Trafen Berliner Senat und Unternehmen Stillhalteabkommen?

Nach Jubelfeier: Nun streichst SEL die Jobs

27.11.1987

WEST-BERLIN (ih) - Nach der Berliner 75-Jahre-Feier kam für viele Arbeitnehmer die kalte Dusche. Entgegen aller bisherigen Zusagen soll es in Spree-Athen zu Massenentlassungen kommen. Den Anfang macht das West-Berliner Werk der Standard Elektrik Lorenz AG (SEL). Von den derzeit 2800 Mitarbeitern werden zunächst 600 entlassen. Siemens, DeTeWe und Telenorma werden in Bälde ebenfalls Kündigungen aussprechen.

Der Abbau von über 20 Prozent der Arbeitsplätze des Berliner Werks der Stuttgarter SEL soll im Februar nächsten Jahres beginnen. Nach Angaben des Unternehmens ist vorgesehen, im ersten Quartal 1988 etwa 300 Mitarbeiter zu entlassen. In den nächsten Quartalen werden ihnen dann jeweils weitere 100 Mitarbeiter folgen. Gewerkschaft und Betriebsräten stößt besonders sauer auf, daß in Berlin offensichtlich Staatsinteressen mit unternehmerischer Personalpolitik Hand in Hand gehen. "Unmittelbar nachdem der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) öffentlich eine uneingeschränkt positive Bilanz des Stadtjubiläums gezogen hatte", so der Landesbezirksvorsitzende des DGB, Michael Pagels, "gab Wirtschaftssenator Elmar Pieroth (CDU) die Entlassungen bei SEL bekannt." Dabei hatte Pieroth noch im Juni dieses Jahres während einer Betriebsversammlung der Firma versichert, daß der Belegschaftsstand von 3000 Mitarbeitern - entgegen allen Spekulationen - erhalten bleiben werde. Man munkelt deshalb in Berlin, daß einige Unternehmen für die Zeit der 750-Jahre-Feier "Stillhalteabkommen" über Kündigungen getroffen haben.

Als Verursacher für die Massenentlassungen nennt SEL die Deutsche Bundespost, die die Telefonvermittlung von mechanischen Relais auf digitale Übertragungstechnik umstellt. Die Herstellung der sehr

viel kleineren Digitalanlagen erfordere wesentlich weniger menschliche Arbeitskraft. Nach Auskunft von DGB-Vertretern, die die Schwierigkeiten bei dem Unternehmen nach eigenen Angaben bereits frühzeitig vorausgesagt hatten, ist auch in anderen Betrieben dieser Branche für die nächste Zeit der Abbau zahlreicher Arbeitsplätze abzusehen. Kündigungen aussprechen werden, erklärt DGB-Vertreter Pagels, die Berliner Werke der Siemens AG - hier sollen etwa 1000 Arbeitsplätze schwinden -, die Deutsche Telephonwerke und Kabelindustrie AG DeTeWe sowie die Telenorma. Es gilt nicht nur in Gewerkschaftskreisen als sicher, daß in diesem Winter an der Spree erstmals nach über 30 Jahren die "magische Grenze" von 100 000 Arbeitslosen wieder überschritten wird. Verunsichert sind auch die SEL-Mitarbeiter in Stuttgart.

Sie fürchten, so ein Betriebsratssprecher, daß allein in der "Außenmontage" jeder zweite seinen Arbeitsplatz verlieren wird. Das geschickte "Timing" der Entlassungen in Berlin hält SEL-Unternehmenssprecher Engelbert Totsche indes für puren Zufall. Allerdings bestätigt er, daß 1988 in Stuttgart ebenfalls Arbeitsplätze abgebaut werden.