Nach erheblichen Verzoegerungen Interaktives Fernsehen von Time Warner und von Silicon Graphics

06.01.1995

MUENCHEN (CW) - Es sollte das Vorzeigeobjekt fuer die Multimedia- Gemeinde werden. In Orlando, Florida, wollten die Visionaere zukuenftiger Medienlandschaften Geschichte schreiben: Im Schulterschluss setzten Computerhersteller mit Fernsehexperten sowie Netz- und Kabelanbietern zum Sprung ins naechste Jahrtausend an. Nun ist es nur ein kurzer Huepfer geworden - richtungsweisend ins multimediale Zeitalter ist er trotzdem.

Gemeinsam planten Time Warner Cable, Tochter des weltweit groessten Medienkonzerns Time Warner und zweitgroesster US-amerikanischer Kabel-TV-Betreiber, und die Silicon Graphics Inc. (SGI) den medialen Supercoup: 4000 Haushalte sollten mit einem interaktiven TV-System beglueckt werden. Neben den normalen Fernsehprogrammen koennen sich an den Info-Highway angekoppelte Benutzer Filme von Video-Servern herunterladen, Videospiele empfangen und Bestellungen in lokalen Einkaufszentren aufgeben.

Wegen technischer Probleme musste der Startschuss fuer das ambitionierte Projekt vom Fruehjahr 1994 auf den Sommer und dann auf die Jahreswende verschoben werden. Brancheninsider fuehrten zunaechst die zu knapp kalkulierte Rechenleistung der SGI-Server sowie zu kleine Speichersilos als Entschuldigung fuer die Verspaetungen an. Offensichtlich hatten die Verantwortlichen doch unterschaetzt, welche gigantischen Datenmassen zu bewegen sind, wenn komplette Hollywoodstreifen in gewohnter Qualitaet digitalisiert ueber das Kabel geschoben werden.

Da die Hardwarekomponenten aber ohnehin auf spaetere Ausbauoptionen ausgerichtet sind, duerfte die mangelnde Leistungsfaehigkeit von Rechnern und Speichern nicht das entscheidende Problem gewesen sein. In der Tat lautete die offizielle Erklaerung fuer die Anlaufschwierigkeiten dann auch, man habe an der zugrundeliegenden Systemsoftware sowie den sogenannten Set-top-Boxen feilen muessen, um diese fuer den Einsatz tauglich zu machen. Bezeichnend auch eine weitere Aussage von SGI: Mit dem Orlando-Projekt habe man ein dermassen ungewohntes Terrain betreten, dass man auf viele in der Praxis auftretende Fragen technischer Art ueberhaupt nicht vorbereitet gewesen sei - ein Schicksal, das wohl allen Avantgardisten zuteil wird.

Am 14. Dezember 1994 war es aber endlich soweit: Das "Full Service Network" (FSN), das digitale, interaktive Breitbandkommunikationsnetz, ging auf Sendung - doch gerade mal fuenf statt der anvisierten 4000 Abonnenten wollten sich in Florida die digitale Rundumversorgung eine schoene Stange Geldes kosten lassen. Immerhin gilt es, rund 1000 Dollar Grundkosten zu berappen, um sich eine Installation ins Haus zu schaffen, deren Mehrwert noch nicht ausgemacht ist. Selbstverstaendlich berechnen die Betreiber des Orlando-Projekts zusaetzlich pro bestellten Film extra - ungefaehr in Hoehe der Kosten, die im normalen Videoverleih auch anfallen.

Neben Dienstleistungen wie Video on demand kann sich die kleine Gruppe von Superfernsehern auch Spiele auf den heimischen TV holen oder per virtuellem Einkaufsbummel auf Home-Shopping-Tour gehen. Abgerechnet wird ueber die gewohnte Kreditkarte.

Spaeter erst reicht Time Warner den Testhaushalten Futter fuer die grauen Gehirnzellen nach: Dann naemlich koennen sich die Teilnehmer ein Potpourri aus Nachrichten sowie Aus- und Weiterbildungsprogrammen zusammenstellen, das sich mit Sport- und Musiksendungen garnieren laesst.

Als Schnupperversionen konnte die Oeffentlichkeit diese Dienste anlaesslich des Stapellaufs des Orlando-Projektes allerdings schon sehen.

Unter der Federfuehrung von Time Warner Cable entwickelten in erster Linie SGI, AT&T und Scientific-Atlanta die Kernelemente der einzelnen Technologiekomponenten fuer das FSN-System. AT&T lieferte die Hochgeschwindigkeits-Switching-Technologie auf Basis des Transportprotokolls Asynchronous Transfer Mode (ATM). Sie ist dafuer zustaendig, die hochvolumigen Datenstroeme, deren Formate voellig unterschiedlich sind (Video, Audio, Grafik, Text), von den Servern in der Informationszentrale mit der notwendigen Geschwindigkeit auf die richtigen Kanaele zu schalten und via Glasfaser bis zu sogenannten Nachbarschaftsknoten zu transportieren. Von dort geht die Fahrt weiter ueber klassische Koax-Kabel zu den Endteilnehmern (vgl. Abbildung 1).

Scientific-Atlanta entwarf in Zusammenarbeit mit Toshiba das Set- top-Geraet oder Home-Communications-Terminal (HCT). Erst mit diesem wird das tumbe TV-Geraet zum "intelligenten" Terminal. Das HCT ist die Schnittstelle zwischen der zappenden Couch-potatoe und den Media-Servern von SGI. Es empfaengt die nach dem MPEG-2-Standard komprimierten Daten, dekomprimiert sie wieder und wandelt sie in fuer Fernseher verstaendliche Analogsignale um. Das HCT leitet zudem die ueber die Fernbedienung abgesandten Orders zurueck an die Zentrale, die Time Warner als Head End Server Complex bezeichnet (vgl. Abbildung 2).

SGI wiederum lieferte zum einen acht Multiprozessor-Server der "Challenge-XL"-Familie. Jeder der Rechner laesst sich auf bis zu 36 RISC-Prozessoren R4400 (200 Megahertz Taktrate) von der Mips Technologies Inc. mit maximal 16 GB Arbeitsspeicher sowie bis zu 3 TB Massenspeicher ausbauen. Ausserdem steuerte SGI das um Echtzeitkomponenten erweiterte Unix-Betriebssystem-Derivat "Irix" bei.

Zudem zeichnet der Grafik- und Workstation-Spezialist verantwortlich fuer die in 2D/3D-Technologie ausgelegte Benutzeroberflaeche, ueber die die Abonnenten des Orlando-Projektes sich durch die Einkaufs-, Filmangebots- oder Spielewelt bewegen. Auch die Video-on-demand-Applikation strickte SGI.

Ob Orlando als Wegweiser in eine neue Mediengesellschaft taugt, wird erst die Zukunft zeigen koennen. Zunaechst ist die Zahl zugeschalteter Teilnehmer noch viel zu gering, um Aussagen ueber die Funktionstuechtigkeit des Systems zuzulassen. Ausserdem sind die beteiligten Unternehmen etwas vorsichtiger geworden: Die Belastbarkeit des FSN-Systems plane man fuer die Zukunft so "konservativ", dass bei 4000 Teilnehmern 1000 gleichzeitig mit Video-on-demand-Diensten versorgt werden koennen.

SGI-Chef Ed McCracken bekannte in einem Gespraech mit der CW, bis zur flaechendeckenden Installation solcher Systeme wuerden mindestens noch acht bis zehn Jahre vergehen. Trotzdem beschreiten weitere Unternehmen den digitalen Medienpfad: In Omaha, Nebraska, will der Telefonkonzern US West ein Interactive-TV-Projekt in 2500 Heimen aufziehen.

Aehnliche Projekte testen Viacom und AT&T gemeinsam im kalifornischen Castro Valley und die Southwestern Bell Corp. und Microsoft in Richardson, Texas.

An dem texanischen Fall laesst sich uebrigens auch der Trend zu branchenuebergreifenden Kooperationen exemplarisch aufzeigen: Ein Spezialist fuer PC-Software entwickelt mit einer Telefongesellschaft ein interaktives Video-on-demand-Verfahren. Als Systemintegrator gesellt sich mit der Lockheed Corp. ein Ruestungskonzern hinzu, der - wie die beiden Partner - mit dem Richardson-Projekt seinen Einstand im Multimedia-Markt gibt.