Norweger betreiben Kunden- und Standortanalyse für "Select"-Märkte

Mit Data-Mining baut Shell seinen Einzelhandel aus

11.06.1999
MÜNCHEN (ua) - Schon heute verdient Shell Norwegen mehr durch seine Tankstellen-Shops als mit Autokraftstoffen. Kein Wunder also, daß der De-facto-Einzelhändler dieses Geschäft möglichst effizient gestalten will. Mit Hilfe von Data-Mining erforscht Shell die Kundenbedürfnisse, das Sortiment und die Standortkonditionen seiner "Select"-Märkte.

"Familien sind schlecht fürs Geschäft", fand Terje L+ken, Nordic Format Manager von A/S Norske Shell Scandinavian Retail Motorist Market, heraus, "Studenten aber gut". Die Erklärung dafür liefert er nach: Familien müssen sparen, und bevorzugen daher Sonderangebote, die sie hauptsächlich in Supermärkten finden. Die Select-Märkte aber bieten ihre Produkte nicht zu besonders günstigen Preisen an. Hier zählt vielmehr, daß die Geschäfte 24 Stunden pro Tag geöffnet haben und auch im entlegensten Winkel des Landes zu finden sind, während sich die Supermärkte in den Ballungsräumen konzentrieren.

Statt Grundnahrungsmittel offerieren die Rund-um-die-Uhr-Shops zu einem großen Teil Fast-Food. Das Warenangebot und der leichte Zugang ziehen insbesondere Studenten an, obwohl diese Kundengruppe auch in Norwegen kaum mit Geld prassen kann. Verfügbares Einkommen und Einkaufsverhalten korrelieren also nicht in jedem Fall. Das gehört laut L+ken zu den überraschenden Ergebnissen des Data-Minings.

Aufgesetzt wurde das Analyse-Projekt vor rund einem Jahr. Damals lag die Genauigkeit der Umsatzvorhersage für die Select-Shops bei 75 Prozent. Der Forecast wurde im wesentlichen von einer amerikanischen Beratungsfirma errechnet. Die restlichen 25 Prozent waren wie der Einsatz für ein Glücksspiel zu bewerten, sagt der Manager. Um die Investitionen besser zu schützen, war es notwendig, mehr über die Kunden und über die Attraktivität des Angebots sowie des Standorts herauszubekommen.

Das Konzept der auch als "Convenient-Stores" bezeichneten 24-Stunden-Märkte stammt aus dem Jahr 1991. Der Erfolg der Shops, die in die Tankstellen integriert wurden, überzeugte Shell davon, daß es sich sogar lohnt, Select-Märkte ohne Tankstelle drumherum aufzumachen. Diese Ladenform lebt zu je 50 Prozent von Laufkundschaft - zufällig vorbeikommenden Passanten - und von der Nachbarschaft, diagnostizierte das Unternehmen. Das bisherige Forecast-Modell basierte jedoch auf dem Tankstellen-Prinzip und konnte folglich dem neuen Ladentyp nicht gerecht werden.

Shell sah sich nach neuen Verfahren um. Das Unternehmen probierte etwa die Gravitationsmodellierung und multiple Regressionanalysen aus. Schließlich fand L+ken im eigenen Unternehmen das Data-Mining-Tool "4Thought" von Cognos. Dieses neuronale Netz wurde von der Buchhaltung zu betriebswirtschaftlichen Analysen eingesetzt. Zusammen mit dem norwegischen Anbieter des Werkzeugs, der Hybro Norge AS, Oslo, setzte Shell ein Modell auf, das historische Daten wie beispielsweise Verkaufsstatistiken, Markterhebungen, demographische und geografische Informationen auswertet. Letztere kommen aus dem Geographical Informations System (GIS) "Archview" vom kalifornischen Hersteller Esri, Redlands. Außerdem werden die Basisdaten gespickt mit Angaben über eventuelle Waschstraßen, Breite der Auffahrt, Größe der Läden oder Restaurants sowie Supermärkte in der Nähe. Als das Projekt begann, verfügte Shell in Norwegen über 80 Select-Märkte. Davon hatte nur einer keinen Zapfsäulenanschluß. Die Auswertung der Daten schraubte die Genauigkeit der Umsatzvorhersagen auf 85 Prozent hoch.

Damit stieg zugleich die Profitabilität der Läden um 20 Prozent - das sind rund zwei Millionen Norwegische Kronen (476000 Mark) pro Select-Markt. Doch das Shell-System lernt weiter, je mehr Daten einfließen, je öfter es befragt und durch die Ergebnisse trainiert wird (siehe Kasten auf Seite 55). Es wird gewissermaßen intelligenter.

Eine komplexe Auswertung der Daten von etwa 30 Niederlassungen dauert etwa drei bis vier Tage. Dabei klaubt sich die Software die Informationen hauptsächlich aus Excel-Dateien und der GIS-Anwendung zusammen.

Die Modellierung des Systems nahm zwei Leute rund zwei Monate in Anspruch. In drei Monaten konnten die notwendigen Daten konsolidiert werden. Die Investitionen haben sich laut L+ken bereits nach wenigen Monaten rentiert. "Das System ist einfach und preiswert", sagt er. Mit der Anwendung arbeiten zwei Shell-Mitarbeiter, die in der Verkaufsplanung für die Select-Märkte beschäftigt sind; spezielles IT-Know-how sei dafür unnötig, so der Shell-Manager.

Die Informationen nutzt L+ken einerseits, um die bestehenden Geschäfte gewinnträchtiger zu machen. Zudem plant Shell die Einrichtung neuer Select-Märkte; auch dafür erweist sich das Data-Mining als hilfreich. So zeigte sich, daß der Verkauf von Benzin und Diesel zugkräftiger auf die Kunden wirkt als erwartet; die Planung von Läden ohne die Anbindung an Tankstellen wird zurückgeschraubt beziehungsweise an strengere Auflagen geknüpft. Die Anzahl der Select-Stores erhöhte sich mittlerweile auf insgesamt 115; nur vier davon bieten keinen Kraftstoff an.

Jetzt soll das Data-Mining-Konzept von Shell Norwegen ins Ausland übertragen werden. Die anderen skandinavischen Shell-Betriebe signalisieren ihr Interesse daran. Auch die 600 Tankstellen der im Frühjahr dieses Jahres erworbenen norwegischen "Fina"-Kette sollen damit innerhalb der kommenden zwei Jahre optimiert werden.

Der Erfolg dieser neuen Glieder in der Ladenkette scheint gewisser denn je. Immerhin läßt sie sich mit den Erfahrungen aus dem Data-Mining-Modell planen. Hier zeigt sich aber auch die Grenze für dessen Einsatz. Eingeführte Geschäftsideen sind genauer plan-bar, Risiken genauer kalkulierbar, für die Umsetzung neuer Konzepte hingegen eignet sich das Data-Mining laut L+ken nicht: "Sollte ich beispielsweise vorhaben, Kosmetik für die junge Frau bis Ende zwanzig anzubieten, hätte ich keine Daten zur Verfügung," weiß der Shell-Manager.

Strassenkämpfer, 3S & Co.

Pioneer Petroleum, ein amerikanischer Verarbeiter und Vermarkter von Benzin und Schmierstoffen, teilt seine Kunden in fünf Kategorien* ein, die sich auch bei Shell Norwegen wiederfinden dürften:

- Die Straßenkämpfer: Diese Gruppe macht 16 Prozent der Kunden aus, ist überwiegend männlich, verfügt über ein höheres Einkommen, fährt 40 000 bis 70 000 Kilometer pro Jahr, tankt bevorzugt Super und zahlt mit Kreditkarte. Dieser Kundentypus kauft Brötchen und Getränke an der Tankstelle und fährt manchmal in die Waschanlage.

- Die treuen Seelen: Diese Kundengruppe ist mit 16 Prozent genauso groß. Ihre Mitglieder sind männlich oder weiblich und beziehen ein mittleres bis höheres Einkommen. Sie zeichnen sich insbesondere dadurch aus, daß sie einer Marke und sogar einer Tankstelle treu bleiben. Sie zahlen mit Kreditkarte und tanken gutes Benzin.

- Generation 3S: Stoff, Snack und schnell: Diese Männer und Frauen sind ständig unterwegs und kaufen viel Snacks an der Tankstelle. Sie machen rund 27 Prozent der Kundschaft aus. Etwa die Hälfte von ihnen ist unter 25 Jahre alt.

- Die Hausfrauen: Die Frauen, die ihre Kinder den ganzen Tag herumfahren und an irgendeiner Tankstelle auf dem Weg halten, machen rund 21 Prozent der Kunden aus.

- Die Preisbewußten: Das dürfte die unattraktivste Gruppe für die Tankstellenbetreiber sein. Sie ist meistens knapp bei Kasse, tankt das billigste Benzin und ist weder einer Tankstation noch einer Marke treu.

* Die Kategorisierung stammt aus dem Buch "Balanced Scorecard, Strategien erfolgreich umsetzen" von Robert Kaplan und David Norton, hrsg. von Peter Horvçth, Beatrix Kuhn-Würfel und Claudia Vogelhuber, Stuttgart 1997, Seite 65

Das Unternehmen

Im Geschäftsjahr 1997 konnte A/S Norske Shell rund 3603 Millionen Norwegische Kronen, rund 855,38 Millionen Mark, an Netto-Einnahmen verbuchen. Das Konzept, bei dem der Kraftstoff nur noch als Lockangebot zum Warensortiment von Shell-Shops dient, ist nach Terje L+ken, Nordic Format Manager bei Shell, abhängig vom gesamten skandinavischen Marktgeschehen. Tante-Emma-Läden um die Ecke gebe es auch in Norwegen kaum noch. Bei der relativ geringen Besiedlungsdichte bildeten die Tankstellen ein nahezu flächendeckendes Netz, während sich Supermärkte hauptsächlich in den Ballungszentren fänden.

So schläft auch der Wettbewerb nicht. Der Mitbewerber Statoil hat im Mai mit der schwedischen Einzelhandelskette ICA Group fusioniert. Die neue Firma Detailjhandel Skandinavia AS hat bereits angekündigt, sobald die europäische Kommission dem Merger zugestimmt habe, den ersten Tankstellen-Markt eröffnen zu wollen - in Oslo, unter den Augen des Konkurrenten Shell.

Das neuronale Netz

Der Umgang mit der künstlichen Intelligenz, die im Data-Mining-Tool "4Thought" der Cognos Inc. steckt, setzt zwar kein spezifisches IT-Know-how, doch Fachwissen voraus. Letzteres fließt in den Modellaufbau ein.

Zunächst sind die Maßstäbe festzulegen, nach denen der Geschäftserfolg gemessen werden soll. Dazu gehören das Aufspüren von Abhängigkeiten und die Definition von Output-Variablen. Dann müssen die Einflußfaktoren beziehungsweise -variablen identifiziert werden, die untenehmensspezifisch sind. Aus den Parametern und Abhängigkeiten entsteht ein Modell. Bei einfachen Datenmodellen kann das mit Hilfe von Papier und Bleistift geschehen, für komplexe sollte ein Modellierungs-Tool herangezogen werden.

Letztlich müssen die richtigen Fragen an das System gestellt werden. Dabei kann sich der Nutzer von den Forecast-Möglichkeiten des Tools leiten lassen, die sich an historischen Daten orientieren, oder anhand des eigenen Geschäftsmodells vorgehen.

Laut Anbieter Cognos kann 4Thought große Datenmengen bewältigen, die aus verschiedenen Quellen stammen: Textdateien, Excel- und Lotus-Spreadsheets, "Dbase"-Datenbanken sowie Daten aus den anderen Cognos-Produkten "Impromptu", "Powerplay" und "Scenario". Die Daten müssen nicht im üblichen Sinne "sauber" sein. Das neuronale Netz kann Lücken und Ungenauigkeiten interpretieren und bereinigen. Zu den technischen Voraussetzungen für den Einsatz gehört ein Windows-95- oder ein Windows-NT-Betriebssystem, 16 MB RAM und 16 MB Plattenplatz.