Microsoft ruft die Revolution der Software-Entwicklung aus Intentional Programming soll Anwendungen langlebig machen

29.09.1995

LONDON (IDG) - Am Ende des Jahrtausends werden alle heutigen Programmiersprachen obsolet sein. Das prognostiziert Charles Simonyi, Chefarchitekt in Microsofts Advanced Technology Division. Der Softwarevordenker gab kuerzlich erste Einblicke in eine "Intentional Programming" (IP) genannte Technologie, mit der sich Anwendungen aus unterschiedlichen Softwaregenerationen problemlos verbinden lassen sollen.

Angesichts der grossen Mengen von Legacy-Code stehen die Programmierer, so Simonyi, heute an einem Scheideweg. Sie truegen schwer an der Aufgabe, alte Anwendungen mit modernen Sprachen neu schreiben zu muessen. Mit der Hilfe von IP will Microsoft diesen Widerspruch aufloesen. Dreh- und Angelpunkt der Softwaretechnik soll ein Repository fuer wiederverwendbare Komponenten sein, das laut Simonyi sowohl Objekte als auch prozeduralen Code aufnehmen kann.

Basiselement des Programmieransatzes ist die "Intention". Sie definiert das Aussehen, die Bedeutung und das Verhalten des jeweiligen Stuecks Software. Ein simples Beispiel fuer eine solche Abstraktion: "Ich habe vor, zwei Zahlen zusammenzuzaehlen und sie im Gedaechtnis zu behalten." Die Intentionen sollen in Form von Baeumen und Aesten angeordnet werden, wofuer Microsoft den Begriff "IP Source Tree" gepraegt hat. Der Software-Anbieter verfuegt eigenen Angaben zufolge bereits ueber eine Bibliothek mit 1,7 Millionen "Knoten" (umfassende Intentionen oder Intentionsinstanzen).

Die Knoten enthalten moeglicherweise eine beliebige Anzahl von Zeigern, mit denen sich andere Teile eines Programms adressieren lassen. Anstatt Codezeilen zu schreiben, braucht der Programmierer also nur neue Pointer zwischen den einzelnen Knoten zu entwickeln.

Verfuegbar erst zur Jahrtausendwende

Als vermarktungsfaehiges Produkt wird IP aber voraussichtlich nicht vor dem Jahr 2000 existieren. Zunaechst einmal will Microsoft die Technologie im eigenen Haus nutzen.

Wie Simonyi erlaeutert, besteht ein Vorteil des Ansatzes darin, dass er mit traditionellen Computersprachen in Einklang zu bringen sei. Deshalb muesse eine existierende Anwendung nicht mehr komplett neu geschrieben werden. Vielmehr lasse sich der Code mit Hilfe sprachenspezifischer Parsing-Programme in Form von IP-Knoten abbilden. Die beiden ersten Sprachen, die auf diese Weise unterstuetzt werden, sind C++ und Fortran.

Aus Simonyis Sicht wird IP die alten Programmiersprachen genauso obsolet machen, wie die PCs die Schreibcomputer verdraengt haben. Die Tatsache, dass sich individuelle Funktionen aller Sprachen als Intentionen ausdruecken liessen, ermoegliche eine relativ problemlose Koexistenz. Die Entwickler koennten sich fuer jeden Job einen speziellen Werkzeugkasten aus unterschiedlichen Sprachen zusammenstellen. Programmiersprachen mit festgelegten syntaktischen und semantischen Regeln gehoerten also der Vergangenheit an - ebenso wie der Konflikt zwischen der Entwicklung neuer Hochsprachen und der Existenz zahlreicher Altanwendungen. "Wir nennen diesen Zustand Software- Unsterblichkeit", schwaermt der Microsoft-Manager.

Fuer Simonyi zaehlt auch Objektorientierung zu den spezifischen Funktionen existierender Programmiersprachen. "IP konkurriert nicht mit objektorientierter Programmierung", erlaeutert der Software-Experte, "es befindet sich einfach auf einer hoeheren Ebene der Abstraktionshierarchie."

Anlaesslich einer in Newcastle, England, abgehaltenen Konferenz konnte Simonyi die neue Technologie kuerzlich einem Fachpublikum vorstellen. Die Reaktionen waren begeistert, wenngleich einige Software-Experten einraeumten, sie haetten die Funktionsweise nicht ganz verstanden. Laut Simonyi hat Microsoft im IP-Umfeld bereits eine Reihe von Patenten beantragt.