dem Internet "Domain Name Service" (DNS) sowie dem Verzeichnisstandard X.500.

Nach den gegenwärtigen Plänen werden die neuen Verfahren einer größeren Öffentlichkeit mit dem für das erste Halbjahr 1997 angekündigten Betatest des nächsten Major-Release des NT Servers zugänglich sein. Ein Teil der Branchenkenner wertet vor diesem Hintergrund Novells Offerte weniger als strategischen Schachzug, sondern vielmehr als Verzweiflungstat eines Spielers, der alles auf eine Karte setzt. Zumindest in Sun Microsystems hat Novell bereits den ersten Partner gefunden, der das kostenlose Lizenzierungsangebot annimmt. Die Kalifornier wollen die NDS als optionalen Verzeichnisdienst auf der Solaris-Plattform unterstützen.

Allerdings bietet Sun auch weiterhin den eigenen Directory-Service "Network Information Service" (NIS) an. Im Gegenzug nimmt Novell das "Java Workshop Development Tool" sowie den "Just in time Compiler" in Lizenz, um die Erstellung von NDS-fähigen Java-Applikationen zu vereinfachen. Marktbeobachter sehen in IBM und Netscape weitere NDS-Kandidaten.