Die hohen Lebenshaltungskosten schrecken nicht ab

München bleibt weiterhin das "Eldorado" für DV-Spezialisten

29.11.1991

MÜNCHEN (hk) - Wenn es darum geht, München als DV-Arbeitsmarkt einzuschätzen, sind sie sich alle - Arbeitsberater, Headhunter, Personaler - einig: München ist Standort Nr. 1 in Deutschland. Selbst die hohen Lebenshaltungskosten schrecken nicht ab.

Ausdrücke wie Silicon Valley Deutschlands, Eldorado für DV-Spezialsten fallen nach wie vor, wenn vom Münchner DV-Arbeitsmarkt die Rede ist. Und das in einer Zeit, in der die Hardwarehersteller Mitarbeiter entlassen und kleine Softwarehäuser von großen geschluckt werden. Im Moment, das bestätigt eine jüngst veröffentlichte Zahl der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) in Frankfurt, ist sowieso nur auf die Anwender einigermaßen Verlaß.

Die Frankfurter Berater haben nämlich errechnet, daß bereits 87 Prozent der DV-Spezialisten bei Anwendern in Industrie und Dienstleistung beschäftigt sind. Die restlichen 13 Prozent teilen sich die Softwarehäuser und Hardwarehersteller.

In erster Linie der hohe Freizeitwert und die positiven Karriereaussichten locken trotz hoher Lebenshaltungskosten die DV-Profis an die Isar. Selbst Bewerber aus dem deutschsprachigen Ausland sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Aber auch die hohe Dichte an Softwarehäusern, DV-Anwendern und Computerherstellern trägt wesentlich dazu bei, daß sich Informatikexperten überlegen, in der bayerischen Hauptstadt ihre Zelte aufzuschlagen.

Über die Lebenshaltungskosten werde beim Vorstellungsgespräch immer diskutiert, bestätigen unisono diejenigen, die beim Personal das Sagen haben. Lotus-Personalchefin Birgid Redlich hat die Erfahrung gemacht, daß die hohen Mieten nicht mehr abschreckend wirkten. Gerade in letzter Zeit haben sie viele Bewerber aus dem Norden der Republik eingestellt, die bestens über die Münchner Situation informiert waren.

Auch Rolf Fischer, im DV-Arbeitsmarkt tätiger Personalberater, weiß von seinen Klienten, daß diese die Mietpreise kennen. Allerdings würde das keinen mehr an einem Umzug abhalten. Viele, so Redlich, glauben sowieso, daß Städte wie Düsseldorf oder Frankfurt das Münchner Niveau erreicht hätten.

Trotzdem hat Fischer bereits Kandidaten kennengelernt, die nach einem zwei- bis dreijährigem Intermezzo München wieder verlassen haben.

Aus den Aussagen von Personalverantwortlichen ist zu entnehmen, daß es für die hohen Lebenshaltungskosten in der bayerischen Metropole keinen Ausgleich via Lohn gibt. Bei Lotus zum Beispiel seien die Löhne nicht nach Regionen untergliedert.

Werner Brendli im Münchner Arbeitsamt für die Vermittlung der DV-Spezialisten zuständig, kennt kein Unternehmen, das aufgrund der hohen Mieten ein überdurchschnittliches Salär zahlen würde. Warum denn auch? Martin Kershen-Fisher vom Bayerischen Sparkassen und Giroverband zeigt mit seiner Aussage sehr klar, wie Personalverantwortliche das Verhältnis von Lebenshaltungskosten und Gehalt beurteilen: Zwar hätte ein Kandidat aus dem bayerischen Wald im Heimatort niedrige Kosten, aber keine Karriereaussichten und kaum Möglichkeiten den Arbeitgeber zu wechseln. Und eben die beiden letzten Faktoren glichen in München den erstgenannten aus.

Allein schon die Perspektiven am High-Tech-Standort München bei der großen Auswahl von Arbeitgebern eine interessante Tätigkeit zu finden, ist für die meisten Kandidaten sehr verlockend.

Diese Situation machen sich die Personalchefs zunutze. Denn sie haben inzwischen auch erkannt, was die heutigen Postmaterialisten (also diejenigen, für die das Materielle zwar -auch wichtig ist, aber nicht den Lebensinhalt bedeutet) interessiert: verantwortungsvolle Aufgabe für die man sich 100 Prozent engagiert und ausgiebiges Freizeitangebot.

Hinzu kommen nach Erfahrung von Friedericke Starke von der Agentur und Personalberatung TWI noch zwei Komponenten, auf die heutige Mitarbeiter Wert legende zum einen spiele das Image der Stadt eine Rolle. Starke dazu: "Es ist für den Bewerber ein Unterschied, ob er die 5000 Mark Monatsgehalt in München oder in Ingolstadt verdient.'

Und zum anderen interessierten sich die zukünftigen Mitarbeiter für die Unternehmenskultur. Umgekehrt ist es wiederum so, daß sich die Personalchefs die neuen Mitarbeiter unter diesem Gesichtspunkt genauer ansehen. Redlich: "Er muß in unsere Firmenkultur hineinpassen." Auch Brendli weiß aus Gesprächen mit Personalchefs, daß der Persönlichkeitsgesichtspunkt eine viel größere Rolle spielt als früher. Frau Starke hat dafür eine einleuchtende Erklärung: Teamarbeit stehe mehr im Vordergrund als noch vor einigen Jahren und deshalb sei der Chemiefaktor' zu einem sehr wichtigen Einstellungskriterium geworden.

Allerdings können zunächst nicht alle DV-Spezialisten damit rechnen, im Süden die "große Kohle" einzuschieben. Laut diesjähriger Kienbaum-Gehaltsstudie liegt München mit seinen Gehältern im Mittelfeld. Zudem regelt Angebot und Nachfrage, wer mehr verlangen kann und wer sich mit weniger zufrieden geben muß.

Beim Bayerischen Sparkassen und Giroverband, einem Anwender, der in den letzten Monaten verstärkt DV-Personal gesucht hat, meldeten sich laut Kershen-Fischer auf eine Anzeige zum Organisationsprogrammierer über 50 Bewerber.

Schwieriger sei es dagegen, Spezialisten zu finden. Sein Unternehmen suche DV-Revisoren, Sicherheitsexperten aber auch DV-Profis mit Bankwissen. Und da brauche man schon mehr Geduld. Er würde aber nicht davon sprechen, daß man die DV-Spezialisten nicht finde.

Kershen-Fischer hat bei der Suche nach qualifiziertem Personal noch eine andere Erfahrung gemacht: Auch Profis aus Softwarehäusern würden mittlerweile bei der Girozentrale anklopfen. Es seien vor allem DV-Kracks, die nach drei- bis fünfjähriger Schufterei, lieb und gerne ein paar Tausender Gehalt gegen Sozialleistungen und einen Achtstundentag tauschen. Auch Mercedes Personalbeschaffer Dietrich Esbach merkt dazu schadenfroh an: "Nachdem die DV-Spezialisten den Streß im Softwarehaus kennen. gelernt haben, landen die irgendwann alle bei uns."

Grundsätzlich schwierig, so Redlich, sei es Vertriebsmitarbeiter zu finden. Das umso mehr als sich jetzt ein Wandel dahingehend vollziehe, daß die Produkte immer beratungsaufwendiger würden und eine Spezialisierung der Vertriebsbeauftragten unumgänglich sei.

Rolf Fischer ergänzt diese Liste und meint, daß auch Dattenbankspezialisten gute Chancen in München hätten. Ei- ist der Auffassung, daß es mehr DV-Fachleute geben könnte. Denn er glaubt den Personalverwantwortlichen nicht, die sagen, daß sich auf eine Stelle genügend Kandidaten bewerben würden. Wenn es trotzdem so sein sollte, dann sei die Mehrzahl der Kandidaten nicht zu gebrauchen.

Schwierigkeiten unterzukommen hätten nach Brendlis Beobachtung vor allem ältere Arbeitnehmer. Betroffen seien diejenigen, die jahrelang bei einem Hersteller beschäftigt und mit Systemen arbeiteten, die jetzt am Markt kaum noch existierten.