Großcomputer in Reading liefert Informationen für 400 Millionen Europäer:

Moderne Wetterprognosen aus dem Rechner

04.11.1988

Wenn der Ansager im Radio oder Fernsehen mit bedeutungsschwangerer Stimme vom Tief berichtet, "das in den nächsten Tagen unser Land von Westen her beeinflussen wird", so ist das nicht seine private Meinung, sondern die Quintessenz eines ganzen Konglomerats von Informationen. Die wichtigsten stammen aus einem Großcomputer des europäischen Wetterzentrums im südenglischen Reading, der das mutmaßliche Wetter bis auf 30 Kilometer Höhe aus Myriaden von Messungen errechnet hat.

Ob das Wetter einem echten Briten die Laune vermissen kann, ist zweifelhaft - schließlich ist er es gewohnt, an einem einzigen Tag alle vier Jahreszeiten zu erleben. Griesgrämig wird er aber, wenn er das Gefühl bekommt, man wolle ihm sein Steckenpferd, das Spekulieren übers Wetter, irgendwie versauen.

Kein Wunder also, daß der - horribile dictu - britische Physiker Lewis Fry Richardson 1922 mit seiner kühnen Behauptung, er könne nicht nur Kriege, sondern auch das Wetter im voraus berechnen, bei seinen Landsleuten auf offene Ablehnung stieß.

Richardson hatte gar die Frechheit, sein Credo in Buchform zu publizieren: "Wettervorhersagen aus numerischen Berechnungen" hieß der Titel - für die damalige Zeit ein echter Schocker. Der Inhalt brachte die wenigen neugierigen Leser vollends ins Kopfschütteln: Er beschrieb im Detail die mathematischen Methoden, mit denen solche Prognosen möglich sein sollten. Ausgearbeitet hatte Richardson seine Theorie in der knapp bemessenen Freizeit, die er als Ambulanzfahrer im Ersten Weltkrieg hatte.

64 000 Arbeiter gegen das Wetter

Eines mußten faire Kritiker dem Technokraten - manche bezeichneten ihn auch als Spinner - immerhin zugestehen: Richardson war kein weltfremder Theoretiker, der irgendwelche abstrusen Gedankengebäude konstruierte, sondern er war auch bereit, seine Ideen in der Praxis zu erproben. So nahm er sich die Mühe, eigenhändig eine sechsstündige Wetterprognose durchzurechnen ein Job, der ihn wegen der langwierigen Rechnerei volle drei Monate beschäftigte. Doch Richardson gab deswegen nicht auf: "Wenn man in einer zentralen Rechenfabrik 64 000 Leute mit der Wettervorhersage beschäftigt", schrieb er, "so müßte das Ergebnis eigentlich ein paar Stunden vor dem prognostizierten Wetter eintreffen."

In seiner Phantasie stellte sich der Physiker ein riesiges Amphitheater vor, in dem die 64 000 Arbeiter mit Rechenschiebern und mechanischen Rechenmaschinen "das Wetter jagen", während eine ganze Armee von Boten die Zwischenergebnisse zusammentragen und zur Weiterverarbeitung bringen würden. Die Resultate würden dann in einen "stillen Raum" im Keller des Amphitheaters geschickt, wo Spezialisten sie in die Alltagssprache fassen und für die Durchsage im Radio vorbereiten würden.

Die Prognosenfabrik, von der Richardson träumte, gibt es längst - allerdings in einer ganz andern Form, als sie sich der Physiker 1922 ausgedacht hatte: Die Rechner sind nicht Menschen, sondern winzige Chips aus Silizium. Es sind auch nicht 64 000, sondern vielleicht ein paar Dutzend, die aber dafür um so schneller arbeiten. Anstelle von Boten beschäftigt die Fabrik Elektronen, die durch Leitungen sausen und so die Verbindung zwischen den Rechnern herstellen. Der "stille Raum" hingegen entspricht ziemlich genau Richardsons Vorstellung: Die Interpretation der Ergebnisse und die sprachliche Formulierung der Wetterprognosen besorgt auch heute noch der Mensch.

Der Hauptteil der Fabrik besteht also aus einem Computer. Seine Anfangszeiten hat Richardson noch erlebt: Er starb 1953, als die ersten Rechner mit Elektronenröhren Furore machten. Allerdings wurden diese nicht für Routineaufgaben wie die Wetterprognose eingesetzt.

Doch schon bald brauchten die Meteorologen nicht mehr um die begehrte Rechenzeit auf dem Computer zu betteln, sondern bekamen ihre eigenen Maschinen. Einer der größten und schnellsten kommerziell erhältlichen Computer, eine Cray X-MP/48, steht heute in einem Glasgebäude im südenglischen Städtchen Reading. Der Rechner dient ausschließlich der mittelfristigen Vorhersage des Wetters. Über 400 Millionen Europäer hören auf ihn - nur wissen es die meisten nicht: Viele der Prognosen, die sie täglich von den Massenmedien empfangen, basieren auf dem Output des Rechners in Reading.

Der Supercomputer übertrifft spielend die 64 000 Mathematiker, die sich Richardson für seine Prognosenfabrik gewünscht hatte. Nicht einmal die ganze Erdbevölkerung könnte lange Schritt halten mit den bis zu 800 Millionen Operationen, die der schnelle Rechner pro Sekunde verarbeiten kann. Dabei arbeitet er weitgehend selbständig: Während er nachts die Prognose erstellt, genügen vier Leute für seine Überwachung.

Trotz ihrer enormen Leistung braucht die Cray, assistiert von einer Reihe kleinerer Computer, rund drei Stunden, um die Grundlagen für eine zehntägige Wettervorhersage zu berechnen. Atmosphärenforscher haben sie versuchsweise auch schon weiter in die Zukunft blicken lassen: Nach achtstündiger Zahlenbeigerei liefert der Computer die mutmaßlichen Wetterdaten für einen vollen Monat. Vorläufig sind solche langfristigen Prognosen allerdings noch sehr spekulativ.

Wie kann man denn das Wetter überhaupt berechnen? Indem man versucht, sich Klarheit zu verschaffen über die Luftbewegungen in der Atmosphäre. Sie gehorchen physikalischen Gesetzen, die man mit mathematischen Gleichungen beschreiben kann. Diese müssen die Zufuhr und Abgabe von Energie durch Sonnenschein, Regen, Verdunstung und Reibung berücksichtigen, wobei man davon ausgehen kann, daß die Natur stets bestrebt ist, die Energiebilanz dieser Prozesse auszugleichen.

Wenn man das alles mathematisch im Griff hat, kann man aus einer bekannten Ausgangslage das künftige Wetter tatsächlich vorherberechnen - da hatte Richardson vollkommen recht. Nur ist das in der Praxis nicht so einfach.

Das fängt schon damit an, daß gewisse Vorgänge wie beispielsweise das stark wetterbestimmende Phänomen der Konvektion (das Aufsteigen warmer Luft) sich mit Formeln noch nicht zufriedenstellend beschreiben lassen.

Weiter ist den Meteorologen die Ausgangslage nie vollständig bekannt. Das Beobachtungsnetz umspannt zwar mittlerweile die ganze Erde, aber es hat trotz Wettersatelliten und -bojen auf den Meeren noch große Lücken.

Große Schwierigkeiten bereitet auch unregelmäßige Oberfläche der Erde: Gebirge lenken die Luftströmungen ab, während die Meere als Feuchtigkeitsquellen den Wasserhaushalt der Atmosphäre stark beeinflussen. Das Zusammenspiel all dieser Faktoren läßt sich auch heute, 65 Jahre nach Richardsons Vision, nur annähernd beschreiben.

Um trotzdem zu guten Prognosen zu kommen, versuchen die Meteorologen, ein möglichst dichtes, dreidimensionales Netz von Punkten um die ganze Erde zu legen, an denen sie so häufig wie möglich Messungen vornehmen und dann unter Berücksichtigung aller Resultate die künftigen Wetterelemente hochrechnen können.

Auf der Cray in Reading läuft eines der komplexesten Computermodelle, das je geschaffen wurde: eine Simulation der ganzen Erde und der Atmosphäre mit der zusätzlichen Dimension der Zeit. Jeden Tag werden weltweit von Tausenden von Schiffen, Flugzeugen, Satelliten, Ballonen, Wetterbojen und Bodenstationen zigmillionen Einzeldaten gesammelt, nach Reading übermittelt und in den Rechner gespeist. Das Programm verifiziert sie, analysiert sie und rechnet. sie schließlich zu den Vorhersagen hoch.

Früher rechneten die Modelle nur mit einer Atmosphärenschicht in einem Teil der Welt. Das Modell auf der Cray rechnet mit 19 Schichten, die den ganzen Globus von 30 Metern Höhe bis zu 30 Kilometern Höhe zwiebelförmig umspannen. Die Maschenweite in den Schichten beträgt 380 Kilometer. Das ergibt Tausende von Gitterpunkten, an denen die Wetterentwicklung aufgrund von meteorologischen Gleichungen berechnet wird. Dabei gelangt man nur in kleinen, fünf- bis zehnminütigen Schritten zum Ziel; bei längeren Zeitintervallen versagt die Methode. Je dichter das Netz, desto kurzer müssen auch die Intervalle sein.

Die heutigen siebentägigen Vorhersagen für die mittleren Breitengrade der Nordhalbkugel sind ebenso genau wie die zwei- bis dreitägigen Prognosen im Jahre 1971. Vorhersagen für die Südhalbkugel sind in der Regel bis zu fünf Tage brauchbar, jene für die Tropen bis zu drei Tage.

Genauere Vorhersagen verlangen also nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich ein engmaschigeres Netz. Fazit: Die numerische Wetterprognose ist ein Gebiet, bei dem es auf rohe Computerleistung ankommt. Das zeigt sich deutlich bei den Resultaten: Dank dem Cray-Superrechner kann das europäische Wetterzentrum heute sechstägige Vorhersagen für die ganze Erdkugel machen, die ebenso genau sind wie die fünftägigen Prognosen des US-Wetterdienstes, der (vorläufig) eine weniger leistungsfähige Maschine einsetzt. Wen wundert es da noch, daß sich die Meteorologen bereits auf die nächste Generation von Supercomputern freuen - mit diesen, so hoffen sie, werden zehntägige Prognosen so exakt sein wie heute die sechstägigen.

Eine Investition, die sich bezahlt macht

Ist dieser Wettlauf um die bessere Prognose denn auch wirklich sinnvoll? Volkswirtschaftliche Zahlen belegen, daß eine Verbesserung der Wettervorhersage tatsächlich erstrebenswert ist. In Großbritannien zum Beispiel hat eine Studie den Wert einer genauen Wettervorhersage für die Wirtschaft mit jährlich rund 500 Millionen Pfund (etwa 1,5 Milliarden Mark) beziffert. Gemessen daran sind die Betriebskosten der Anlagen in Reading - sie werden dieses Jahr rund 29 Millionen Mark betragen - ein Pappenstiel.

Von Reading profitieren natürlich nicht nur die Briten. Seit seiner Betriebsaufnahme im Jahre 1979 schickt das europäische Wetterzentrum praktisch pausenlos die verschlüsselten Daten an die Wetterbüros der Mitgliedstaaten (EG-Länder plus einige andere, zum Beispiel auch die Schweiz), wo die Informationen mit regionalen Daten verknüpft und zu Wetterprognosen für das eigene Land aufgearbeitet werden.

Auf einem etwas reduzierten Niveau klappt der Datenaustausch auch weltweit. Das europäische Wetterzentrum tauscht im Rahmen eines weltweiten Beobachtungsprogramms der World Meteorological Organization Informationen mit rund 160 Nationen aus - ein bisher einmaliges Beispiel internationaler Zusammenarbeit.

Sogar während des Falkland-Kriegs steuerten die Kontrahenten England und Großbritannien ihre Daten bei und profitierten gleichzeitig von den Resultaten des Beobachtungsnetzes. Anders ist es allerdings mit Iran und Irak, die momentan beide keine Daten liefern und damit die größte Lücke bilden im System. In solchen Fällen hilft auch der beste Computer nicht weiter.

Warum die Prognosen manchmal falsch sind

"Bevor wir die Wetterprognose für morgen verlesen, möchten wir jene für heute korrigieren und uns für die gestrige entschuldigen" - Der Spruch aus einer Karikatur zum Thema "Wettervorhersage" ist zwar nicht neu, aber er mag vielleicht über den ersten Ärger hinwegtrösten, wenn die Meteorologen wieder mal so richtig danebengehauen haben.

Daß sie keine Propheten sind, wissen sie selber natürlich auch. Ihr Ärger über die eigenen Fehlprognosen ist bestimmt nicht kleiner als jener des Publikums, denn schließlich kratzt die ewige Diskrepanz zwischen Vorhersage und Realität auch ein wenig am Berufsstolz.

Der Hauptgrund für die Fehlprognosen Ist, wie der an der ETH Zürich tätige Atmosphärenphysiker Albert Waldvogel kürzlich erklärte, ein nach wie vor lückenhaftes Verständnis der wetterbestimmenden Faktoren.

Das wirkt sich weniger in den globalen Computermodellen aus, die heute trotz einigen Unzulänglichkeiten bereits recht präzise sind, sondern dort, wo die Meteorologen aus den vom Computer berechneten Wetterelementen in verschiedenen Höhen das mutmaßliche Bodenwetter ableiten müssen. Dies ist vor allem in gebirgigen Ländern wie der Schweiz mit all den Föhn- und Staueffekten, die in den großräumigen Computermodellen nicht enthalten sind, alles andere als einfach. So geraten denn halt die Prognosen ab und zu gründlich daneben.