Tendenzen für den Softwaremarkt der 90er Jahre

Neue Techniken verstärken den Prozeß der Konzentration

23.03.1990

Für die Software-Branche bricht mit Beginn der 90er Jahre das dritte Lebensjahrzehnt an. An diesem Punkt ist es wohl angebracht zu fragen, was das neue Jahrzehnt für diese Branche bringen wird. Jürgen Ropertz* gibt einen Überblick über die sich abzeichnenden Entwicklungen.

Ein Rückblick auf die vergangenen Jahre, sozusagen die Kindheits- und Jugendphase der Software-Industrie, ergibt zunächst, daß deren Geburtsstunde um das Ende der 60er Jahre herum anzunehmen ist. Die heutigen Marktführer unter den deutschen Softwarehäusern wurden fast ausnahmslos um das Jahr 1970 herum gegründet.

Ausgangspunkt der Eigenständigkeit dieser Häuser war der - mehr oder weniger aufgezwungene - Rückzug aus der Bundling-Politik der großen Hardwarehersteller, die zuvor Hardware und damit verbundene Dienstleistungen, also auch Software, nur im Paket verkauften Erst als dieser Handelspolitik ein Ende bereitet war, bot sich den Software-Unternehmen der notwendige Spielraum für unabhängig entwickelte Software.

So wie die Experten schon früher dem Software-Markt eine große Zukunft voraussagten, so prophezeien die Auguren diesem Markt auch künftig ein überdurchschnittliches - wenn auch gegenüber vergangenen Zeiten gebremstes - Wachstum. Doch auf den ersten Blick scheint die Marktprognose in krassem Widerspruch zur gegenwärtigen Situation der Unternehmen zu stehen: Viele von ihnen haben mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Ein Blick auf die Wirtschaftsseiten der Fachpresse belegt, daß selbst die großen Häuser der Branche gegen diese Probleme nicht gefeit sind.

Dieser Widerspruch ist indes nur ein scheinbarer, denn schwierige wirtschaftliche Situationen sind typisch für Wachstumsmärkte. Dort, wo große Marktchancen erwartet werden, sind die Unternehmen - ein entsprechender finanzieller Hintergrund vorausgesetzt - bei einem Markteinstieg auch bereit, wirtschaftliche Durststrecken durchzustehen und für den Gewinn von Marktanteilen notfalls Verluste hinzunehmen. Dies führt folgerichtig zu einem .Ausleseprozeß, der leider manchem Softwarehaus die Existenzgrundlage raubt.

Kaum Barrieren für einen Markteintritt

Zugleich ist die zu beobachtende Vielzahl von Marktteilnehmern für die beschriebene Marktsituation typisch; viele Unternehmen versuchen eben, hier ihre Chance wahrzunehmen. Infolgedessen ist ein regelrechter Run auf die Segmente des Softwaremarktes zu beobachten.

Die Attraktivität des Marktes wird dadurch noch gestärkt, daß die Markteintrittsbarrieren niedrig sind. Die Aktiva eines Softwarehauses bestehen nämlich nicht primär in technischen Anlagen, sondern in dem Kenntnisstand der Mitarbeiter, der Jedoch bei einem Unternehmensstart nicht gleich investive Mittel erfordert. Dieser Wissensstand ist in Deutschland dank guter Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten gegenwärtig noch in ausreichendem Maße vorhanden. Hier können die Unternehmen also meist auf mit öffentlichen Mitteln geförderte Ausbildungmöglichkeiten zurückgreifen.

Dennoch darf nicht übersehen werden, daß die Risiken des Software-Geschäftes nicht zu unterschätzen sind. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Software-Branche eine der höchsten Fluktuationsraten überhaupt aufweist. Unternehmen werden in großer Zahl gegründet und in ähnlich großer Zahl aus unterschiedlichen Gründen wieder vom Markt zurückgezogen.

Zu einer gleichbleibend hohen Anbieterzahl und zur scharfen Konkurrenzsituation trägt weiterhin die Tatsache bei, daß Software eine Querschnittstechnologie darstellt, also grundsätzlich in allen Anwenderbranchen sinnvoll einsetzbar ist. Das führt vermehrt dazu, daß auch die Anwender - als Entwickler von Software für den Eigenbedarf bereits seit langem aktiv - auf den Markt drängen, indem sie ihre Software-Abteilungen als eigenständige Gesellschaften auslagern, die ihre Leistungen auch extern auf dem Markt anbieten. Bereits jetzt handeln quer durch alle Branchen bereits viele DV-Anwender nach diesem Prinzip und vermarkten auf diese Weise ihr oftmals sehr spezielles Know-how.

Für eine Prognose über die künftigen Anwenderaktivitäten genügt es wohl, auf das in Gründung befindliche Systemhaus der Daimler-Benz AG hinzuweisen, das in den nächsten Jahren als dann größter bundesdeutscher Systemhauskonzern sicher nicht nur für das eigene Unternehmen tätig werden wird. Wahrscheinlich stand das Beispiel der General-Motors-Tochtergesellschaft EDS bei dieser Konzeption Pate. Auf der langen Liste der im deutschen Software-Markt agierenden Anwender finden sich Namen wie Mannesmann, Krupp und VW, bei deren Aufzählung wir es hier bewenden lassen wollen .

Zunehmender Einfluß der Hardware-Hersteller

Eine weitere Gruppe von Anbietern, die in das Software-Geschäft mit aller Macht hineindrängen, stellt die Hardware-Industrie dar. Es reicht, sich in Erinnerung zu rufen, daß IBM Präsident John Akers vor geraumer Zeit das Ziel verkündete, bis Mitte der 90er Jahre 50 Prozent des Konzern-Umsatzes mit Software erzielen zu wollen, was bis dahin immerhin 50 Milliarden US-Dollar entsprach .

Doch die anderen Hardware-Produzenten, die sich ursprünglich höchstens mit der Entwicklung von System- und systemnaher Software befaßten, bewegen sich mit ihren Software-Entwicklungen fast alle immer weiter von der Systemebene weg und produzieren zusehends mehr zur Anwendungssoftware hin. Das geschieht nicht zuletzt deswegen, weil das reine Hardwaregeschäft aufgrund schneller Produktzyklen erhebliche Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen erfordert, die bei ständig sinkenden Preisen einzunehmendes Risiko bedeuten und somit nur schwer in Ertrag umgemünzt werden können.

Faßt man die Tendenz des Marktgeschehens zusammen, so kommt man nicht umhin festzustellen, daß sich die Goldgräbermentalität ihrem Ende nähert. Die Zeiten des berauschenden Wachstums sind vorbei, der Markt wird enger. Hier zeigt sich aber nur eine Erfahrung, die andere Industriezweige Jahrzehnte früher machen mußten. Somit ist schlicht zu konstatieren, daß die Softwarebranche auf dem besten Wege ist, sich zu einer - im besten Sinne - normalen Branche zu wandeln.

Bei zunehmenden wirtschaftlichen Problemen sind die Häuser nun erstmals gezwungen, sich mit der Zukunft zu befassen und Strategien für eine langfristige Politik zu entwerfen. Aufgrund unterschiedlicher Ausgangssituationen und Größenverhältnisse werden solche Strategien sicher für jedes Unternehmen gesondert definiert werden müssen, so daß es einen einheitlichen Weg für die Zukunft nicht geben kann. Dennoch lassen sich prinzipielle Ansätze vorstellen, die tatsächlich wohl in vielerlei Varianten umgesetzt werden.

So werden die bereits heute großen Softwarekonzerne anstreben, über ein weiteres Größenwachstum Produktivitäts- und Synergie-Effekte zu realisieren. In diesem Sinne zeichnen sich Entwicklungen einiger großer Unternehmen bereits ab, die versuchen, weltweit auf allen Märkten präsent zu sein und über ihre Unternehmensgröße Marktbedeutung zu erlangen.

Unter diesem Aspekt sind beispielsweise die Meldungen zu betrachten, die der französische Software-Riese Cap Gemini in letzter Zeit verbreitete und die besagen, daß das Unternehmen in den nächsten Jahren auf eine Zahl von 25 000 Mitarbeitern kommen wolle. Ein ähnlich massives Wachstum wird auch von einer Reihe anderer europäischer und US-amerikanischer Häuser angepeilt. Die japanischen Software-Firmen, die bisher - im Gegensatz zu den Mikroelektronik-Firmen - ein eher bescheidenes Dasein fristen, rüsten sich gleichfalls mit entsprechenden Expansionsplänen für einen Sturm auf die Software-Bastionen Europas und der Vereinigten Staaten.

Für Nischenanbieter tun sich Chancen auf

Daneben werden aber auch in Zukunft kleine und mittlere Software-Anbieter ihre Möglichkeiten nutzen können; sie dürfen sich in Nischenmärkten gute Chancen erhoffen. Solche ökonomischen Nischen werden von einzelnen Branchen, Technologien oder Problemstellungen gebildet.

Die Anzahl der Software-Häuser dieser Größenordnung wird sicher in Zukunft nicht geringer werden, da der Umfang der Anwendungen und die Zahl ihrer DV-Lösungen auch weiterhin zunimmt. Demzufolge entstehen auch zukünftig immer neue Nischenmärkte. Wichtig ist jedoch für diese vergleichsweise kleinen Unternehmen, daß eine Marktpolitik betrieben wird, die eine Konzentration auf die Vorrangstellung im beherrschten Marktsegment erzeugt und zugleich eine Verzettelung der Aktivitäten vermeidet.

Schließlich ergeben sich auch für Kleinstanbieter weiterhin Existenz-Möglichkeiten, wenn sie auf regionaler oder lokaler Ebene Systemhaus-Funktionen wahrnehmen. Derartige Unternehmen werden sich - ihrer eigenen Größenordnung entsprechend - auf Kleinanwender, also Freiberufler, Handwerker, Einzelhändler oder kleinere, konzernungebundene Betriebe, ausrichten müssen, die den Nutzen eines fachkundigen Ansprechpartners unmittelbar vor Ort zu schätzen wissen. Hier liegt die Strategie also in der regionalen Beschränkung, die jedoch durch intensive persönliche Kontakte ein erhebliches Gewinnpotential bedeuten kann.

Standardprodukte versus Individual-Software

Eine Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung des Software-Marktes kann jedoch nicht angestellt werden, ohne auf grundlegende Entwicklungstendenzen der angebotenen Software und Dienstleistungen, einzugehen. Es stellt sich daher die Frage, wie die Software der nächsten Jahre aussehen wird, welche aktuellen Entwicklungen also zu erwarten sind.

Zunächst ist die Frage zu beantworten, ob eher der Standard- oder der Individual-Software die Zukunft gehört. Da auch zukünftig zu erwarten ist, daß die Software-Nachfrage zunehmen wird, werden sich viele Problemlösungen standardisieren lassen. Also wird sich die Standard-Software durchsetzen.

Eine Betrachtung der Wachstumsraten der Software-Anbieter über die vergangenen Jahre zeigt einen deutlichen Trend, daß nur diejenigen Firmen ein überdurchschnittliches Wachstum verbuchen konnten, die fertige Produkte am Markt plazieren konnten. Außerdem macht die derzeitige Diskussion um Standardisierung und Normung von Software deutlich, daß die Grundlagen für den verstärkten Einsatz der Standard-Software bereits gelegt werden.

Dennoch wird Individual-Software sicher nicht völlig an Bedeutung verlieren, gerade weil umfangreiche Problemlösungen eben nicht "von der Stange" zu kaufen sind. Außerdem muß immer wieder technologisches Neuland betreten werden. Dazu sind die Probleme einer Anpassung von Standard-Systemen an spezielle Problem-Situationen vielfach zu groß.

Weiterhin stellt sich in Zusammenhang mit einer Betrachtung der Software-Zukunft fast zwangsläufig die Frage, welches Betriebssystem künftig dominieren wird, denn davon hängt die Zukunft der Anwender-Software ab. Von Fachleuten wird immer wieder der Trend zu offenen Systemen propagiert, während andere die Chancen dafür eher skeptisch beurteilen. Die Zukunft wird - wie so oft - sicher weder der einen noch der anderen Meinung in vollem Umfang Recht geben.

Trend zu offenen Systemen setzt sich fort

Zum einen wird es auch zukünftig für spezielle Implementierungen proprietäre Betriebssysteme geben. Dies liegt allein schon im Interesse mächtiger Hersteller, die in ihrer eigenen Hemisphäre bessere Möglichkeiten zur Erzielung hoher Deckungsbeiträge sehen als auf den heiß umkämpften Märkten offener Systeme.

Dennoch wird sich der Trend zu herstellerunabhängigen Betriebssystemen - Stichwort Unix - fortsetzen, allein schon weil von Nachfragerseite, insbesondere aus dem öffentlichen Bereich, ein entsprechender Nachfragedruck aufgebaut wird. Viele Anwender sind es leid, sich in die Abhängigkeit eines einzigen Herstellers zu begeben. Attraktiv ist auch die Zielsetzung einer Integration der gesamten Informationsverarbeitung die offene Systeme geradezu voraussetzt.

Für die großen Software-Häuser, die - wie bereits gezeigt - Mengenwachstum bei gleichzeitigem Produktivitätsgewinn anstreben, wird die Frage nach effizienter Software-Entwicklung immer drängender. Hier können durchaus Vergleiche zu Serienfertigern anderer Industrien gezogen werden, denn die Entwicklung des Produktes Software verursacht erhebliche Kosten, deren Einfluß auf die Preisgestaltung von Standardprodukten wettbewerbsrelevant sind.

Dementsprechend wurde bereits vor geraumer Zeit die Idee einer Software-Fabrik geboren, ein Ansatz, der bereits vom Eureka-Forschungsprojekt unter dem Kürzel ESF (European Software Factory) in Angriff genommen wurde. Der grundlegende Ansatz besteht in der Vorstellung, ähnlich wie bei Produktionsprozessen anderer Industrien, eine weitgehende Standardisierung und Automatisierung der Software-Entwicklung unter Verwendung intelligenter Werkzeuge vorzusehen.

So wird sich der Trend zum Software-Einsatz für die Software-Entwicklung - mit dem Kürzel CASE (Computer Aided Software Engineering) bezeichnet - in den nächsten Jahren verstärkt durchsetzen, auch wenn der Weg bis zu einer kompletten Software-Fabrik noch dornenreich ist Aber auch hier deuten sich Vergleiche mit der Fertigung handhabbarer Werkstücke an, denn die CIM-Technologie, der gleichfalls ein gewaltiger Aufschwung in den nächsten Jahren prophezeit wird, hat derzeit noch erhebliche Probleme zu überwinden, bevor sie sich durchsetzt.

Werden Trends aufgezeigt, dann dürfen auch die jetzt schon erkennbaren Problembereiche nicht unerwähnt bleiben. So verursacht die Komplexität von Software-Systemen immer mehr Schwierigkeiten. Erhöhte technische Anforderungen, kompliziertere Problemstellungen, ehrgeizigere Zielsetzungen und bessere Software-Entwurfsmethoden führen zu immer komplizierteren Systemen, bei deren Einsatz die Risiken mitsteigen.

Weil Software in immer stärkerem Maße zur Steuerung, Regelung und Diagnose technischer Systeme eingesetzt wird, steigen auch die damit verbundenen Probleme. Hier steht die Gefahr im Raum, daß Systeme von Einzelnen nicht mehr überblickt werden können. Selbst die Steuerung der Abläufe wird zukünftig nicht mehr vom Menschen beeinflußt werden, weil - beispielsweise bei Expertensystemen - intern Kausalketten für Schlußfolgerungen aufgebaut werden.

Die absolut sichere Software kann bis heute - und sicher auch noch nicht so bald - niemand anbieten. Dennoch zwingen die mit dem Programm-Einsatz verbunden Gefahren, die Zuverlässigkeit deutlich zu erhöhen. Verstärkte Bestrebungen in diese Richtung sind auf Anwenderseite - insbesondere bei der öffentlichen Hand - durchaus zu erkennen.

Aber auch die System-Anforderungen an die Software nehmen zu. Für die Parallel-Verarbeitung bei zugleich immer schnelleren Prozessoren müssen die Voraussetzungen zur Steuerung dieser Prozesse erst geschaffen, also Software entwickelt werden. Bei solchen Veränderungen werden auch die geistigen Anforderungen an den Entwickler der Software weiterhin zunehmen. Diese Entwicklungszielrichtung, die unter dem Begriff "Künstliche Intelligenz" abgehandelt wird, kann das neue Jahrzehnt maßgeblich beeinflussen.

Auch wenn die euphorischen Erwartungen an die Techniken der künstlichen Intelligenz bisher bei weitem nicht erfüllt wurden, so ist dennoch zu erwarten, daß sie nach bisher nur bescheidenen Pilotanwendungen in nächster Zeit expandieren werden.

Viele analytisch oder numerisch nicht handhabbare Probleme sind erst mit den Verfahren Künstlichen Intelligenz in Angriff zu nehmen.

Insgesamt ist anzunehmen, daß die Software-Industrie in den nächsten Jahren zunehmendem wirtschaftlichen Druck ausgesetzt ist.

Dieser führt sicher zu einem Konzentrationsprozeß, der die derzeitige Vielschichtigkeit der Branche dezimieren wird. Dennoch bietet die Zukunft Chancen, die es nicht zu versäumen gilt.

*Jürgen Ropertz arbeitet als Referent beim Bundesverband deutscher Unternehmensberater, Bonn