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Höhepunkt des Irrsinns

"Neuer Markt" vor zehn Jahren auf Rekordhoch

09.03.2010
Damals träumten Millionen vom Millionärsleben - am Ende wurden Milliarden verbrannt.

Am 10. März 2000 erreichte der Börsenirrsinn seinen Höhepunkt, auf den Tag genau drei Jahre nach dem Start des "Neuen Marktes" an der Frankfurter Börse. Was danach folgte, war ein Zusammenbruch auf Raten, noch angefeuert von dem Ende einer weltweiten Börsenhysterie und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA.

Der Aktienwert des sogenannten "Wachstumsmarktes" mit Titeln wie EM.TV, Brokat, Gigabell, Intershop oder Metabox belief sich in der Spitze auf mehr als 230 Milliarden Euro. Und der Auswahlindex Nemax 50 für die 50 wichtigsten Firmen am Neuen Markt erreichte im Tagesverlauf fast 9700 Punkte - ein Wert, der sich nie mehr wiederholen sollte.

Im Gegenteil: Fast ebenso heftig, wie die Gier nach möglichst schnellen Gewinnen die Aktien immer weiter nach oben trieb, schlug die Anlegerstimmung jäh in Panik um. Schon Ende März notierte der Nemax 50 nur noch bei rund 7500 Punkten, Anfang 2001 bei etwa 2150 Zählern. Das Rekordtief wurde am 7. Oktober 2002 erreicht, bei nur noch gut 306 Punkten. Rund ein halbes Jahr später wurde der Neue Markt faktisch eingestellt.

Die vermeintliche "Volksaktie" der Deutschen Telekom
Die vermeintliche "Volksaktie" der Deutschen Telekom
Foto: Deutsche Telekom

Spätestens mit dem Telekom-Börsengang 1996 mutierte die Republik allmählich zu einem Volk von Kleinanlegern. In Umfragen hieß es damals, mehr als 50 Prozent der Bürger glaubten, dass die an der Börse reich werden. Allein der Hinweis auf Hightech oder ein "dotcom" im Firmennamen reichten aus, um neue Aktien unters Volk zu bringen, egal zu welchem Preis, denn Kurssprünge innerhalb weniger Tage galten als garantiert.

Zeitzeugen erinnern sich an teilweise bizarre Szenen: Da wurden Finanzjournalisten und deren Angehörige von Nachbarn um Aktientipps angebettelt, Patienten im Wartezimmer fachsimpelten über "Bookbuilding-Spannen" beim Börsengang junger Unternehmen. Börsenprogramme im Fernsehen waren scheinbar populärer als die Sportschau. Studenten lasen in Vorlesungen Finanzzeitungen und Börsenbriefe, statt dem Professor zu lauschen. In deutschen Unternehmen müssen Millionen Arbeitsstunden verloren gegangen sein, weil die Beschäftigten während der Arbeitszeit akribisch Kursverläufe beobachteten und online mit Aktien handelten - private Internetanschlüsse waren damals noch recht teuer und langsam.

Es war eine Zeit, in der herkömmliche Bewertungsmaßstäbe nicht mehr galten. "Das ist überhaupt nicht mehr nachvollziehbar, wieso virtuelle Unternehmen mit zwei, drei Mitarbeitern auf solch eine hohe Marktkapitalisierung kommen", urteilte die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. Schon zum dritten Geburtstag des Segmentes warnten Analysten: "Der Kaufrausch könnte von einer Verkaufspanik abgelöst werden." Als Warnsignal galt vor allem das schwindelerregende Kursniveau manch kleinen Unternehmens in der Größenordnung von Industrie- und Finanzriesen.

Auch in der Bilanzanalyse mussten sich Leser an neue Kennziffern gewöhnen: Es zählte nicht mehr, was unter dem Strich herauskam. Viele der Börsenneulinge hatten hohe Kredite aufgenommen, um Zukäufe zu finanzieren. Die Zinslasten und die teilweise enormen Abschreibungen auf diese Zukäufe wurden ausgeblendet, indem man sich nur noch auf bereinigte Ertragsziffern konzentrierte. Dass manches Unternehmen weniger Umsatz als Verlust verbuchte, interessierte nicht; dagegen reichten Meldungen über Kundenzuwächse, angebliche Aufträge oder Internetzugriffszahlen, um die Firma an der Börse mit Kursexplosionen zu feiern.

Gestartet hatte die Deutschen Börse mit einer simplen Grundidee: Der Ruf nach Risikokapital für junge Unternehmen in Wachstumsbranchen wurde immer lauter, doch bei der Finanzierung solcher Firmen nach US-Vorbild haperte es bislang in der Praxis. Der Neue Markt sollte Wachstumsunternehmen mit risikobewussten Investoren zusammenbringen, so lautete das Credo der Frankfurter Börsenmanager. Als der Startschuss für das neue Börsensegment fiel, waren nur zwei Börsenneulinge mit von der Partie: Der schwäbische Autozulieferer Bertrandt und der norddeutsche Mobilfunkanbieter Mobilcom.

Aufstieg und Fall des "Neuen Marktes"

Der Neue Markt, das Segment der Deutschen Börse für Technologie-Aktien, erlebte Ende der 90er Jahre einen rasanten Aufstieg - und einen tiefen Fall nach dem Platzen der Internet-Blase in den USA. Eine Chronologie:

10. März 1997: Der Neue Markt startet mit zwei Unternehmen, dem Mobilfunk-Anbieter Mobilcom und dem Ingenieurdienstleister Bertrandt. Ein halbes Jahr später hat der Index Nemax bereits um mehr als 97 Prozent zugelegt.

31. Dezember 1998: Zum Jahresende sind 64 Firmen mit einem Marktwert von rund 26 Milliarden Euro notiert. Der Neue Markt-Index legt in Jahresfrist um 174,4 Prozent auf 2738,64 Punkte zu.

1. Juli 1999: Für die 50 größten Unternehmen am Neuen Markt wird der Auswahlindex Nemax 50 eingeführt. Der bisherige Neue-Markt-Index wird in Nemax All Share umbenannt. Zu dem Zeitpunkt sind in ihm 124 Unternehmen mit einem Marktwert von 56 Milliarden Euro vertreten.

10. März 2000: Der Neue Markt erreicht seinen Höchststand. Der Nemax All Share steigt auf 8583,34 und der Nemax 50 auf 9694,07 Punkte. Der Börsenwert der 229 Unternehmen im All Share beläuft sich auf 234,25 Milliarden Euro. Einen Tag später beginnt die Talfahrt.

15. September 2000: Das Telekom-Unternehmen Gigabell beantragt als erste Neue-Markt-Firma Insolvenz. Im Februar 2001 wird es als erstes Unternehmen wegen Verstoßes gegen das Regelwerk ausgeschlossen.

6. Juli 2001: Die insolvente Sunburst Merchandising eröffnet einen Reigen von Unternehmen, die den Wechsel von dem Neuen in den Geregelten Markt beantragen.

11. September 2001: Nach den Anschlägen in den USA brechen die Kurse ein. Der Nemax 50 sinkt auf 837, der All Share auf 867 Zähler.

7. Oktober 2001: Der Nemax 50 fällt im Tagesverlauf auf das Rekordtief von 306,32 Punkten, das ist ein Minus von mehr als 97 Prozent in zweieinhalb Jahren. Der All Share erreicht sein Rekordtief am nächsten Tag mit 353 Punkten.

31. Dezember 2001: Am Neuen Markt notieren 327 Unternehmen. Die Marktkapitalisierung beträgt aber nur noch knapp 50 Milliarden Euro.

19. April 2002: Der im Nemax 50 notierte Telematik-Anbieter Comroad wird nach einem Bilanzskandal vom Neuen Markt verbannt. Die Firma hatte nahezu die gesamten Umsätze fingiert.

13. September 2002: Nach dem Rückzug des Großaktionärs France Télécom kommt mit Mobilcom ein Gründungsmitglied des Neuen Marktes in Bedrängnis.

26. September 2002: Die Deutsche Börse will den Neuen Markt bis Ende 2003 einstellen.

5. Juni 2003: Der Neue Markt wird sechs Monate früher als erwartet geschlossen. Im März war bereits der TecDax als Nachfolger des Nemax 50 installiert worden, der nur noch 30 Werte enthält. Offiziell wird der Nemax 50 noch bis zum 17. Dezember 2004 weiterberechnet.

Der damals vielzitierte Börsenguru André Kostolany hatte schon frühzeitig gewarnt und den Neuen Markt eine "Spielhölle mit gezinkten Karten" genannt. Endgültig als "Zockermarkt in Verruf kam der Neue Markt, als aufgeblasene Bilanzen, Insiderhandel und Kursbetrug ruchbar wurden, angeführt vom Münchner Unternehmen Comroad, das fast seine gesamten Umsätze erfunden hatte. (dpa/tc)