Noch ist die Zeit nicht reif fuer einen Generationswechsel (Teil 2) Die Computer der Post-PC-Aera sind in Labors schon Realitaet Von Alan Kay*

19.11.1993

Damit die elektronische Datenverarbeitung in unserer Gesellschaft den laengst vorhergesagten Durchbruch wirklich schafft, muss die Technologie nochmals einen grossen qualitativen Sprung machen: vom persoenlichen zum "intimen" Computer, einem unscheinbaren, aber leistungsfaehigen elektronischen Begleiter, der uns staendig drahtlos mit dem Rest der Welt verbindet.

1995 werden Personal Computer 100 Millionen Instruktionen pro Sekunde abspulen - etwa 50mal mehr als heutige Topmodelle. Und um die Jahrhundertwende werden es gegen 1000 MIPS sein. Wozu ist das ueberhaupt noetig? Die Antwort lautet schlicht und einfach: Um mit dem Anwender zu kommunizieren!

Grosscomputer fuer Flugreservierungs-Systeme setzen zehn bis 15 Prozent ihrer Rechnerkapazitaet fuer die Anwender-Schnittstelle ein. Von den vielleicht zwei MIPS eines Macintosh II hingegen werden volle 87 Prozent fuer das Benutzer-Interface abgezweigt, womit fuer die eigentliche Anwendung nur noch 13 Prozent der Computerleistung uebrigbleiben. Noch extremer wird das Verhaeltnis beim kuenftigen "intimen" Computer: Er wird 90, vielleicht sogar 95 Prozent fuer die Kommunikation mit dem Anwender aufwenden.

Endlich weg vom Papier

Auch die Art, auf dem Computer Daten zu repraesentieren, hat sich im Laufe der Jahre stark geaendert. Zuerst waren es nur Zahlen, dann auch Texte, Grafiken und Toene. Heute versucht man, alles zusammen in bewegten Farbbildern und mit Stereoton zu zeigen - Multimedia heisst das Schlagwort, wobei der Benutzer jederzeit ins Geschehen eingreifen kann.

Damit sind die Moeglichkeiten von Multimedia aber noch lange nicht ausgeschoepft. Richtig interessant wird es erst, wenn man in neue Dimensionen vorstoesst, die es in der Realitaet nicht gibt. Egal, wie viele Dimensionen die Daten schon haben - Computer koennen uns immer noch eine Dimension mehr geben. Wir erhalten dann einen sogenannten Hyperraum, wo wir selbst Daten unterschiedlicher Repraesentation an der gleichen Stelle ablegen koennen. Schade, dass dieses Prinzip, das Doug Englebart schon vor 25 Jahren entdeckt und beschrieben hat, in den heutigen Computern immer noch nicht zur Anwendung kommt. Eine wichtige Aufgabe des Personal Computers ist das Drucken der Resultate auf Papier. Kein Wunder - schliesslich imitieren wir auf Rechnern die menschliche Arbeitsweise vergangener Jahrzehnte oder Jahrhunderte, und da haben Papier und Drucksachen immer eine zentrale Rolle gespielt. Aber es gibt auch Anwendungen, wo Drucken nicht sinnvoll ist.

Wenn zum Beispiel Daten miteinander verknuepft sind wie die Informationen in einem Lexikon, so ist der Benutzer viel mehr an diesen Verknuepfungen interessiert als an einzelnen Texten oder Grafiken. Und bei Simulationen will er die Dynamik sehen - am liebsten in bewegten Bildern. Fazit: Moderne Computeranwendungen bringen uns immer mehr weg vom Drucken; wir wuenschen uns artgerecht praesentierte Daten aus einem allumfassenden Informationsnetz.

Dazu gehoert auch, dass der Computer Aenderungen in einer Anwendung, die eine andere Anwendung mitbetreffen, dort automatisch nachvollzieht. Erste Schritte in diese Richtung gibt es zum Beispiel bei Apple.

Im Grunde genommen ist da einfach ein kleiner elektronischer Agent am Werk, der das Geschehen aus dem Hintergrund verfolgt, Aenderungen aufspuert und diese weitermeldet. Jeder der drei Arten von Computerei liegt eine total verschiedene Methode fuer die Programmierung von Applikationen zugrunde. Beim Flugreservierungs- System entscheidet der Hersteller, welche Funktionen den Benutzern zur Verfuegung stehen; diesen bleibt nichts anderes uebrig, als die entsprechenden Bedienungsschritte auswendig zu lernen.

Anders in der Welt der Personal Computer: Da entscheiden die Anwender, welche Applikationen sie wollen. Massgeschneidert sind die allerdings selten zu haben; in der Regel muss der Benutzer ein standardisiertes Programm (zum Beispiel ein Tabellenkalkulations- Programm) fuer seine spezifischen Beduerfnisse einrichten.

Bei den vernetzten, intimen Computern der Zukunft wird dies noch vermehrt der Fall sein: Die Anwender werden vier von fuenf Applikationen aus fertigen Programmbausteinen, sogenannten Objekten, selber zusammenstellen - aehnlich wie man heute auf dem Bildschirm Computergrafiken aus Kreisen, Rechtecken und anderen geometrischen Elementen zusammenbasteln kann.

Der Unterschied zwischen solchen Programmen, PC-Standardprogrammen und Grosscomputer-Software ist gewaltig - nicht nur von der Denkweise her, sondern auch von der Programmgroesse: Bei vergleichbarer Funktionalitaet kommt PC-Software mit etwa zehnmal weniger Programmzeilen zurecht als entsprechende Grossrechner- Software; der Schritt vom PC zum "intimen" Computer bringt dann nochmals einen Faktor zehn - Fortschritte, die sich natuerlich stark im Preis niederschlagen.

Was uns Menschen wirklich weiterbringt, ist nicht unser Intelligenzquotient, denn dieser ist in den letzten 300000 Jahren etwa gleich geblieben. Haette 10000 vor Christus jemand einen IQ von 250 gehabt, er oder sie waere wirklich zu bedauern gewesen. Leonardo da Vinci mag wohl so gescheit gewesen sein, aber es nuetzte auch ihm nicht viel, weil er einfach zuwenig Moeglichkeiten hatte, all seine Ideen umzusetzen. Ein Normalsterblicher mit einem IQ von 100 konnte zu Leonardos Zeit viel mehr ausrichten, weil er im vorhandenen Umfeld besser eingebettet war als das Genie Leonardo.

Die alten Griechen gehoeren wohl zu den intelligentesten Menschen, die die Erde je bevoelkert haben. Und trotzdem bauten sie ihre Tempel auf ziemlich ungeschickte Art und Weise - ganz einfach, weil ihr Weltbild ihnen sagte, dass Saeulen und Waende dazu da sind, das Dach zu stuetzen. Dahinter steckte das Bild von Sklaven, die einen schweren Gegenstand tragen. Also, glaubten die Griechen, braucht es fuer ein grosses Dach auch viele dicke Saeulen und Waende.

Spaeter, in der Gotik, wollten die Leute moeglichst grosse Fenster in ihren Kathedralen, was bedeutete, dass sie nur wenig Material verbauen konnten. Mit dem Baustil der Griechen war das unmoeglich, und so kamen sie auf den Rundbogen, der die Kraefte besser verteilt und sich teilweise selber stuetzt.

Nochmals viel spaeter entdeckten findige Leute zu jedermanns Erstaunen, dass die meisten Materialien mehr Zug als Druck aushalten. Stahl zum Beispiel kann man zehnmal staerker durch Zug belasten als durch Druck. Ausgenuetzt wird diese Erkenntnis beim Bau von Haengebruecken und Wolkenkratzern.

Perspektivenwechsel bringt frischen Wind

Diese drei voellig unterschiedlichen Bauweisen zeigen exemplarisch, dass wirklich grosse Fortschritte nur dann moeglich sind, wenn sie einem radikalen Wechsel der Seh- und Denkweisen entspringen. In der Welt der Computer ist das nicht anders - der Schritt vom Grossrechner mit einer spezialisierten Anwendung zum viel flexibleren PC erforderte ebenfalls eine ganz neue Sichtweise der Datenverarbeitung. Der Philosoph Thomas Kuhn hat ein ganzes Buch ueber solche Paradigmenwechsel geschrieben und festgestellt, dass diese nur etwa alle 25 Jahre vorkommen. Nicht etwa, weil die Fachleute so lange brauchen, um ihre Meinung zu aendern - sie aendern sie in der Regel nie -, sondern weil es so lange dauert, bis eine neue Generation das Sagen hat.

Nur weil etwas jahre- oder gar jahrzehntelang gegolten hat, muss es noch lange nicht gut sein und fuer immer so bleiben. Haeufig stehen aber praktische Ueberlegungen im Weg. Man denke nur etwa an unsere Schreibmaschinentastatur, die alles andere als ein ergonomisches Meisterstueck ist.

Tatsaechlich war sie aber im letzten Jahrhundert ein Musterbeispiel fuer gutes Design, denn die Tastaturauslegung wurde absichtlich so gewaehlt, dass man nicht allzu schnell schreiben konnte, sonst haetten sich die Tasten wegen der damals unzureichenden Mechanik immer wieder verklemmt. Heute ist diese so gut, dass die Behinderung laengst nicht mehr noetig waere - aber jetzt haben wir uns so an die herkoemmliche Tastaturauslegung gewoehnt, dass selbst eine ergonomisch viel bessere vom breiten Publikum kaum mehr akzeptiert wuerde.

Bei den Computern ist das alles noch viel komplizierter, denn sie sollen ja nicht nur gut zu unseren Haenden passen, sondern auch zu unserem Denken. Da stehen wir vor einem ernsthaften Problem, denn niemand weiss genau, wie unser Gehirn tatsaechlich funktioniert - es gibt nur reihenweise Theorien darueber.

Multimedia ist kein Allheilmittel

Offenbar haben wir verschiedene Denkarten in unserem Kopf, die die Welt unterschiedlich beurteilen, aber quer durcheinanderwirken. Das muss man vor allem dann beruecksichtigen, wenn man eine Sache gleichzeitig mit verschiedenen Medien praesentieren will, denn die Medien sind nicht neutral. Multimedia ist zwar eine schoene Sache, aber beileibe kein Allheilmittel.

Wer Wissen oder Faehigkeiten weitergeben will, waehlt am besten ein Medium, das den Schueler da anspricht, wo er tatsaechlich lernfaehig ist. Das ist allerdings schneller gesagt als getan, denn oft versteht der angesprochene Teil gar nicht Deutsch, sondern nur eine andere Sprache, wie ein erfahrener Tennislehrer einmal pointiert feststellte.

Ebenso wichtig wie die Wahl des Mediums ist das Gefuehl, das man einem Schueler vermittelt. Es gibt nichts Schlimmeres, als einem Anfaenger laufend unter die Nase zu reiben, dass er Anfaenger sei. Das ist nicht nur im Sport so, sondern auch in der Welt der Computer: Niemand sollte mit dem Studium von Handbuechern starten muessen - die Benutzeroberflaeche sollte sich so praesentieren, dass selbst ein blutiger Anfaenger von alleine Manipulationen ausprobiert, die ein fortgeschrittener Computerbenutzer routinemaessig ausfuehrt. Dazu muss sich der Lernende herausgefordert, gleichzeitig aber auch einigermassen sicher fuehlen. Sicher fuehlt er sich aber nur, wenn er nicht den Eindruck hat, die Maschine verlange von ihm das Know-how eines Spezialisten.

In dieser Beziehung vorbildlich ist die grafische Benutzeroberflaeche der Macintosh-Computer: Um beispielsweise eine Datei zu verschieben oder zu kopieren, braucht man keine kryptischen Computerkommandos einzutippen, sondern zieht auf dem Bildschirm das Symbol der betreffenden Datei mit der Computermaus einfach an die gewuenschte Stelle. Das Ziehen ist ein Vorgang, der unsere Koerpermentalitaet anspricht, mit der wir unmittelbarer und intuitiver umgehen koennen als mit einer abstrakten geistigen Mentalitaet.

Wichtig ist auch, dass die Methode sehr visuell gepraegt ist, denn da kommt eine weitere Staerke unserer Sinne zum Zug: das rasche und sichere Erkennen von Mustern. Wir koennen visuell gleichzeitig Dutzende von Dingen wahrnehmen, wobei wir diese sehr viel rascher erkennen, wenn sie in Form von Bildern vorliegen statt als Worte: Auf einem Plakat, das 100 Tiere zeigt, finden wir das Bild des Elefanten viermal so schnell wie das Wort Elefant.

Wenn man all diese Erkenntnisse beruecksichtigt, erhaelt man eine sogenannte benutzerfreundliche Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Doch damit sollten wir uns nicht zufriedengeben - schliesslich wissen wir das schon seit 20 Jahren. Deshalb moechten wir nun im Multimedia-Design ueber die Welt der Bilder hinausgehen. Statt nur Video zu zeigen, wollen wir Simulationen praesentieren. Gleichzeitig versuchen wir, in verschiedenen Anwendungen neben Bild und Ton auch den Tastsinn zu implementieren. Einfach wird dies nicht sein, denn schliesslich muss alles aufeinander abgestimmt sein, damit die unterschiedlichen Teile unseres Verstandes zusammenarbeiten und nicht vor lauter Multimedia wild durcheinandergeraten.

Alan Kay war Mitgruender des Xerox Palo Alto Research Center, bevor er zum PC-Hersteller Atari und spaeter zu Apple Computer wechselte. Der Text basiert auf einem Referat, das Alan Kay an der High-Tech- Akademie in Muenchen gehalten hat. Die Uebersetzung und Bearbeitung besorgte Felix Weber, Zuerich. Der erste Teil erschien in der CW Nr. 44