Neuer "Knigge" über den Umgang mit InformationenProfessor Horst Völz, Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse (ZKI) der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin*

09.03.1990

Ähnlich dem Verhaltenskodex des Adolf Freiherr von Knigge aus dem Jahr 1788 "Über den Umgang mit Menschen" scheint mir für die Gegenwart ein Regelwerk für unseren Umgang mit Informationen dringend geboten. Ich habe den Eindruck, viele regionale und weltweite Probleme, viele Fehleinschätzungen in Wissenschaft, Technik, Kultur und Politik lassen sich darauf zurückführen, daß unsere Informationskultur nur ungenügend entwickelt ist. Sie bildet sich keineswegs automatisch heraus, auch wenn sie sich zwingend aus den neuen Qualitäten der Informationstechniken ergibt, die in jüngster Zeit zu folgenden Konsequenzen geführt haben:

- Jede einmal vorhandene Information kann problemlos verbreitet werden.

- Vorliegende Informationen lassen sich leicht und preiswert speichern und vervielfältigen. - Jede einmal gewonnene Information ist somit allgegenwärtig.

- Es ist praktisch nicht mehr möglich, sie zu vernichten.

Der Kernpunkt meiner Behauptung ist: Mit der Entwicklung der Informationstechnik tritt irgendwann ein Zeitpunkt ein, wo die Mehrzahl der Bürger eines Landes Zugriff zu fast allen Informationen haben. Dann entsteht eine vollkommen neue Qualität. Diesen Punkt nenne ich Informationsschwelle. Ist er erreicht, muß das Leben in der Gesellschaft demokratisiert werden.

Absolutistische Tendenzen haben ab diesem Zeitpunkt nicht mehr die Möglichkeit sich durchzusetzen. Wenn man diesem Gedanken folgt, wird mit einem Schlag klar, warum der Watergate-Skandal nicht früher passieren konnte. Mitte der 70er Jahre war in den USA die Informationsschwelle erreicht. Es wird auch klar, warum Chruschtschow mit seinen Reformen keinen Erfolg haben konnte. Die Informationsschwelle in der Sowjetunion war noch nicht erreicht. Mit einem mal wird auch deutlich warum heute das ganze sozialistische Lager zusammenbricht. Die Informationsschwelle ist erreicht. Der Demokratisierungsprozeß in der DDR konnte nur wirksam werden, weil diese Schwelle überschritten war.

Diese objektive Entwicklung, die mit der Informationstechnik entstanden ist, wird von vielen Politikern ignoriert. Aus meiner Sicht besteht aber keine Chance mehr, gegen diese Gesetzmäßigkeiten anzulaufen. Objektiv geltende Gesetze setzen sich durch, wenn auch langfristig. Die Folgen des Verstoßes dagegen in den sozialistischen Ländern sind ja jetzt greifbar.

Aus meiner Sicht hat Information oder Wissen keine Ressourcengrenzen. Sie sind für den Menschen wesentlich und typisch. Bildung muß deshalb für jeden erreichbar sein. Wenn man das auf die Software-Problematik anwendet, heißt das in aller Konsequenz: Software im Sinne von Bildung und Wissen muß für jedermann zugänglich sein.

Dagegen steht natürlich die Tatsache, daß die Schaffung von neuer Information einer der schwierigsten menschlichen Prozesse überhaupt ist. Da ist die Kreativität gefragt, die wir ja fördern wollen. Wer kreativ ist, will natürlich einen Verdienst haben. Der steht ihm auch zu, denn er hat ja für die Gesellschaft etwas geleistet. Die beiden Forderungen stehen also gegeneinander.

Die heutige Handhabung des Problems ist geschichtlich entstanden, vergleichbar mit der Entwicklung in der Audiotechnik. Am Anfang durften ja auch keine Schallplatten auf Tonband überspielt werden. Im Laufe der Zeit hat sich das aber alles geregelt. Meine These ist also: Genau dieser Prozeß wird sich in absehbarer Zeit auch bei der Software wiederholen. Die Konsequenz: Alle Computerprogramme werden für jeden mehr oder weniger kostenlos - bis auf die Vervielfältigungskosten - zur Verfügung stehen.

Da schreien natürlich alle Programmentwickler Zeter und Mordio. Aber ich will ihnen ja nichts wegnehmen, im Gegenteil, sie sollen mehr bekommen. Denn ich verlange, daß bei jeder kommerziellen Nutzung eines Programms der oder die Programmierer anteilmäßig beteiligt werden. Wenn also jemand mit Hilfe einer Textverarbeitung ein Buch schnell und bequem schreiben kann, soll er den Entwickler des Programms an seinem Gewinn beteiligen. So funktioniert das ja auch bei künstlerischen Leistungen, in der Bundesrepublik zum Beispiel durch die Abgaben an die GEMA. Eine entsprechende Vereinigung der Informatiker, Softwareentwickler und Unternehmen könnte dann die Tantiemen verteilen. Ich glaube, daß dies langfristig die einzige Lösung des Problems ist. Eine Lösung, die viel ehrlicher und menschenfreundlicher ist, als der heutige Zustand.

Es ist heute technisch möglich und sollte im Interesse aller liegen, neue Informationen

schnell, ungestört und überallhin zu verbreiten. Die Wirklichkeit sieht aber leider ganz anders aus. Sie ist voller - manchmal auch berechtigter - Hindernisse und Beschränkungen. Die Misere fängt schon damit an, daß Information ungenügend aufbereitet wird. Dies und das wird absichtlich weggelassen, geheimgehalten, verboten, mit Strafen belegt, sogar vernichtet. Die Erfahrung lehrt aber, daß Verbote und Bestrafungen nur wenig wirksam sind. Eher wecken sie erst Interesse an unterdrückter Information. Angesichts des heutigen Standes der Technik wirkt diese Praxis somit geradezu schädlich, und die erhoffte Wirkung tritt nicht ein. Wir haben das in der DDR erlebt. Die Bücher, die verboten waren, gingen von Hand zu Hand oder sogar von Diskette zu Diskette. Ich habe zum Beispiel den Aufruf vom Neuen Forum zu einem Zeitpunkt auf Diskette gehabt, da wußte noch niemand etwas von der Existenz dieser Bewegung. Ohnehin läßt sich nur der Informationsträger, aber nicht das Getragene, also die eigentliche Informationskomponente, vernichten. Also: Alle Maßnahmen verhindern heute nicht mehr die Ausbreitung von Informationen. Damit haben wir uns abzufinden. Die Zukunft wird immer deutlicher zeigen, daß wir in einer Informationsgesellschaft leben.

Ein Wort noch zu Fehlinformationen und Manipulationen, allgemeiner gesprochen zu destruktiver Information". Was geschieht zum Beispiel mit dem Wissen über die Herstellung von Sprengstoffen und Drogen, mit Schundliteratur und Pornographie? Derartigen "destruktiven" Informationen freien Lauf zu lassen, ist schon ethisch-moralisch nicht zu verantworten. Aus dieser Sicht ist es auf jeden Fall zu bedauern, wenn sich auch derartige Informationen nahezu ungehindert ausbreiten. Ich sehe beim heutigen Stand der Informationstechniken in der Aufklärung der Bürger über die Destruktivität solcher Informationen die wirksamste Möglichkeit, um bösartige Entwicklungen zurückzudrängen, um das Böse sozial zu isolieren.

Aus der unaufhaltsamen Entwicklung zu einer Informationsgesellschaft ergeben sich für mich - in Anlehnung an Knigge - folgende Regeln für eine gute Informationskultur: Jede neue Information ist möglichst schnell, verständlich und korrekt den potentiellen Nutzern und Interessenten zugänglich zu machen.

Unbeabsichtigt falsche Informationen weiterzugeben und falsche Entscheidungen zu treffen, ist leider nicht ganz zu vermeiden. Jeder, der so etwas tut, ist aber verpflichtet, diesen Fehler umgehend öffentlich einzugestehen, zu bereuen und nach Möglichkeit wieder gutzumachen. Jemand, der diese Zivilcourage besitzt, bleibt integer. Wer das nicht tut, die Aufklärung verhindert oder etwas zu verschleiern versucht, verliert Vertrauen.

Mit jeder Information sind immer exakt der oder die Urheber zu benennen. Wenn wir anerkennen, daß Kreativität eine stark an die Persönlichkeit gebundene Eigenschaft darstellt, muß eine informationskulturelle Forderung lauten: Der Zusammenhang zwischen Produkt und Urheber ist sichtbar zu machen, darf nicht verschleiert oder verhindert werden. In Kultur und Kunst ist dies durch das bestehende Urheberrecht gesichert. Auf dem Gebiet der Urheberschaft von Computerprogrammen herrscht hier zur Zeit absolute Finsternis.

Insbesondere bezüglich "destruktiver Information" müssen alle Methoden des wirksamen Meinungsstreites, der soziologischen Wirksamkeit und der Aufklärung intensiv genutzt werden. Meine Vorstellungen mögen utopisch klingen. Aber durch die Informationstechnik haben wir - erstmalig auf der Welt - die Chance, sie zu verwirklichen.

*Horst Völz hat zahlreiche Bücher geschrieben und Vorträge gehalten, Hard- und Software entwickelt (u.a. die Magnetbandspeicher für die sowjetischen Marssonden) und leitet die Arbeitsgruppe "Kultur und Informatik" in der Gesellschaft für Informatik der DDR.