Neuer Verhaltenscodex führt zur Informationskultur

09.12.1988

Hartmut Skubch, Geschäftsführer Plenum Management Consulting, Wiesbaden

Es müssen nicht immer gleich spektakuläre Ereignisse sein, wie der Airbus-Abschuß am Persischen Golf oder die Katastrophe von Tschernobyl, um uns daran zu erinnern, welche negativen Folgen der Einsatz von Technologie haben kann. Die vielen kleinen, meist wenig registrierten, fast schleichenden Veränderungen sind gerade im Bereich der Informationstechnologie in ihrer Gesamtheit bedeutsamer.

Wir, die sogenannten "lnsider" der Informationstechnologie, werkeln jeden Tag mit und an ihr herum, entwickeln neue Systeme und führen sie bei unseren Anwendern ein, wundern uns, wenn wir auf ablehnende Haltungen stoßen und kontern mit dem Ruf nach mehr Planung, mehr Methodik, mehr Technik. Ich schließe mich da bewußt ein!

Dennoch behaupte ich: Das heutige Informationsmanagement in den Unternehmen - und damit meine ich alle mit der Erstellung und dem Betrieb von DV-Systemen verbundenen Aktivitäten (vom DV/Org.-Leiter bis zum Anwendungsentwickler . . .) - ist unbefriedigend, weil es das Wesen der Information und Kommunikation nicht ausreichend begreift. Fragen wir einen Informatiker, einen Mathematiker, einen Organisator oder einen Soziologen danach, was er unter dem Begriff Information versteht, so erhalten wir völlig unterschiedliche Antworten. Maßen wir uns als Informatiker also nicht an, das Thema Information, und damit auch Kommunikation, exklusiv für uns gepachtet zu haben. Das Problem ist interdisziplinär, also muß auch die Suche nach der Problemlösung ganzheitlich erfolgen. Aber in welchen Unternehmen geschieht dies bereits?

Eine Kernfrage dabei heißt: Sind Informationssysteme wertfrei? Wenn wir unter einem Informationssystem das Zusammenwirken von Technologie, Organisation und Individuen verstehen, kann es niemals wertfrei sein, weil der Mensch niemals wertfrei handelt. Aber betrachten wir nur die Komponente Technik. - Ist sie wertfrei?

Oder lassen nicht vielmehr die Eigenschaften einer Technologie Rückschlüsse auf mögliche, vielleicht sogar zwangsläufige Auswirkungen zu? Jedenfalls sollten wir prüfen, welche Eigenschaften der Informationstechnologie zuzurechnen sind und welche Probleme auftreten könnten.

Hohe Innovationsgeschwindigkeit macht es sehr schwer Technologiesbschätzungen sinnvoll durchzuführen, da kaum Erfahrungswerte vorliegen und wenn sie vorliegen schnell veralten. Kennzeichnend ist auch ihre totale Durchdringung aller Lebensbereiche, und zwar an einem Lebensnerv menschlicher Existenz: der Kommunikation.

Dieses Gebilde Kommunikation läßt sich seiner Komplexität nach durchaus mit einem Ökosystem vergleichen. - Folgt auf die Umweltverschmutzung jetzt eine "Kommunikationsverschmutzung" mit verheerenden Folgen für das Sozialgefüge? Unterschätzen wir wieder einmal die Vielzahl von Wechselwirkungen, die wir nur schwer erfassen und kaum systematisch beeinflussen können?

Es handelt sich um eine Großtechnologie, denn sie führt zur fast vollständigen Abhängigkeit der Unternehmen von ihr; es gibt keine Alternative. Dabei steigt der Komplexitätsgrad ständig, und gleichzeitig sinkt deren Beherrschbarkeit. Das Problem der "Computerviren" zeigt deutlich, wie verwundbar Unternehmen jetzt schon sind. Informationstechnologie verändert bisherige räumliche und zeitliche Grundvorstellungen. Die einerseits erwünschte Dezentralisierung ermöglicht andererseits durch die Technik der Vernetzung eine fast völlige Präsenz von Informationssystemen mit erheblichem Machtpotential. Weil schnelle Aggregation von historischen und aktuellen Daten zu neuen Informationen kein Problem mehr ist, kann sich Informationstechnologie zur Kontrolltechnologie fortentwickeln. Es gibt keine Wohltat des Vergessens mehr.

Mit der Fähigkeit, auch komplexe Prozesse zu automatisieren, und der damit steigenden Integration geht gleichzeitig bei den mit dem System arbeitenden Menschen immer mehr Wissen um die Zusammenhänge verloren. Organisatorische Abläufe, die in Hunderten von Programmen festgelegt sind, neigen zur Erstarrung. Die Organisation kann dabei ihre Flexibilität - und damit ihre Reaktionsfähigkeit - stark einschränken. Informationssysteme bedeuten eine starke Vereinfachung unserer Welt. Sie können uns zu dem Glauben verführen, die Welt sei wirklich so einfach, wie sie uns in ihnen erscheint. Gerade der flexibelste Teil der Informationstechnologie, die Datenhaltung, kann leicht zweckentfremdet werden. Autor Wilhelm Steinmüller: "Informationssysteme sind taugliche Werkzeuge nur im Rahmen ihres Entstehungszweckes; außerhalb dagegen sind sie normalerweise sozialschädlich."

Der Technologieglaube "Wenn es Probleme mit der Technik gibt, wird die technologische Entwicklung schon eine neue Technik hervorbringen, die die Probleme lösen wird" ist ein gefährlicher Irrglaube. Die Innovationsgeschwindigkeit ist dafür viel zu hoch und die Komplexität allzu groß.

Der Einsatz von Informationstechnologie muß demnach unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten erfolgen. Es stellt sich die banale Frage: Sind wir dafür schon reif genug? Club-of-Rome-Präsident Alexander King bezweifelt, ob den durch die Informationstechnologie ausgelösten Veränderungen der Machtstrukturen mit wirtschafts- oder staatspolitischen Mitteln angemessen begegnet werden kann.

Im Klartext bedeutet das: Wir sind heute aufgrund unseres gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklungsstandes nicht in der Lage, jede Technologie zum Wohle der Menschen einzusetzen. Bleibt zu klären: Auf welchen Einsatz verzichten wir? Wer entscheidet das? Nach welchen Maßstäben bewerten wir?

Wir, die Wissenden der neuen Technologie, sind hier naturgemäß besonders gefordert. Allgemeingültige Antworten auf diese Fragen habe ich freilich keine - vielleicht noch keine. Aber ich bin der festen Überzeugung, daß wir uns dieser Herausforderung stellen müssen. Nur wenn wir vorbehaltlos in jedem Einzelfall kritisch Position beziehen, haben wir eine Chance auf Erfolg. Dabei bin ich im Grunde optimistisch; denn die Zeit ist dafür reif. Während in den späten sechziger Jahren dem teilweise fanatischen Bemühen um einen Wertewandel keine ökonomische Notwendigkeit gegenüberstand, ist heute ein Wertewandel aus ökonomischen, ökologischen und soziologischen Gründen zur Überlebensfrage geworden.

Wir befinden uns mitten in einer gesellschaftlichen Übergangszeit. Dies ist aufregend und belastend zugleich; denn die damit verbundene Verantwortung zu gestalten - und vor allem bei sich selbst damit anzufangen - , wiegt schwer. Versuchen wir - jeder in seinem Bereich - kritisch und konservativ mit neuen Optionen der Informationstechnologie umzugehen. Aber hinterfragen wir uns auch stets selbst, nach welchen Kriterien und Werten wir derzeit urteilen, und setzen wir uns der Diskussion über diese Werte aus. Vielleicht nähern wir uns damit einem neuen "Verhaltenscodex" für Informatiker, Entwickler, Informationsmanager . . . Machen wir aus der Informationsverarbeitung eine Informationskultur!