Milliarden für strategische Vorteile

Mit der BS-Entwicklung ist noch viel Geld zu verdienen

17.04.1992

*Susanne Müller-Zantop ist Herausgeberin des PC-Newsletters "TidBits", ihr gehört die Beratungsfirma MZ Projekte in München.

Noch vor einigen Jahren war ein Betriebssystem lediglich dazu da, Programme zu starten, Tasks zu managen, Hauptspeicher zu verwalten und eine Low-level-Zuordnung der Ressourcen vorzunehmen. Die Anforderungen haben sich indes vervielfacht.

Heute erwartet der Benutzer von einem Betriebssystem eine grafische Benutzeroberfläche, eine sehr komplexe Funktionalität auf dem Desktop, Unterstützung für vielfach konkurrierende APIs, Emulationsschichten, Tool-kits, Treiberbibliotheken, Netzwerk-Support, Pen-Support, Multimedia-Erweiterungen, aktive Hilfesysteme und vieles mehr.

Vor allem - und das hat nicht zuletzt die Geschichte von OS/2 demonstriert - erwartet der Benutzer, schmerzlos auf neue Hardwaregenerationen umsteigen zu können. Schmerzlos bedeutet: Beibehalten der bestehenden Anwendungen und beibehalten der gewohnten Systemumgebung inklusive Treibern, Peripherie etc. Das alles soll sofort und optimal von der neuen Hardware profitieren. Es ist, als würden wir einen Ferrari kaufen und dann diesen Ferrari dafür verantwortlich machen, unsere Fahrkünste beim Umstieg vom VW Polo so abzuschirmen, daß sie nach außen hin um einen Quantensprung besser würden.

User von ständig neuer Hardware abschirmen

Dieser immens schweren Aufgabe haben sich die Entwickler von Betriebssystemen nun gestellt. Wie kann man den Benutzer optimal von ständig neuer Hardware abschirmen? Es bieten sich mehrere Strategien, die teilweise schon einmal realisiert wurden, jedoch erhebliche Schwierigkeiten bei der Entwicklung präsentieren, an.

- Entwicklung eines portablen Betriebssystem-Kernel, der nicht mehr so eng auf die Zielplattform zugeschnitten ist (bezüglich Microcode, Ausnutzung von Prozessorspezifika),

- Entwicklung eines Microkernel-Betriebssystems eröffnet die Möglichkeit, andere Betriebssysteme quasi als Prozesse zu laden, so daß der Rechner sich mal wie eine DOS-, Windows-, Unix- oder Macintosh-Maschine verhält,

- Entwicklung eines skalierbaren Betriebssystems, das bei einem bestimmten Prozessortyp sowohl auf einer ganz langsamen Einstiegsversion als auch auf einer hoch getakteten Multiprozessor-Konfiguration lauffähig ist,

- Entwicklung eines objektorientierten Betriebssystems, das es erlaubt, bereits realisierte Komponenten (beispielsweise Treiber) an mehreren Stellen verwenden zu können; durch "Encapsulation" ist es möglich, Änderungen an der Betriebssystem-Software vorzunehmen, ohne daß dem ganzen Gefüge der Zusammenbruch droht; außerdem sollen sich objektorientierte Benutzeroberflächen, Dateisysteme und Anwenderprogramme qualitativ hochwertiger gestalten lassen als heute,

- Entwicklung eines Real-time Betriebssystems, das in der Lage ist, sowohl geringe wie auch immens große Datenmengen zur Ausführungszeit zu verarbeiten.

Dies ist im Hinblick auf die multimediale Ausstattung zukünftiger PCs jeder Klasse von hoher Bedeutung.

IBM präsentiert mit OS/2 2.0 ein Betriebssystem, das viele Prozessorspezifika in der Software emuliert hat. So ist OS/2 2.0 sowohl abwärtskompatibel, das heißt in der Lage, 8068er- und 286er-Anwendungen zu fahren, als auch bereits auf zukünftige Prozessordesigns wie den 586- oder 686-Chip vorbereitet.

Microsoft demonstriert mit Windows NT "New Technology" ein Betriebssystem-Design, das in seiner vollständigen Fassung sowohl auf Intel 486er Systemen als auch auf RISC R4000-Maschinen laufen wird. Verantwortlich dafür ist die Verwendung einer Microkernel-Architektur.

Ein gutes Beispiel für ein skalierbares Betriebssystem ist DOS. DOS läuft sowohl auf 8088-Maschinen wie auf 100-MHz-486er Systemen, DOS läuft im ROM auf Laptops und Handhelds wie auch auf Multiprozessor-EISA-Maschinen. Diese Funktionalität wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen.

Nextstep dient als Beispiel für ein von Grund auf objektorientiertes Betriebssystem. Deshalb sind Qualität der Benutzeroberfläche und Anwendungsprogramme so viel besser als bei anderen grafischen Oberflächen. Das Next-Betriebssystem Nextstep basiert außerdem auf dem Kernel des Real-time-Betriebssystems Mach, das an der Carnegie Mellon Universität entwickelt wurde.

Man muß übrigens anerkennen, daß Steve Jobs von Next mit Nextstep am ehesten die obengenannten fünf Anforderungen erkannt und umgesetzt hat. Erst zwei Jahre danach vollzieht die allgemeine Diskussion nach, was Jobs und seine Leute eigentlich da bereits geleistet haben .

Peripherietreiber müssen jetzt integriert werden

Weitere Probleme stehen den Betriebssystem-Entwicklern ins Haus. So wurde zum Beispiel die Frage der ausufernden Peripherietreiber vollständig an die Betriebssystem-Bauer abgegeben.

Von ihnen wird nun verlangt, sich mit ständig ändernder Hardwareperipherie auseinanderzusetzen und die entsprechenden Treiber-Sets fehlerfrei anzubieten.

Die Umgebungsbedingungen ändern sich auch im Gebiet der Software ständig. Um zum Beispiel Windows netzwerkfähig zu machen, muß man dafür sorgen, daß das Produkt fehlerfrei mit zirka drei Versionen von Netware, die heute installiert sind, zusammenarbeitet, außerdem mit einigen Versionen von Banyan Vines - vom eigenen LAN Manager und von IBMs LAN Server sowie von den kleineren Netz-Betriebssystemen ganz zu schweigen.

Im Zuge der "Offenen Systeme"-Bewegung wird es zunehmend erforderlich, Komponenten in das Betriebssystem zu integrieren, die nicht geplant waren. So mußte die IBM im Laufe der Zeit Unterstützung für TCP/IP, X.25 und NFS in OS/2 einbauen. Novell sah sich veranlaßt, IBMs SAA-Spezifikationen zu übernehmen.

Ständig entstehen neue Industriegruppen, die sich bestimmte Spezifikationen, zum Beispiel "MPC", den "Multimedia PC" oder "VIM", Vendor Independent Mail-Interface, ausdenken. Diese gesamte Kollektion von APIs muß vom Betriebssystem, wenn nicht implementiert, so doch zumindest berücksichtigt werden.

Weiter entstehen neue Forderungen, zum Beispiel diese, daß Kunden in einem größeren Netz parallel einen Unix-Server neben einem OS/2-Server betreiben möchten, die bestimmte Ressourcen teilen. Fragen der Koexistenz und der Kompatibilität werden ständig neuartig gestellt.

Viel Zeit und Geld für periphere Dinge

In diesen Zusammenhang fällt auch die Umstellung der PC-Workstation-Betriebssysteme auf ein Client-Server-Modell und die wichtige Frage des Multiprocessing-Support. Und schließlich steht mit DECs Alpha-Chip die nächste Generation der 64-Bit-Computer ins Haus - so ist eine fortwährende Weiterentwicklung gesichert.

Ein Insider beschreibt die heutige Situation so: "Ein typisches Programmierteam ist so um die 120 bis 150 Leute stark. Doch vielleicht nur 15 Personen davon schreiben echten Code für das eigentliche Produkt. Wir haben sehr viele Leute, die Druckertreiber, Plattentreiber oder Memory Manager schreiben müssen. Viele sitzen daran, Netzwerk-Interfaces zu realisieren für Netware, Vines, LAN Manager etc. Es gibt ungeheuer viel Code um die Schlüsselfunktionen des eigentlichen Produktes herum. Dazu kommt das Testen. Wir haben zwei bis drei Tester pro Programmierer - auf 30 Programmierer kommen also 80 Tester! Wir müssen sehr viel Geld und Zeit aufwenden für Dinge, die peripherer Natur sind."

Viele Konkurrenten auf dem BS-Entwicklerterrain

Die Betriebssystem Entwicklung ist für den Hersteller eine Milliarden-Dollar-Investition.

Um so mehr verwundert es, daß sich so viele Konkurrenten auf dieses Terrain begeben. Doch hat natürlich die Betriebssystem-Entwicklung strategische Bedeutung für die Hersteller. Im Zuge des Hardware- Preisverfalls ist dies eine der letzten Domänen, wo sich noch wirklich Geld verdienen läßt. Allein mit den Upgrades von Windows 3.0 auf 3.1 wird Microsoft in diesem Jahr einen guten Teil seines Jahresgewinns machen.

Dabei spielt das OEM-Geschäft eine immer bedeutendere Rolle. Im Jahr 1991 fiel im PC-Markt die Entscheidung, PCs in Zukunft nur noch mit vorinstalliertem Betriebssystem auszuliefern.

Gute Kontakte zu den Hardwareherstellern in aller Welt- inzwischen vor allem in Fernost - sind daher essentiell notwendig. Denn wer das OEM-Geschäft in der Hand hält, der bestimmt, welches Betriebssystem der Anwender benutzen wird. Erfolgreich hat dies die Firma Digital Research (DR) vorgeführt, deren Betriebssystem DR DOS in den Kaufhäusern zu dominieren scheint. Nicht zuletzt deshalb war DR auch für Novell ein interessanter Fusionspartner, denn Novell hat seine traditionelle Stärke im Händlerkanal.

Je besser die Kontakte zu den Hardwareherstellern, desto eher kann man als Betriebssystem Entwickler frühzeitig neue Hardwaredesigns diskutieren, gelegentlich sogar mitbestimmen. Beispiel ist die enge Zusammenarbeit zwischen den Systemingenieuren von IBM und Apple mit den Technikern, welche die neue Chip-Generation zusammen mit Motorola bauen. Ein anderes Beispiel ist die Tatsache, daß Bill Gates sich persönlich um neue Prozessor- und PC-Designs bemüht. Sehr eng sind zum Beispiel die Kontakte zwischen Microsoft und Intel oder zwischen Microsoft und DEC.

Mit den heutigen Workstations bekommen wir also nicht nur eine IBM/370 auf den Schreibtisch, wir erhalten auch ein Betriebssystem, das an Komplexität einem IBM MVS in nichts nachsteht.