Keine Originaldokumente mehr für Sachbearbeiter

Neues Scriftgut-Management in der R + V-Versicherungsgruppe

31.01.1992

Die Vorstellungen vom "Office of the future" schienen allen klar. Papier sollte weitgehend durch elektronische Medien ersetzt werden. Doch die Realität präsentiert sich anders: "Wir ersticken in Informationen und dürsten nach Wissen", so John Naisbitt in seinem Buch "Megatrends".

Trotz oder gerade wegen des Einsatzes von immer mehr Informationstechnik stapeln sich schier unglaubliche Papierberge in den Büros. Die Sachbearbeiter scheinen noch immer auf der Entwicklungsstufe der "Jäger und Sammler" zu stehen.

Der wirtschaftliche Umgang mit Akten, also das Archivieren und rasche Wiederauffinden von Vorgängen, kann bei entsprechender Organisation zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden.

Die typische produktive Zeit zur Bearbeitung eines Vorgangs beansprucht lediglich ein Fünftel der gesamten Abwicklungszeit. Die restlichen vier Fünftel liegen in den unproduktiven Aktionen, etwa bei Rückfragen, Weiterleiten, Wiedervorlage, Sortieren, Registrieren, Ablegen und erneuter Zugriff.

Die Beschleunigung des Vorgangsdurchlaufes stellt also ein wesentliches Wirtschaftlichkeits-Potential dar. Begriffe wie integrierte Vorgangsbearbeitung und Schriftgut-Management-Systeme tauchen zunehmend in der Büropraxis auf.

Speziell bei Versicherungen und Banken mit ihren großen Archivkellern beschäftigen sich Organisatoren zunehmend mit wirtschaftlichen Lösungen zum Abbau der Papierberge und zur Steigerung der Servicequalität mit der Beschleunigung der Vorgangsbearbeitung.

So mußte zum Beispiel bei der R + V-Versicherungsgruppe in der Abteilung Grundbesitzverwaltung immer wieder auf eine Vielzahl alter Dokumente in den Akten und Archiven zurückgegriffen werden. Allein in der Grundstücksverwaltung hatten sich 14 300 Mieterakten, 1 430 Korrespondenzordner und 440 Vertragsordner angesammelt.

Abteilungsleiter Hans-Georg Hippel wollte sich mit der traditionellen Abwicklung dieser vielschichtigen, mehrstufigen papier- und speicherintensiven Vorgänge nicht mehr zufrieden geben. Hippels Ziele zur Stärkung der eigenen Wettbewerbskraft waren:

- Beschleunigung der Vorgangsbearbeitung,

- gleichzeitige Verfügbarkeit der jeweils benötigten Informationen an allen Arbeitsplätzen,

- sofortige Auskunftsbereitschaft,

- Verbesserung des Services für die Kunden sowie

- Reduzierung der Kosten für Material, Raum und Personal.

Ziel war eine verbesserte Organisation

Mit der Einführung des elektronischen Schriftgut-Managements sollten nicht nur meterhohe Papierberge auf optischen Speicherplatten gespeichert, sondern durch den Einsatz eines computergestützten Ablaufsteuerungs- und Archivierungsverfahrens die gesamte Organisation verbessert werden.

Dieser umfangreiche Eingriff in die traditionelle Aufbau- und Ablauforganisation setzte allerdings eine umfangreiche Vorbereitung voraus. Gemeinsam mit den Spezialisten der Betriebsorganisation, des Systembetriebs und der Systementwicklung wurden die bestehenden Abläufe im Detail analysiert. Parallel dazu prüften die R+V-Fachleute die am Markt verfügbaren Systeme für Office-Automation.

Als Basis für die Ausschreibung wurde ein umfangreiches Pflichtenheft erstellt und den Anbietern IBM, Filenet und Philips zur Verfügung gestellt. Zur Absicherung der Entscheidung prüften die Spezialisten große Referenzinstallationen in den USA. In ausführlichen Diskussionen mit den amerikanischen Anwenderkollegen wurden deren bisherige positive und negative Erfahrungen ausgewertet. Die Referenzunternehmen waren die Great Western Savings Bank, die Pacific Mutual Life Insurance Company und der größte US-Direktversicherer, die United Services Automobile Association.

Auf Basis dieser umfangreichen Analysen und Vergleiche entschied sich die R + V für das Schriftgut-Management-System des Anbieters Filenet.

Die Einführung des Systems geschah schrittweise. Als Pilotanwendung wurde die Hauptabteilung Grundbesitz ausgewählt, da sie gut überschaubar ist und in sich geschlossene Abläufe bietet. Dazu Reinhard Schatton, Projektleiter der Betriebsorganisation: "In diesem Bereich war die für ein derartig umfangreiches Projekt nötige Innovationsbereitschaft bei allen Beteiligten vorhanden." Es bot sich also die gute Chance, eine neue Technologie einzusetzen.

Im ersten Schritt wurden alle vorliegenden Mieterakten auf optische Speicherplatten archiviert. Diese Konvertierung der Papierakten auf elektronische Speicher nahm zirka neun Monate in Anspruch und wurde von einem Scan-Service durchgeführt, da das Einscannen dieser Masse von Akten mit der R+V-eigenen Personalkapazität nicht möglich war. Die Mieterakten werden nun als elektronische Kundenakten geführt.

Datenintegration erfolgt mit Scanner

Nun wird die täglich neu anfallende Eingangspost über Scanner eingelesen und in das neue Schriftgut-Management-System überspielt. Der Sachbearbeiter benötigt also an seinem Arbeitsplatz keine Originaldokumente mehr. Er holt sich statt dessen die elektronischen Akten auf seinen Bildschirm zur Bearbeitung.

Grundsätzlich verfügt ein Schriftgut-Management-System über die optische Speichertechnik mit ihrer sehr hohen Aufzeichnungsdichte und kurzer Zugriffszeit auf riesige Informationsbestände.

Bei der R + V wird die theoretische Kapazität von 2,6 GB pro Platte für die Speicherung der digitalisierten Eingangspost und gleichzeitig für die auf dem Großrechner erstellte Ausgangspost genutzt.

Bei der Eingangspost ergibt sich pro Platte ein Fassungsvermögen von zirka 45 000 Seiten. Bei der Ausgangspost, zum Beispiel Nebenkostenabrechnungen, kann sogar knapp eine Million Seiten pro Platte gespeichert werden. Die Information liegt in diesem Fall codiert vor und kann somit platzsparend gespeichert werden. Die von Filenet installierte Jukebox kann bis zu 288 optische Platten verwalten und bietet damit eine Gesamtkapazität von etwa 13 Millionen Seiten im direkten Zugriff.

100 Millionen Seiten in direktem Zugriff

Damit sind die Grenzen des Systems allerdings noch nicht erreicht. Bei Bedarf kann die Speicherkapazität so erweitert werden, daß rund 100 Millionen Seiten im direkten Zugriff gehalten werden kann.

Die andere für den Arbeitsablauf entscheidende Technologie ist die von Filenet entwickelte Software "Workflo". Workflo ist das Herzstück des Schriftgut-Managements und eine aus in "C" geschriebenen Makros bestehende Modulbibliothek, die sowohl für Unix als auch für MS-DOS zur Verfügung steht. Die Aufrufe der "Makro-Calls" ergeben das Workflo-Skript das in 4GL-Manier geschrieben wird.

Bei der R + V übernimmt Workflo nicht nur die automatische Zuordnung der Dokumente zu den elektronischen Akten und deren geordnete Weiterleitung an den richtigen Arbeitsplatz, sondern eine Reihe weiterer wichtiger Bürofunktionen. Einfache Beispiele dafür sind Terminüberwachung und automatische Steuerung der Wiedervorlage. Ein entscheidender Vorteil liegt in der vollständigen Integration der Vorgangsbearbeitung in die Text- und Datenverarbeitung.

Mit gewachsener IBM-Struktur verträglich

Bei der R + V mußte das System mit den gewachsenen IBM-Strukturen verträglich sein. So werden die bisherigen Großrechneranwendungen über ein 3270-Fenster in die Filenet-Workstation eingeblendet. Zu diesen Anwendungen zählen zum Beispiel die Grundstücksdatenbank, die Kunden- und Lieferantendatenbanken die Offene-Posten-Datei und die Rechnungsbearbeitung.

Mit der Host-Anbindung ist es zum Beispiel möglich, die zirka 10000 Heizkosten- und weitere 10000 Nebenkostenabrechnungen entweder über Band oder direkt auf die optische Speicherplatte zu schreiben und automatisch an die Akte zu heften.

Diese Anwendung zeigt, daß die Integration von zentraler DV und dezentraler Vorgangsbearbeitung zu einer sofortigen Auskunftsbereitschaft des Sachbearbeiters und damit zu einem verbesserten Service für den Kunden führen kann.

Checklisten der Sachbearbeiter Integriert

Bei der R+V-Lösung wollte Hippel noch einen weiteren Effekt erzielen: "Bei der bisherigen Vorgehensweise wurde der Arbeitsablauf in einem Organisationshandbuch beschrieben und dokumentiert. Jeder Sachbearbeiter bekommt es ausgehändigt, und wir können nur hoffen, daß danach gearbeitet wird.

In diesem Projekt wurde daher eine konsequentere Vorgehensweise gewählt: "Entsprechend den Vorgaben im Pflichtenheft hat Filenet mit Hilfe von Workflo die bisherigen und künftig gewünschten Arbeitsabläufe in Programme der automatischen Vorgangsbearbeitung abgebildet." Dabei wurden Checklisten, die den Sachbearbeiter bei seiner täglichen Arbeit unterstützen, integriert. Die Software steuert dabei die Vorgangsbearbeitung und sichert die Einhaltung der organisatorischen Richtlinien.

Mit seiner Workstation kann der Sachbearbeiter alle an seinem Arbeitsplatz zu erledigenden Aufgaben unter einer einheitlichen Benutzeroberfläche bearbeiten.

An seinem Doppelseitenbildschirm kann er sich - wie am Schreibtisch - mehrere Dokumente oder Anwendungen gleichzeitig ansehen.

Unter der Steuerung von Workflo laufen dabei Bearbeitungsvorgänge bis zur vollständigen Erledigung eines Geschäftsvorfalles in verschiedenen Fenstern ab.

So kann er beispielsweise einen Mietvertrag überprüfen, auf die zentralen Datenbanken des Rechenzentrums zugreifen, einem Kunden einen Brief schreiben, ein Formular ausfüllen etc.

Mit der ZDA-Funktion, einer Nachempfindung des Verwaltungskürzels "Zu den Akten", wird automatisch geprüft: Ist die vorgeschriebene Indizierung in Ordnung? Wurden alle vorgangsrelevanten Arbeitsschritte durchgearbeitet? Erst danach verschwindet die Akte im elektronischen Laserplatten-Archiv.

Diese Beispiele zeigen, wie die bisherigen Strukturen, Vorgänge und Abläufe elektronisch unterstützt und weiter verbessert werden konnten.

Detailergebnisse spätestens 1994

Doch diese Optimierung mit dem konsequenten Einstieg in moderne Bürotechnologie muß sich aus Sicht der Anwender auch rechnen. Eine Untersuchung bei 50 amerikanischen Anwendern von Filenet ergab, daß die mittlere Amortisationsdauer des kompletten Schriftgut-Management-Systems bei zirka 2,6 Jahren lag. Im konkreten Fall der R+V kann noch keine abschließende Wirtschaftlichkeitsberechnung durchgeführt werden. Intern rechnet man mit einer Amortisationsdauer von drei bis vier Jahren. Spätestens 1994 werden Detailergebnisse vorliegen.

Aus heutiger Sicht ergeben sich folgende Kosten-Nutzen-Aspekte: Das Gesamtsystem der R + V kostete mit Bildschirm-Arbeitsplätzen, der Verkabelung, der gesamten Software und einem professionellen Erfassungssystem umgerechnet pro Arbeitsplatz 90 000 Mark. Als laufende Kosten ergeben sich die Personalkosten für einen versierten System-Administrator sowie Wartungs- und Verbrauchskosten für den laufen den Betrieb.

Diesen Kostenfaktoren stehen quantitative und nur schwer bewertbare qualitative Nutzenfaktoren gegenüber. Um dennoch eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung durchführen zu können, wurden fast alle Tätigkeiten einer differenzierten Einzelbewertung unterzogen.

Das Ergebnis dieser Tätigkeitsanalyse zeigte ein Einsparungspotential von zirka 18 bis 20 Prozent durch den konsequenten Einsatz des Schriftgut-Management-Systems.

Dabei stand gar nicht so sehr die Komponente der elektronischen Archivierung im Vordergrund, sondern die Optimierung der Arbeitsabläufe durch die elektronische Steuerung der Geschäftsvorfälle.

Seine Ziele sieht Hippel mit der sofortigen Auskunftsbereitschaft der Sachbearbeiter durch

den Online-Zugriff auf sämtliche Akten und Archive schon weitgehend als erreicht an. Zusätzlich bietet das neue System eine hohe Transparenz und eine einheitliche Ablauforganisation. Durch den Wegfall lästiger Tätigkeiten, zum Beispiel der Aktensuche, konnten die Bearbeitungs- und Durchlauf -zeiten der Geschäftvorgänge entscheidend verkürzt werden. Bei den Mitarbeitern fand die neue Technologie rasch Zustimmung.

Sie empfinden ihren Leistungsbeitrag als höherwertig und entwickeln eine positivere Einstellung zu ihrer Arbeit Nach Abschluß des Pilotprojektes sollen die Erfahrungen der Hauptabteilung Grundbesitz dann auch in anderen Bereichen des Versicherungsunternehmens genutzt werden.

Paul Maisberger ist Geschäftsführer der Maisberger & Partner, Gesellschaft für strategische Unternehmenskommunikation mbH in München.