Optimierte Verwaltungsabläufe steigern die Produktivität bei HdA-Projekt:

Mitarbeiter entwickeln Strukturen selbst

16.06.1989

Humanisierung des Arbeitslebens (HdA) und Rationalisierung müssen nicht unbedingt ein Widerspruch sein. Das seit sieben Jahren In der Hattinger Henrichshütte laufende HdA-Projekt mit Schwerpunkt Büro und Verwaltung soll diese These modellhaft belegen. Der Erfolg des Projekts ist vor allem auch auf die Beteiligung der Betroffenen zurückzuführen, erklärt Klaus Richter.

Als 1982 erstmals über das Projekt diskutiert wurde, war die Thyssen Henrichshütte AG in Hattingen Teil eines typischen Großunternehmens mit mehreren tausend Mitarbeitern im Rahmen des Thyssen Stahl Konzerns. Sie war ein Großunternehmen mit typischen Großunternehmensstrukturen sowohl, was die arbeitsorganisatorischen Strukturen betrifft, als auch die Kostenstruktur.

Eine Arbeitsablaufanalyse hatte ergeben, daß für die verwaltungsmäßige Bearbeitung eines mittelgroßen Auftrages im Weiterverarbeitungsbereich weit über 100 Formulare erforderlich waren. Erste Maßnahmen hatten bereits zu einer deutlichen Verminderung des Formularwesens geführt. Trotzdem reichte dies nicht aus, um flexibel und schnell genug auf Anfragen reagieren zu können. Es war schon vorgekommen, daß der Mitbewerber, bei dem ebenfalls angefragt worden war, das Produkt bereits geliefert hatte, während die Henrichshütte sich noch mit der Angebotserstellung beschäftigte.

Der Henrichshütte drohten somit ganze Märkte verlorenzugehen. Diesem untragbarem Zustand mußte ein Ende gesetzt werden. Ziemlich schnell erkannte man, daß das von der Datenverarbeitung vorgeschlagene Datenbank- und Bürokommunikationsprojekt allein hier keine Abhilfe schaffen kann, sondern daß tiefgreifende Veränderungen der Organisationsstruktur nicht nur unterstützend sondern als Voraussetzung unabdingbar sind.

Von Anfang an lag dem Vorhaben ein umfassender Lösungsansatz zugrunde: Die ganzheitliche Betrachtung und Entwicklung von Technologie, Organisation und Qualifikation unter Einbeziehung ergonomischer Aspekte der Arbeitsgestaltung.

Bei dem Projekt auf der Henrichshütte wurde dieser ganzheitliche Ansatz ergänzt durch ein Arbeitspaket "Beteiligung", bei dem das Verfahren partizipativer Systemgestaltung entwickelt und in verschiedenen Ausprägungsformen auf der Henrichshütte erprobt wurde.

Das Ergebnis: Die Henrichshütte ist heute wettbewerbsfähig, insbesondere in den vom HdA-Projekt direkt betroffenen Produktbereichen. Die Produktivitätssteigerung im Verwaltungsbereich wurde in direkte Umsatzvervielfachungen umgesetzt, bei gleichzeitiger hoher Zufriedenheit der Mitarbeiter.

Es sollten geeignete Formen der Beteiligung entwickelt und praktiziert werden, bei der die direkt Betroffenen selbst an der Systemgestaltung mitwirken konnten. Nach anfänglicher Skepsis zeigte sich, daß derartige Formen der Mitarbeiterbeteiligung durchaus komplementär zu der gesetzlichen Mitbestimmung im Unternehmen praktiziert werden können.

Es müssen jedoch bestimmte Regeln eingehalten werden. Wenn dies geschieht, kann Beteiligung ein kraftvolles Instrument der Innovation von innen sein. Neue Strukturen, von den Betroffenen selbst entwickelt, sind leichter realisierbar und werden eher akzeptiert, als wenn diese von außen eingebracht werden.

Auch bei der Weiterbildung wurden neue Wege beschnitten. Üblicherweise beschränken sich Weiterbildungsmaßnahmen auf die Einführung in die Datenverarbeitung und das Einüben der Bedienung bestimmter Softwarepakete.

Qualifizierung soll aber mehr vermitteln als nur bestimmte direkt aufgabenbezogene, fachliche Fertigkeiten oder Bedienkenntnisse in der Datenverarbeitung. Das auf der Henrichshütte durchgeführte Qualifizierungsprogramm wurde im Rahmen der Beteiligung zusammen mit den Betroffenen entwickelt. So kamen einerseits fachliche Inhalte wie auch insbesondere sozial-kommunikative Trainings ins Programm, wie zum Beispiel Moderatorentraining, Verkäuferschulung, Gesprächsführungstechniken, Führungskräftetrainings.

Darüber hinaus läuft ein permanenter Qualifizierungsprozeß ab, dadurch, daß die im Rahmen der neu eingeführten Organisationsstruktur tätigen Mitarbeiter sich durch die Arbeit in diesen neuen Organisationsformen (zum Beispiel gemischtes Team) selbst und gegenseitig weiterbilden, Die Vorstellung von "qualifizierender Arbeit" wurde hier somit in der Praxis verwirklicht.

Gewachsene Organisationsformen, geprägt von hierarchischen Prinzipien und von Arbeitsteiligkeit, haben in der Regel ein starkes Beharrungsvermögen. Derartige Strukturen aufzubrechen und innovative Organisationsformen einzufahren oder auch nur erproben zu wollen, stößt in den meisten Fällen auf den verständlicherweise - erbitterten Widerstand der Betroffenen.

Zu Anfang des Projektes bestand eine Idee darin, die Organisationsstrukturen, sowohl Aufbau- wie auch Ablauforganisation beizubehalten, darüber hinaus auch die räumliche Verteilung der unterschiedlichen Abteilungen (über mehrere Kilometer Entfernung) beizubehalten, die Zusammenarbeit untereinander denn dieser Mangel war erkannt durch massiven Technikeinsatz (Bürokommunikationssystem) zu fördern.

Im Zeitalter moderner Bürokommunikationssysteme - so die These - ist es nicht mehr erforderlich, eng .beieinander zu sitzen, um auch entsprechend eng und im Team zusammenarbeiten zu können. Im Laufe des Projektes zeigte sich jedoch, daß gerade die persönliche Kommunikation nicht einfach durch technische Kommunikation ersetzbar ist.

In Gruppenarbeit wurden in der frühen Phase des Projektes verschiedene organisatorische Gestaltungsansätze diskutiert und neue Organisationsvorschläge erarbeitet. Die Betroffenen selbst sollten dann entscheiden, welche dieser Varianten eingeführt werden sollten. Zunächst war daran gedacht, zwei Varianten alternativ zu erproben.

Entgegen aller unserer Erwartungen entschieden sich die Betroffenen bei einer der Varianten für den am weitesten innovativen und von der bestehenden Organisationsform abweichenden Vorschlag eines "gemischten Teams" (bestehend aus kaufmännischem und technischem Personal), das für Anfragen- und Auftragsbearbeitung einer bestimmten Produktgruppe verantwortlich sein sollte. In diesem Team wurden Verkäufer, Kalkulatoren, Mitarbeiter des Qualitätswesens, Arbeitsvorbereitung und Assistenzkräfte zusammengefaßt.

Als zweite Variante wurde von den Betroffenen selbst ein weiterer Vorschlag ins Gespräch gebracht, der ebenfalls über die von einer Arbeitsgruppe vorbereiteten, mehr konservativen Vorschläge hinausging.

Beide Organisationsformen wurden im Laufe des Projektes realisiert und haben sich durchweg bewährt. Die anfänglich sehr skeptisch beurteilte Organisationsform "gemischtes Team" war derart erfolgreich auch aus wirtschaftlicher Sicht daß mittlerweile ein zweites Team in einem anderen Produktbereich eingerichtet wurde und die Einrichtung eines dritten Teams an einem anderen Standort möglicherweise kurz bevorsteht.

Die ersten Mitarbeiter im Team hatten jedoch noch mit einigen Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen. Durch eine entsprechende arbeitspsychologische Begleitung konnten viele Probleme rechtzeitig erkannt und abgefangen werden.

Ein wichtiger Punkt, der gelöst werden mußte, war die hierarchische Unterstellung des Teams. Weiterhin als erforderlich zeigte sich die Herauslösung der Teammitarbeiter aus ihren früheren Fachabteilungen.

Mittlerweile arbeitet das Team im zweiten Jahr und konnte den Umsatz in diesem Produktsegment nochmals vervielfachen. Dies geschah über die Anzahl der durchgeschleusten Anfragen und Aufträge. Wobei die Realisierungsquote je Anfrage vom ersten auf das zweite Jahr des Teams unverändert blieb.

Abbildung drei zeigt Vergleichszahlen zwischen dem ersten Jahr im Team und dem zweiten. Insbesondere beachte man die geringen Fehltage. Die höhere Leistung ging offenbar nicht zu Lasten der beteiligten Mitarbeiter. Die Arbeitszufriedenheit ist deutlich gestiegen, wie andere Erhebungen zeigen.

Verschiedene Lösungsansätze

Die Technologiefrage wurde erst relativ spät gelöst, obwohl gerade diese Fragestellung wichtiger Diskussionspunkt bereits vor Beginn des Projektes war. Es wurden im Laufe des Projektes verschiedene Lösungsansätze verfolgt, von dem Versuch Bürokommunikation (Textverarbeitung und individuelle Datenverarbeitung) über Datenfernverarbeitung auf dem Großrechner des Konzerns abzuwickeln, bis hin zu der Einführung von speziellen Bürokommunikationssystemen, die über geeignete Schnittstellen an den Großrechner gekoppelt werden sollten.

Beide extremen Lösungsansätze scheiterten bereits in der Pilotinstallation, entweder an der Nichtrealisierbarkeit einzelner Forderungen oder an dem immensen Aufwand, insbesondere für die Schnittstellenprogrammierung.

Letztlich wurde mit der nun eingeführten technischen Lösung ein Weg gefunden, der zukunftsweisend und wohl auch vorbildlich für andere Unternehmen sein dürfte. - Auf Basis von IBM-PS/2-Systemen, die über Token Ring miteinander vernetzt sind, wird ein schwerpunktmäßig großrechnerbasiertes System intelligenter, dezentraler Datenverarbeitung aufgebaut.

Die Zentralrechnerprogramme wurden durch entsprechende Softwaretools nach softwareergonomischen Gesichtspunkten umgestaltet. Hierzu zäh en die Einführung von

Help-Windows wie der Aufbau von Menüführungen und der Einsatz computergestützter Textverarbeitung (M-Text für standardisierbare Texte). Auf den PCs selbst wird BS/2 mit der objektorientierten Oberfläche installiert, so daß mit Hilfe des Communication Managers und Presentation Managers als Bestandteil des neuen Betriebssystems gearbeitet werden kann.

Aus dieser Oberfläche heraus geschieht auch der Durchgriff auf den Host-Rechner, ohne beim Eintritt in die Emulation die objektorientierte Oberfläche zu verlassen. (Mit Hilfe des Vorläuferpaketes Windows und der Irma-Emulationskarte war dies nur bedingt möglich.)

Anwender mit "dummen" Terminals besser bedient

Durch diese Lösung wird der Nachteil bisheriger Kopplungsmöglichkeiten vermieden. Dadurch, daß teure, intelligente Terminals mit hervorragender Menüsteuerung, objektorientierten Oberflächen zum Einsatz kommen, jedoch in den meisten Fällen fast den ganzen Tag in der Großrechner-Emulation eingesetzt werden, bricht die ganze, schöne Bedienoberfläche zusammen. Die Folge ist, daß der Nutzer den teilweise schlechteren Bedienkomfort einer Host-Emulation auf dem PC erdulden muß und eigentlich mit einem "dummen" Terminal besser bedient wäre. Diese immer noch recht kostspielige Hardwareinstallation je Arbeitsplatz rechnet sich unterm Strich trotzdem und ist gegenüber einem dedizierten BK-System kostengünstiger. Ebenso ist sie kostengünstiger als die Abwicklung der individuellen Datenverarbeitung auf dem Host-Rechner (zum Beispiel Programmierung mit APL oder auch das Anwendungssystem AS) für nach Umfang und Art vergleichbare Anwendungsfälle.

Modell eignet sich auch für Mittelständler

Aber bereits ohne die PCs beziehungsweise mit nur wenigen Arbeitsplätzen, die mit PCs ausgestattet waren, zeigt die neue technisch-organisatorische Lösung erhebliche Vorteile gegenüber den alten Strukturen. Höchste Zufriedenheit von Seiten der Betroffenen und des Vorstandes, über ein anfangs skeptisch beurteiltes Projekt lassen Mühen und Schwierigkeiten vergessen.

Das Hattinger Modell, überschaubare und kommunikationsfähige Organisationseinheiten zu schaffen, mit eigenständiger Verantwortlichkeit auszustatten und gezielt durch die notwendige Technik zu unterstützen, hat sich in der Praxis bewährt. Ursprünglich als Antwort eines Großunternehmens auf die Flexibilität der Kleinen entwickelt, wurde es inzwischen sogar von einem Mittelständler (Kfz-Zulieferer) in abgewandelter Form übernommen.