Mit objektorientierten Methoden heterogene Systeme integriert Deutscher Herold entwickelt neues Refinanzierungssystem

25.11.1994

Von Eberhard Kahl* und Thorsten Glattki*

Client-Server-Anwendungen sind den Kinderschuhen entwachsen und koennen kommerziell eingesetzt werden. Dies zeigt sich am Beispiel des Projektes "Refinanzierungssystem" bei der Versicherungsgesellschaft Deutscher Herold. Die Entwicklungszeit verkuerzte sich durch die objektorientierte Vorgehensweise verglichen mit traditionellen Methoden wesentlich. Zudem wurde die Loesung nach dem Client-Server-Prinzip auf verschiedene Plattformen verteilt.

Unter dem Einstieg in die Client-Server-Technologie wird vielfach verstanden, Mainframe-Loesungen durch netzbasierte Systeme im PC- und Workstation-Umfeld zu ersetzen. Zwischen diesem Bild und den Gegebenheiten in grossen Unternehmen bestehen allerdings gravierende Unterschiede. Der vorliegende Beitrag soll aufzeigen, wie bei dem Bonner Versicherungsunternehmen Deutscher Herold, einem Teil der Deutsche Bank Versicherungsgruppe, mit objektorientierten Methoden in relativ kurzer Zeit eine komplexe Client-Server-Anwendung realisiert wurde. Dabei wurde Client- Server neben der eingangs erwaehnten Hardware-orientierten Definition als ein Prinzip der Software-Entwicklung verstanden, bei dem Programmkomponenten Services anderer Bausteine nutzen. Auf diese Weise liessen sich Flexibilitaet und Wartbarkeit deutlich verbessern.

Im Pilotprojekt "Refi" (Refinanzierungssystem) ist eine Client- Server-basierte Loesung zur Bearbeitung von Refinanzierungsdarlehen entwickelt worden. Es handelte sich dabei um eine Gemeinschaftsproduktion der Betriebsorganisation, der Finanz- und der Hypothekenabteilung des Deutschen Herold sowie des auf Versicherungsloesungen spezialisierten Systemhauses Bonndata, Bonn. Realisiert wurde ein integriertes System, das den IBM-Host, eine dezentrale DB2-Datenbank, das PC-Netz innerhalb der Abteilungen sowie die beim Deutschen Herold eingesetzte Standardsoftware miteinander kombiniert.

Die organisatorische und DV-technische Situation ist in vielen Unternehmen, so auch im Deutschen Herold, durch eine heterogene Systemlandschaft mit vielen Medienbruechen gekennzeichnet. Weil Altanwendungen oft schlecht wartbar und wenig ergonomisch sind, wuenschen sich viele Fachabteilungen Applikationen neuerer Technologie. Als Ausweg haben sie vielfach eigene Inselloesungen geschaffen, die einen hohen Informations- und Abgleichaufwand nach sich ziehen, Zeitverzoegerungen und Doppelarbeiten verursachen. Als Alternative bleibt letztlich nur, die Altanwendungen zu ersetzen. Mit Arbeitsplatzloesungen wie dem Refinanzierungssystem lassen sich diese Probleme bewaeltigen. Vorhandene Softwarepakete sowie Standard- und spezielle Branchenprogramme wurden unter einer grafischen Benutzeroberflaeche bei einem gemeinsamen Zugriff auf zentrale Datenbestaende integriert. Das Graphical User Interface (GUI) basiert auf dem SAA/CUA-Standard. Eine offene Architektur ermoeglichte die Anbindung an den IBM-Mainframe ueber APPC/LU 6.2 sowie den Einsatz von Serviceanwendungen wie finanzmathematische Fremdsoftware ueber vorhandene C- oder Cobol-DLLs. Standardpakete wie "Word fuer Windows" und "Excel" hielten die Kosten gering. Die Entwicklung erfolgte objektorientiert mit Hilfe des Smalltalk- basierten Programmierwerkzeugs "Enfin" von Easel. Dadurch konnte die Software flexibel angepasst werden und liess auch organisatorische Aenderungen im Zeitablauf zu.

Die klare Trennung von Praesentation (Oberflaeche), Vorgang

(mit Funktionen der Dialogsteuerung), fachlichen Datenklassen und Daten-Management (Zugriff auf Datenbanksysteme und Kommunikationsservices) schaffte flexible, leicht wartbare Strukturen. Damit ist es moeglich, auch kuenftig auf geaenderte Marktbeduerfnisse im Refinanzierungsumfeld zu reagieren.

Die offen gehaltene Systemarchitektur garantiert darueber hinaus Zukunftssicherheit und Migrationsmoeglichkeiten. Auch kommende Technologien im Bereich Multimedia und Buerokommunikation lassen sich problemlos einbinden.

Die Refinanzierungssoftware ist an die bestehende, Host-basierte Vermoegensverwaltung und die zentralen Versicherungsdatenbanken des Unternehmens angebunden. Ziel war es, die Abwicklung der Geschaeftsvorfaelle im Refinanzierungsbereich zu unterstuetzen. Allgemeine Funktionen (Terminverwaltung, Benutzerzugriffsrechte, Vollmachtenvergabe und -pruefung, Druck-Spooler) sind integriert. Zusaetzliche Schnittstellen ermoeglichen statistische Auswertungen mit Excel, die Dokumentenverwaltung sowie die Erledigung der Korrespondenz mit Hilfe von Word fuer Windows.

Die objektorientierte Vorgehensweise im gesamten Projekt beruht auf der Annahme, dass sich komplexe Systeme in ihrer Gesamtheit nicht oder nur mit erheblichem Aufwand abstrakt fehlerfrei analysieren und beschreiben lassen. Deshalb griff man auf das sogenannte inkrementelle Prototyping zurueck. Hierbei ist das Gesamtsystem in ueberschaubare Einheiten zu unterteilen. Eine Einheit wird waehrend der Analyse in ein fachliches Modell ueberfuehrt, danach um technische Details ergaenzt und in einen lauffaehigen Prototypen umgesetzt. Diesen begutachtet der Auftraggeber dann hinsichtlich Korrektheit, Stabilitaet, Ergonomie und Performance. Das fachliche Modell und die Funktionalitaet des Gesamtsystems werden von Prototyp zu Prototyp entsprechend einem Spiralmodell ausgebaut. Diese Methode ist eine Alternative zum Wasserfallmodell der traditionellen Software-Entwicklung.

Das fertige Refi-System wurde seit Maerz 1994 auf zahlreichen Konferenzen in Deutschland und der Schweiz praesentiert. Dabei zeigte sich, dass der Deutsche Herold als eines der ersten Unternehmen innerhalb der Versicherungsbranche den Einstieg in die Objektorientierung vollzogen hat. Insbesondere der integrative Aspekt des Projekts wurde beim "1st Annual Object Application Award" anlaesslich der Object World Germany '94 Ende September 1994 gewuerdigt. Die sechs Jurymitglieder waehlten Refi unter ueber 60 Bewerbern auf den ersten Platz in der einschlaegigen Kategorie fuenf.

Die Installation auf einen Blick:

- PCs mit 80486-CPU, 16 MB RAM und OS/2.21,

- Communications Manager fuer OS/2 (CM/2),

- DB2/2 und DB2/6000 zur Speicherung von Akquisedaten und Auswertungsbestaenden,

- CICS 3.1 oder IMS 4.1 zur Anbindung von Host-Datenbanken,

- Microsoft Excel 5.0 und DDCS/2 fuer Statistiken,

- Microsoft Word fuer Windows 2.0 fuer die Korrespondenz,

- TCP/IP und APPC/LU 6.2 sowie als

- Entwicklungsumgebung: Easel Enfin/Smalltalk.

Die Anwendung

Das Refinanzierungssytem "Refi" unterstuetzt alle Arbeiten, die in der Antrags- und Auszahlungsphase von Refinanzierungsgeschaeften bei einem Versicherungsunternehmen anfallen. Bei dieser Geschaeftskonstruktion erhaelt der Kunde als Enddarlehensnehmer ein Darlehen von einem Kreditinstitut, zum Beispiel zur Finanzierung einer Arztpraxis. Die Bank ihrerseits refinanziert sich durch ein Darlehen von einem Versicherungsunternehmen. Bei dieser Gesellschaft schliesst der Enddarlehensnehmer als Tilgungsersatz eine Lebensversicherung ab.

In der Finanzabteilung des Versicherungsunternehmens erfuellt Refi folgende Funktionen:

- Erfassung der Daten bereits beim Erstkontakt,

- Zuordnung von Vermittler, Geschaeftsstelle und Kreditinstitut,

- Komplettierung der Daten mit statusgerechten Konsistenzpruefungen von der Anbahnung ueber die Bearbeitung bis zur Vollauszahlung,

- Terminverwaltung mit Wiedervorlage,

- Pruefung der Anlagegrenzen bezogen auf das jeweilige Kreditinstitut,

- Festlegung der Konditionen mit integriertem Renditerechner,

- Zuordnung von Enddarlehensnummer und Pruefung der verpfaendeten Lebensversicherung gegen die zentralen Lebensversicherungsbestaende (Hosts),

- Berechnung von Auszahlungen und Zinseinbehalten,

- Anlage der Kontostammsaetze in der zentralen Vermoegensbuchhaltung (Host),

- Erstellung der gesamten Korrespondenz (Vorstandsvorlage, Bereitwilligkeitserklaerung, Darlehensvertrag, Auszahlungsabrechnung etc.) sowie

- Auswertung der Antragsdaten ueber Standarsoftware.

Die Anforderungen an die Software lauteten:

- Flexibilitaet fuer Marktanpassungen und Mengenwachstum,

- anwendergerechte Bedienbarkeit,

- abteilungsuebergreifende Einsetzbarkeit,

- geringer Wartungsbedarf,

- permanent verfuegbare Datenbasis,

- aktuelle Auswertungen auf Knopfdruck,

- Integration versicherungstechnischer Anwendungnen des Hosts,

- Pausibilitaets- und Vollmachtenpruefung sowie Ueberwachung der Einhaltung gesetzlich vorgeschriebener Anlagegrenzen durch die DV.

* Eberhard Kahl ist Fachbereichsleiter sowie Leiter des "Refi"- Projekts in der Bonndata GmbH, Bonn. Thorsten Glattki arbeitet dort im Bereich Marketing & Puclic Relations.