Unternehmenssteuerung/Prozeßmodellierungswerkzeuge müssen aus ihrer Nische heraus

Nach 2000 und Euro müssen Anwendungen neu geplant werden

25.06.1999
Zwischen der Gewinnung von Information und deren sinnvoller Nutzung vergeht in den Unternehmen sehr viel Zeit. Die Software-Anbieter vollbringen derzeit eine Reihe von Klimmzügen, um den Anwendern unterstützend zur Seite zu stehen. Für die CW sprach Achim Born* mit dem Analysten Helmuth Gümbel von Strategy Partners International über den derzeitigen Trend.

CW: Das Etikett "Software zur Steuerung und Planung von Unternehmensprozessen" heften sich Anbieter allzu gern ans Revers. Gibt es darunter auch taugliche Ansätze?

Gümbel: Es wäre vermessen, die Anstrengungen der Anbieter vollständig zu negieren. Aber Stand heute muß ich mit einem eindeutigen Nein antworten. Außerdem sollte man sich nicht durch englische Begrifflichkeiten die Augen verkleistern lassen. Beispielsweise haben Enterprise-Resource-Planning-(ERP-)Systeme trotz des "P" absolut nichts mit Planung zu schaffen. Sie stellen ausschließlich die Infrastruktur der Transaktionsverarbeitung.

CW: Versprechen neuere Ansätze wie etwa für das Supply-Chain-Management oder zur Vertriebssteuerung hier eine größere Hilfe?

Gümbel: Nur bedingt. Diese Ansätze lösen sicherlich Schwächen heutiger ERP-Systeme. Das ist ja der Grund, warum sich die führenden ERP-Anbieter hier engagieren. Aber auch diese Ansätze sind zu sehr der Umsetzung verhaftet und bieten zuwenig für die strategische Unternehmensplanung und -steuerung.

CW: Das klingt, als wenn Sie der guten alten Zeit der Management-Informationssysteme (MIS) nachtrauerten?

Gümbel: Nein. Erstens war die Zeit nicht gut, und zweitens boten diese Systeme allenfalls Grafiken ohne Einflußmöglichkeiten. Was der Entscheider erwartet, sind jedoch Steuerungsmöglichkeiten. Er braucht ein Tool, das ihm aufzeigt, was passiert, wenn er Parameter verändert: Welche Prozesse sind tangiert, was kostet eine Umstrukturierung, welchen Zeitvorteil kann ich realisieren?

CW: Berater etwa von der Gartner Group prophezeiten deshalb schon vor fünf Jahren, daß sich Modellierungswerkzeuge auf breiter Front durchsetzen werden. Wiederholen Sie damit nicht nur die damalige These?

Gümbel: Ohne ein solches Werkzeug sind Unternehmen kaum noch in der Lage, ihre Organisation transparent und flexibel zu alten. Geschäftsprozesse ändern sich heute schneller, als man Organisationshandbücher drucken kann. Zum anderen bilden Prozesse das Bindeglied zwischen allen Beteiligten - der Unternehmensleitung, internen Benutzern beziehungsweise Fachabteilungen und externen Beziehungen. Die Modellierungswerkzeuge haben sich in der Nische "Fachabteilung" festgebissen, wo sie keinen zusätzlichen Nutzen bringen. Welcher Prozeßmodellierer wird schon bei strategischen Unternehmensentscheidungen hinzugezogen?

CW: Wofür werden Modellierungswerkzeuge denn heute eingesetzt?

Gümbel: Die heute auf dem Markt befindlichen Tools unterstützen den Entwurf von Prozessen und deren Implementierung in geeigneter Software. Das Gewicht liegt auf der Umsetzung. Um einen höheren Wert zu erzielen, müßten Prozeßmodellierungs-Tools aber stärker die Ideen- und Entscheidungsfindung im Management unterstützen.

CW: Wo läge der Nutzen?

Gümbel: Die meisten Unternehmen haben das Problem, daß sie von der Entscheidungsfindung bis zur Implementierung der notwendigen Software-Unterstützung zuviel Zeit brauchen. Diese Zeitspanne läßt sich verkürzen, wenn man die Entscheidungsvalidierung als Vorstufe der Modellierung versteht und die Werkzeuge früher ins Spiel bringt. Ziel ist eine ganzheitliche Unterstützung des Change Management.

CW: Welche Funktionen müßten denn Werkzeuge für ein solches Business Process Re-Engineering (BPR) bieten?

Gümbel: Ich sehe Anforderungen in zwei Richtungen: Zum einen müßten sie die Prozeßeffizienz anhand von Geschäfts- und Marktdaten überwachen und beispielsweise signalisieren, wenn der Mitbewerb mehr Produkte in kürzerer Zeit auf den Markt bringt. Als Folge davon wird dann der Produktentwicklungsprozeß analysiert. Zum anderen könnten diese Tools auch Entscheidungsanstöße generieren, weil automatisch etwa Marketing- und Verkaufsprozesse hinterfragt werden.

CW: Sehen Sie denn schon Anbieter, die diesen beiden Richtungen folgen?

Gümbel: Nein. In letzter Konsequenz müßte es ein Warnsystem geben, das ständig die Branche und das Umfeld beobachtet. Aus kritischen Veränderungen muß ein solches System die notwendigen Prozeßimpulse ableiten, den Blick quasi auf die im eigenen Unternehmen betroffenen Prozesse lenken.

CW: Sind Prozeßmonitorsysteme oder Data-Minining-Werkzeuge für diese Aufgaben geeignet?

Gümbel: Das sind alles brauchbare Ansätze. Sie bieten aber zuwenig Funktionalität oder sind ausschließlich nach innen gerichtet. Es gibt noch kein Werkzeug, das zuverlässig Unternehmenskennzahlen, bezogen auf die Prozesse, abbildet. Balanced Scorecards etc. führen dahin, aber nicht mehr. Die Brücke von der Einsicht, etwas tun zu müssen hin zur Prozeßgestaltung, muß erst noch gebaut werden.

CW: Zum Bauen von Lösungen lassen sich Prozeßmodellierungs-Tools aber heranziehen. Glauben Sie, daß Vorstände und Geschäftsführer überhaupt mit einem Modellierungswerkzeug wie beispielsweise "Aris" von IDS Scheer arbeiten?

Gümbel: Zur Zeit nicht. Das Top-Management ist heute noch eine BPR-Tool-freie Zone. In ihrer bisherigen Ausprägung haben wir es mit einem Werkzeug zu tun, das sich für Organisatoren und Prozeßdesigner eignet.

CW: Was fehlt den heutigen BPR-Werkzeugen noch?

Gümbel: BPR-Tools müssen eine Hilfe für die durchgängige Implementierung der Unternehmensstrategien auf allen Ebenen bieten. Mit der entsprechenden Funktionalität und einer ansprechenden Bedienoberfläche werden sie dann schnell eine größere Akzeptanz des Managements erreichen.

CW: Die ERP-Anbieter versuchen hier doch mit eigenen Lösungen mitzumischen. Beispielsweise hat SAP im Rahmen der Initiative "Strategic Management Enterprise" (SEM) das "Management-Cockpit" vorgestellt.

Gümbel: Das stimmt. Aber wenn Sie dieses Instrument genauer betrachten, werden Sie feststellen, daß Sie damit heute nicht viel mehr machen können, als schöne Grafiken erstellen.

Das Management benötigt ein Tool, das ihm die Veränderungen seiner Entscheidungen aufzeigt. Die Visualisierung muß dabei auf echten, ad hoc auswertbaren Daten beruhen. Ebenso bedarf es Steuerungsinstrumente, die eine möglichst direkte Umsetzung der Strategien ermöglichen. Entsprechend aufgewertete BPR-Tools können also eine wirkliche Hilfe sein, weil sie alle wichtigen Daten über die Geschäftsprozesse kennen und die erforderliche Implementierungsunterstützung liefern.

CW: Wie bewerten Sie denn Ansätze der SAP-Konkurrenz wie Peoplesofts "Business Performance Management" oder J.D. Edwards "Activ Era"?

Gümbel: Der Ansatz von J.D. Edwards schneidet im Vergleich zu SAPs SEM besser ab, da man beliebige Untersysteme integrieren kann. Die Tauglichkeit muß sich aber noch in der Praxis erweisen. Die Peoplesoft-Lösung kenne ich noch nicht.

CW: Besteht bei diesen Ansätzen nicht die Gefahr, daß man denkt, man könnte per Knopfdruck die richtige Entscheidung treffen?

Gümbel: Ein solches Instrument ersetzt natürlich nicht den kreativen Teil der Unternehmensführung. Es verbessert aber die Systematik der Umsetzung. Es kann die Lücke wenigstens zum Teil schließen, die heute zwischen der Gewinnung von Information und ihrer Umsetzung klafft. Außerdem trägt es der Tatsache Rechnung, daß der Veränderungsdruck steigt und sich gleichzeitig auch das Volumen der Informationen dramatisch erhöht.

CW: Läßt sich denn mit den heutigen Systemen und Technologien den von Ihnen genannten Aufgaben gerecht werden?

Gümbel: Wir befinden uns in einer Übergangsphase. Das Jahr-2000-Problem und die Euro-Einführung binden Kapazitäten bei Anwender und Anbieter. Diese beiden Aufgaben lassen oftmals die Taktik über die Strategie dominieren. Gleichzeitig wird die Anwendungswelt von einer riesigen Technologiewelle erfaßt. 64 Bit erlauben es, große Datenmengen resident im Hauptspeicher zu halten; das Internet realisiert grenzenlose Kommunikation und, und, und. Kurz: Wissenschaftliche Methoden ersetzen in Planungsprozessen zunehmend die Intuition, und der Zufall wird durch Echtzeitkommunikation ersetzt. Ich bin deshalb fest davon überzeugt, wenn erst einmal das Jahr-2000-Problem gelöst und der Euro eingeführt sind, müssen viele Anwendungsinstallationen neu geplant werden, damit sie betriebswirtschaftlich sinnvoll werden.

CW: Welche neuen Anforderungen kommen denn auf die Anbieter von Standardanwendungssoftware zu?

Gümbel: Anbieter klassischer ERP-Lösungen standen und stehen teilweise noch vor einem Dilemma. Sie müssen ihren Anwendern den Weg in das neue Jahrtausend und ins Euro-Land ebnen, während wichtige Weiterentwicklungen wie die Unterstützung virtueller Unternehmensstrukturen oder E-Commerce vernachlässigt werden mußten.

Im kommenden Jahr beginnen sicherlich viele Unternehmen, ihre IT-Projekte hinsichtlich des betriebswirtschaftlichen Beitrags zum Unternehmenserfolg zu bewerten. Es ist dann nicht ausgemacht, daß das Hauptaugenmerk künftiger Anstrengungen auf den ERP-Systemen liegt. Ich persönlich rechne aber damit, daß zukünftig stärker in SFA- und E-Commerce-Lösungen investiert wird.

CW: Können diese Lösungen nicht auch von den ERP-Anbietern stammen?

Gümbel: Natürlich. Aber sie müssen erst einmal in ihrer Entwicklung soweit sein. Die Nachrichten aus dem CRM-Umfeld der SAP sind - gelinde ausgedrückt - wenig positiv. Außerdem werden wir nie in die Situation kommen, daß ein Anbieter sämtliche Unternehmensbelange abdecken kann.

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Enterprise-Resource-Planning(ERP-)Systeme haben trotz des "P" nichts mit Planung zu schaffen. Sie stellen ausschließlich die Infrastruktur der Transaktionsverarbeitung, wie Analyst Gümbel konstatiert. Auch Ansätze wie etwa für das Supply-Chain-Management lösen Schwächen heutiger ERP-Systeme auch nur bedingt, denn auch sie sind zu sehr der Umsetzung verhaftet.