Multimedia/Eine Branche im Umbruch Aus Druckereien werden bald Multimedia-Hersteller

06.10.1995

Von Franz Miller*

Online und Multimedia sind die Zauberworte, die ganze Industriebranchen in Aufruhr versetzen. Viele Betriebe der grafischen Industrie stehen ziemlich verunsichert vor dem abfahrenden Zug. Soll ich mit? Wie schaffe ich den Aufsprung - schnell und kostenguenstig? Ein Medienzentrum in Stuttgart will nun auch kleinen und mittleren Firmen den Einstieg erleichtern und sie auf dem Weg in die multimediale Zukunft begleiten.

Das Buch, die Zeitung, das Magazin, die Werbebroschuere, der Katalog - alles, was bisher gedruckt wurde, bekommt Stueck fuer Stueck elektronische Konkurrenz. Lexika, die bisher einen ganzen Wohnzimmerschrank fuellen konnten, passen auf wenige CDs. Zeitschriften kommen ueber Datennetze ins Haus, wohl bald auch Werbebroschueren. Ein Ende der Papierflut heisst das aber noch lange nicht. Das Electronic Publishing wird die herkoemmlichen Druckwerke vorerst nur ergaenzen, ganz wenige ersetzen, aber zunehmend immer mehr Marktanteile gewinnen.

Computer als Universalwerkzeug

Auf jeden Fall wird das Informations- und Kommunikationsgeschaeft in Zukunft neu verteilt werden. Der weitreichende Wandel wird stimuliert von technischen Innovationen, aufgrund derer sich die Verlage, Druckindustrie und das grafische Gewerbe radikal veraendern werden. Die Propheten der neuen Multimedien greifen ganz hoch und vergleichen die Umwaelzungen mit der Erfindung des Buchdrucks. Viele traditionelle Berufe, die seit Gutenberg das Druckhandwerk praegten, werden verschwinden. Wie der Fotosatz den Setzer ueberfluessig machte, wird die digitale Bildbearbeitung den Lithografen abloesen.

Die digitale Revolution verwandelt die traditionsreiche schwarze Zunft in einen High-Tech-Betrieb. Digitaldruck unterscheidet sich grundsaetzlich von den klassischen Verfahren wie Hochdruck, Tiefdruck oder Offset und bedeutet Drucken ohne Filme und Platten. Universalwerkzeug wird der Computer, der die Daten direkt in die Druckmaschine gibt.

Schon tauchen erste digitale Druckmaschinen auf, die ohne feste Druckformen auskommen und kleine Auflagen muehelos bewaeltigen. Selbst fuer Grossauflagen kuendigen sich vielversprechende Rotationsverfahren an. Voraussetzung fuer diese Revolution ist eine durchgehende digitale Prozessstrecke.

Weil ein einheitlicher Uebergang zu den Druckmaschinen fehlte, entwickelte das Fraunhofer-Institut fuer Graphische Datenverarbeitung IGD mit 16 namhaften Unternehmen der Druckbranche ein herstellerneutrales "Print Production Format". Damit lassen sich Werte fuer Layout, Satz, Farbeinstellungen, Schneide- und Falzmarken direkt uebernehmen und muessen nicht jeweils neu eingegeben werden.

Da mit Computersatz und digitaler Bildverarbeitung immer groessere Teile der Druckvorstufe von neuen Dienstleistern uebernommen wurden, fuerchten viele Druckereien eine Reduzierung auf den reinen Druckvorgang.

Allerdings geht es jetzt nicht nur darum, sich diese Vorstufe wieder zurueckzuerobern, sondern sich ein voellig neues Geschaeftsfeld zu eroeffnen. Auf den Multimedia-Markt draengen naemlich die unterschiedlichsten Branchen. Die Grenzen zwischen Softwareherstellern, Hardware-Anbietern, Druck- und Verlagsunternehmen, grafischen Betrieben und Telekommunikationsanbietern verschwimmen. Wer stellt die neuen Produkte her? Das ist die Frage.

Immer mehr Druckunternehmen sehen lukrative Felle davonschwimmen und wollen parallel zum Stammgeschaeft Druck ein zweites Geschaeftsfeld Multimedia aufbauen. Warum? "Sie haben die Kunden und wollen sie nicht verlieren", begruendet Peter Hermes vom Fraunhofer-Institut fuer Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart den Anspruch. "Die Kunden aber wuenschen immer haeufiger nicht nur eine gedruckte Form des Geschaeftsberichts, der Firmenbroschuere oder des Warenkatalogs, sondern auch elektronische Versionen auf CD-ROM und die Installation auf Online-Datennetze. Und am liebsten alles aus einer Hand."

Ein Komplett-Service verspricht erhebliche Rationalisierungseffekte. Die moderne Informationstechnik hat fuer alle Medien die gleiche Basis geschaffen, naemlich Bits. Sind Text, Bild, Video und Ton einmal digitalisiert, koennen sie in verschiedenen Medien montiert werden. Und es ist egal, ob sie ausgedruckt, auf CD gepresst oder ins Internet gespeist werden.

Weil ueber Multimedia-Produkte viele phantastische Erwartungen kursieren, aber wenige konkrete Erfahrungen vorliegen, wurde das Fraunhofer-Institut fuer Arbeitswirtschaft und Organisation IAO von der grafischen Industrie bedraengt, ein komplett ausgestattetes Medienzentrum einzurichten, in dem auch kleine und mittlere Betriebe - ueber 80 Prozent der Druckereibetriebe haben weniger als zehn Mitarbeiter - die Technik kennenlernen und Multimedia- Prototypen herstellen koennen. Erst dann koennten sie entscheiden, ob, wann, in welcher Form und mit welchem Aufwand sie einsteigen werden.

Fuer die Druckindustrie ist der Einstieg in Multimedia eine grosse Herausforderung. Zum einen haben die Techniken des elektronischen Publizierens nicht das geringste gemein mit der traditionellen Drucktechnik - hier klafft eine schwer ueberbrueckbare Know-how- Luecke. Zum anderen muss sich der Charakter der Druckunternehmen von einer bisher eher ausfuehrenden Grundstruktur um 180 Grad drehen zum aktiven Medienentwickler.

Die Druckindustrie leidet seit Jahren an Ueberkapazitaeten und muss gleichzeitig an drei Fronten kaempfen: Erstens das Stammgeschaeft optimieren und rationalisieren, zweitens ein neues Multimedia- Geschaeftsfeld aufbauen und dafuer neue Organisationsstrukturen entwickeln und drittens sich viel enger als bisher mit den Kunden vernetzen.

Keine effiziente Planungsinstrumente

"Im Vergleich zum Maschinenbau liegen in der Druckindustrie noch erhebliche Rationalisierungspotentiale in der Organisation der Geschaeftsablaeufe", schildert Peter Hermes die Defizite. Oft herrsche ein merkwuerdiger Gegensatz zwischen Hochtechnologie bei den Druckmaschinen und Rueckstaendigkeit in der Planung.

Obwohl gerade beim Druck Umplanungen und Stoerungen sehr haeufig sind, gibt es keine effizienten Planungsinstrumente. Dies zeigen die Untersuchungen fuer "Printplan". In dem von der EU gefoerderten Projekt entwickelt das IAO gemeinsam mit sieben Druckereien aus Deutschland, Oesterreich und Frankreich in Anlehnung an Produktionsbetriebe einen Leitstand fuer das Druckgewerbe.

Effektivere und flexiblere Ablaeufe

Eine grafische Plantafel, die mit den elektronischen Werkzeugen verbunden ist, soll helfen, die Ablaeufe effektiver und flexibler zu gestalten. Zentral wird dann nur noch ein Planungsrahmen aufgestellt, der von den einzelnen Abteilungen mit eigenen Details gefuellt wird. Frueher war der Planungsprozess zentral und schwerfaellig, in Zukunft soll er flexibel und dezentral werden. Solche dezentralen Organisationsstrukturen werden in einem weiteren Forschungsprojekt namens Co-Druck mit insgesamt sieben Druckereien und fuenf Softwarehaeusern entwickelt.

Basis jeder modernen Organisation sind Computer. Sie finden ihren Weg aber erst langsam in die handwerklich gepraegten Druckereien. Ein wichtiger Hinderungsgrund ist sicher, dass viele Betriebe schon bei der Auswahl der Branchensoftware ueberfordert sind, ganz zu schweigen von der effektiven Nutzung.

Das IAO hat versucht, durch eine Studie den internationalen Markt fuer Branchensoftware transparent zu machen. Auf dieser breiten Basis kann das IAO sowohl die Anwender bei der Auswahl unterstuetzen, wie auch die Hersteller bei der Verbesserung ihrer Softwareprodukte.

Ohne komplexe und flexible Planungsinstrumente wird der Weg zur Multimedia-Welt nicht gangbar sein.

Viele Personen werden gleichzeitig an den Produkten arbeiten. Wer kann das koordinieren? Wer Arbeitszeiten und Preis kalkulieren? Welche Fachleute muessen einbezogen werden?

Daher geht das Medienzentrum in Stuttgart mit ganzheitlichem Ansatz an die Problematik heran und bietet das gesamte Dienstleistungsspektrum an. Es beginnt bei speziellen Marktstudien, Bedarfsanalysen, Best-Practice-Untersuchungen, Organisationskonzepten, Beratung und Controlling.

Im Mittelpunkt des Medienzentrums steht der gesamte Prozess einer Multimedia-Produktion. Die erste Modulgruppe Autoren-, Video-, Audio- und Animationsstudio liefert die Rohstoffe, die zweite Gruppe Desktop Publishing, Image Studio und Media Engineering verarbeitet die Bild-, Text- und Tondokumente. Die letzte Gruppe schliesslich gibt aus, auf Papier, CD-ROM oder ins Datennetz. "Als Prototypen bauen wir gerade mit sieben Druckunternehmen elektronische Broschueren", berichtet Fraunhofer-Mitarbeiter Martin Delp.

Eindrucksvoll ist auch das Muster eines elektronischen Warenkatalogs, mit dem Aussendienstmitarbeiter beim Kunden die Produkte vorfuehren und Bestellungen entgegennehmen koennen. Solche Praesentationen, das beweisen viele Beispiele, kommen bei den Kunden sehr gut an.

Multimedia-Produkte werden nur dann zur Konkurrenz fuer die Druckwerke, wenn der Zusatznutzen hoeher ist als der Umstellungsaufwand. Die Dinosaurier aus Papier sind noch quicklebendig, weil technisch und optisch ausgefeilt, einfach zu benutzen, problemlos mitnehmbar und preiswert. Was kann die Zeitung am Fruehstueckstisch, den Krimi im Bett oder das Magazin am Strand ersetzen? Noch ist die Elektronik unhandlich, verursacht Augenschmerzen, Sitzbeschwerden und Konzentrationsstoerungen. Noch sind die Multimedia-Produkte weit entfernt von den Versprechungen. Doch einige gelungene Beispiele lassen die phantastischen Moeglichkeiten erahnen. Die Kombination von Bild, Ton und Text ist konkurrenzlos, vor allem aber die Interaktivitaet. Der Nutzer bleibt nicht passiver Leser oder Seher, sondern wird aktiver Gestalter. Er wird nicht von einem unueberschaubaren Informationsangebot belaestigt, sondern nutzt nur das, was er braucht. Er schafft sein Medium, seine Zeitung, sein Magazin, seinen Warenkatalog selbst. Aber die Multimedia-Industrie muss den digitalen Baukasten dafuer liefern.

* Franz Miller ist Redakteur bei der Fraunhofer-Gesellschaft in Muenchen.