Nach langwierigen Management-Diskussionen Apple baut Taligent-Technik in Copland-Betriebssystem ein

23.12.1994

MUENCHEN (CW) - Die Version 8 des Mac-Betriebssystems wird fruehestens Ende und nicht wie angekuendigt Mitte 1995 auf den Markt kommen. Diese Verzoegerung nimmt das Topmanagement von Apple in Kauf, um das unter der Codebezeichnung "Copland" entwickelte Produkt mit den versprochenen Objekt- und Microkernel-Techniken von Taligent freizugeben. Ausserdem soll die Power-Mac-Hardware besser als bisher geplant unterstuetzt werden.

Rund 90 Prozent des Copland-Codes waren laut Apple bereits soweit fertiggestellt, dass sie von den Entwicklern nicht mehr angetastet werden durften. Die Entscheidung, die restlichen zehn Prozent nicht "einzufrieren", fiel nach langwierigen Diskussionen, so der britische Branchendienst "Computergram", weil die Einbindung von Taligent-Techniken als wichtiger Schritt in Richtung auf das angestrebte objektorientierte Microkernel-Betriebssystem der Zukunft gilt. Allerdings koennte die daraus resultierende Verzoegerung der Copland-Auslieferung Apple der Moeglichkeit berauben, Microsofts Desktop-Betriebssystem Windows 95 rechtzeitig Paroli zu bieten.

Nach der bisherigen Konzeption handelt es sich bei Copland um einen Technikmix, bei dem ein Single-Tasking-Betriebssystem auf dem Microkernel von Taligent aufsetzt, der Preemptive Multitasking unterstuetzt. Bei den fehlenden zehn Prozent vom Code geht es darum, durch eine enge Verbindung von System 8 mit dem darunterliegenden Taligent-Microkernel dieses preemptive Multitasking bereitzustellen. Das hat zur Folge, dass mehrerer Anwendungen gleichzeitig aktiv sein koennen. Dieses Feature ist um so wichtiger, als Windows 95 ebenfalls als echtes Multitasking- Betriebssystem angekuendigt ist.

Erst wenn mit Hilfe der Taligent-Anwendungsumgebung "Common Point" (frueher "TAL AE") eine Bruecke zwischen der Apple-Umgebung und Microkernel geschlagen ist, koennen Teile des Betriebssystems die Multitasking-Funktionen nutzen. Dazu gehoeren die Speicherverwaltung und das sogenannte Zeitscheibenverfahren, mit dem einzelnen Tasks CPU-Zeit zugeteilt wird. Profitieren koennen davon lediglich hardwarenahe Betriebssystem-Funktionen wie In- und Output-Operationen. Die volle Integration von Taligent-Techniken ist erst fuer das "Gershwin"-Betriebssystem geplant, das 1996 unter der Bezeichnung "System 9" auf den Markt kommen soll.

Schwierigkeiten hat Apple nach Informationen der CW- Schwesterpublikation "Computerworld" derzeit noch mit der Entscheidung, ob und welche 680x0-Plattformen man mit Copland unterstuetzen will. Offensichtlich gibt es im Unternehmen ein starke Fraktion, die dafuer stimmt, sich auf den Power-PC-Chip zu konzentrieren. Schon jetzt ist entschieden, dass das Betriebssystem nicht fuer Rechner mit den Motorola-Prozessoren 68010 und 68020 auf den Markt kommen wird.

Wesentliche Eigenschaften bei Copland und Gershwin

Copland 1995

Teamfaehigkeit, Mikrokernel, Preemptive Multitasking, Neue I/O- Architektur, Opendoc*

* Bei Opendoc handelt es sich um eine zusammen mit IBM, Xerox, Oracle und Wordperfect entwickelte Technik, mit deren Hilfe sich Programme in funktionale Module aufteilen und netzweit zu aufgabenspezifischen Anwendungen zusammenstellen lassen.

Gershwin 1996

Smart Agents**, Komplexe 3D-Grafik, Preemptive Multitasking, Voller Speicherschutz

** Smart Agents sind kleine Anwendungsmodule, die so lange inaktiv bleiben, bis sie durch vorher definierte Ereignisse aktiviert werden. Auf diese Weise kann zum Beispiel Overhead bei der Systemueberwachung vermieden werden.