Supply-Chain-Management/Wer trägt im Supply Net die Verantwortung?

Neue Dienstleister: Die Fourth Party Logistics Provider

08.12.2000
Elektronische Marktplätze und E-Procurement bedingen neue Geschäftsmodelle und -prozesse. Damit verbunden sind Fragen der Zuständigkeit für das Supply-Chain- Management. Riccardo Sperrle* leitet den Bedarf eines "Supply Net" ab und skizziert dessen Möglichkeiten als Fourth-Party-Logistics-Provider.

Bevor es das Internet und als dessen Folgeerscheinung Marktplätze gab, war der Aufbau einer Wertschöpfungskette und damit die Verteilung der Verantwortlichen ziemlich klar verteilt: Ein Kunde bestellt oder kauft etwas, der Hersteller oder Händler produziert beziehungsweise liefert die Waren, und die Lieferanten versorgen ihre Kunden mit den nötigen Rohstoffen. Jeder war für seinen Teil der Logistikkette verantwortlich, und jeder optimierte seinen Einflussbereich. Als Bindeglied operierten die Logistikdienstleister für den Materialfluss und die Banken für den Geldfluss. Der Informationsfluss war eher fragmentiert. Es gab und gibt immer noch das Telefon und das Fax, neueren Ursprungs sind der EDI-Datenaustausch, die E-Mail- und Shopping-Systeme.

Die Enterprise-Resource-Plannig-(ERP-)Systeme waren perfekt darauf abgestimmt, genau diese unternehmensinternen Geschäftsprozesse zu unterstützen. Die Aufträge gingen vom Vertrieb über die Auftragsbearbeitung (fortschrittliche Unternehmen haben ein Auftragszentrum), die Arbeitsvorbereitung, die Produktion und das Lager bis zum Versand. Man befand sich in einer klar definierten Umgebung.

Die Globalisierung beschleunigte die Einführung von Supply-Chain-Management in den Unternehmen. Die Planer verließen ihre Verliese in den Abteilungen und mussten fortan die Supply Chain über das gesamte Unternehmen hinweg koordinieren. Diese Planungssysteme begannen, die ERP- Systeme zu ergänzen, um die neuen Anforderungen abdecken zu können. Dazu gehören Prozesse wie Distributionsplanung, Multi-Plant Planning, ATP (Available to Promise) und vieles mehr. Nachdem die ersten Unternehmen begonnen hatten, ihre gesamte Supply Chain umzugestalten, stellten sie fest, dass die klassische Organisationsform den Ansprüchen nicht mehr gerecht wurde. Neue Formen bildeten sich heraus, Planungs- oder Supply-Chain-Teams übernehmen die Verantwortung. Sie sind in der Regel zusammengesetzt aus einem Bedarfsplaner, einem Produktionsplaner und einem Beschaffungsplaner. Dieses Team ist verantwortlich für die Steuerung der gesamten (innerbetrieblichen) Supply Chain. Der Vertrieb oder der Kunde nimmt Kontakt mit diesem Team auf und erhält alle Auskünfte zu einem Auftrag.

Obwohl dieses Modell für viele Unternehmen schon eine Revolution bedeutet, ist es noch vergleichsweise einfach umzusetzen. Warum? Noch befindet man sich in einem Unternehmen! Die juristische und fiskaltechnische Zuordnung ist gegeben. Viel komplizierter wird es in einem unternehmensübergreifenden Netz. Viele Marktteilnehmer sind in Echtzeit mit allen anderen verbunden. Damit stellt sich die Frage: Wer steuert das Netzwerk? Wer ist verantwortlich für Terminzusagen? Wer bezahlt gegebenenfalls die Pönalien? Wo ist der Sitz (juristisch und fiskalisch) des Verantwortlichen? All diese Fragen sind noch nicht beantwortet. Man denke nur an die Diskussion zum Thema Besteuerung von Käufen im Internet.

Beschleunigt wird die Entwicklung durch den Aufbau der elektronischen Marktplätze. Noch befinden wir uns in der Phase, in der die Infrastruktur gelegt wird. Man diskutiert darüber, welche Geschäftsarten über einen B-to-B-Marktplatz abgewickelt werden sollten. Die verbreitetsten Arten sind zur Zeit Schwarze Bretter, katalogbasierte Dienste, Börsen und Auktionen. Die Auftraggeber sind in der Regel Konsortien oder ähnliche Gebilde. Die Betreiber sind sehr unterschiedlicher Natur: angefangen bei separat gegründeten Gesellschaften über IT- und Telekommunikationsfirmen bis zu Branchenverbänden. Aber auch Logistikunternehmen fangen an, zusätzliche Services anzubieten. Allen gemeinsam ist, dass sie die IT-Infrastruktur zur Verfügung stellen. Was aber ist mit dem Material- und dem Geldfluss?

An wen wird bezahlt? Wer liefert? Wer hat die Verantwortung? Letztendlich stellt sich die Frage: Wer stellt den Supply-Net-Manager? Zur Zeit werden diese Funktionen noch von den Stärksten in einer Supply Chain erfüllt. Wer aber ist in Zukunft der Stärkste? VW oder Daimler-Chrysler, Metro oder Carrefour?

Diskutiert man mit den Betroffenen aus Handel, Industrie und IT-Branche, so scheint vieles auf einen Fourth Party Logistics Provider (4th PLP) hinauszulaufen. Dabei handelt es sich nicht nur um fortschrittliche Logistikdienstleister. Die gibt es heute schon. Hier geht es um eine ganz neue Art von Services. Die 4th PLP müssen neben einer exzellenten IT- und Beratungskompetenz auch in der Lage sein, das gesamte Netz operativ zu steuern. Die Teilnehmer an diesen Märkten müssen akzeptieren, dass diese Unternehmen Aufgaben erfüllen, die bisher zu den Kernfunktionen eines Unternehmens gehörten: Sie übernehmen die Planung! Nicht die strategische Planung, auch nicht die Standort- oder Portfolioplanung. Aber vieles, was im taktischen Bereich geplant werden muss, ist Sache dieser neuen Unternehmen: zum Beispiel die Transport-, die werksübergreifende Grobkapazitäts- und die Bestandsplanung.

Es ist zu vermuten, dass die jeweiligen Firmen oder Teilnehmer an einem Supply Net durchaus in mehreren Netzwerken mitwirken. Es wird ein Verbund von Supply Chains gesteuert und nicht ein Verbund von Unternehmen! Im Klartext bedeutet das, dass die Unternehmen entscheiden, woran sie teilnehmen. Die unternehmerische Freiheit bleibt bestehen. Nur für die Abwicklung wird die Verantwortung delegiert. Beispiel:

Der Kunde oder Verbraucher möchte etwas kaufen. Er klickt seinen bevorzugten Marktplatz oder Internet-Shop an. Das Sortiment beziehungsweise das angebotene Portfolio wird von den Einzelunternehmen festgelegt. Die Kaufplätze liegen schon in der Verantwortung von Dritten. Aber folgen wir unserem Kunden. Er wählt aus und möchte jetzt gerne wissen, wann, zu welchem Preis, in welcher Menge geliefert werden kann. Liegen die Waren in einem Distributions-Center, muss nur noch geklärt werden, mit welchem Transportmedium die Auslieferung erfolgt. Jetzt wird es schwierig. Der Betreiber eines Marktplatzes hat kaum einen Einfluss auf den Logistikdienstleister. Folglich kann er unserem Kunden auch nur mitteilen, wann die Lieferung bei ihm eintrifft. Neueste Erhebungen zum Thema Auslieferung für Güter, die über das Internet bestellt wurden, zeigen, dass in Deutschland jede vierte Lieferung falsch ist (zu spät, nicht vollständig etc.). Um diese Schwachpunkte zu beseitigen, muss der 4th PLP die Wertschöpfungskette komplett im Griff haben.

Sind die Güter nicht auf Lager, muss mit der Produktion abgeklärt werden, zu welchem Zeitpunkt die bestellten Waren fertig sind. Der Supply Net Head muss dann eine ATP-Prüfung vornehmen. Die Teilnehmer stellen die dafür erforderlichen Daten zur Verfügung. Gegebenenfalls müssen auch noch Zulieferungen geplant und geklärt werden. Und das alles unverzüglich. Denn die Kunden sitzen vor ihrem Bildschirm und warten auf eine Auftragsbestätigung. Diese Steuerungs- und Planungsfunktionen müssen in Zukunft Supply Net Heads erfüllen. Die dazu erforderlichen IT- und Kommunikationswerkzeuge sind vorhanden - die Barrieren in den Köpfen allerdings auch.

Auch wenn es diese Supply Net Heads noch nicht gibt, deutet die Entwicklung im Logistikumfeld darauf hin, dass einige der herausragenden Third Party Logistics Provider die Vorbereitungen für solch ein Serviceangebot treffen. Darüber hinaus sind Broker-ähnliche Gebilde vorstellbar. Also Firmen, die ausschließlich als neutrale Supply Net Heads arbeiten und sich auf die Planung von Supply Chains spezialisieren.

*Riccardo Sperrle ist Direktor Supply-Chain-Management und Logistics/Retail der Atos GmbH in Stuttgart.

Abb.1: Die Zukunft

Supply Net Heads werden sich erst noch herausbilden; doch heutige Third Party Logistics Provider bereiten sich schon darauf vor. Quelle: Atos Origin

Abb.2: Die Entwicklung

Für viele Unternehmen bereits eine Revolution, doch befindet man sich noch in einem Unternehmen. Quelle: Atos Origin