"Microsoft ist verwundbar"

13.03.1998

CW: Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend. Wie wird das Internet die Art und Weise beeinflussen, in der wir Geschäfte abwickeln?

DERTOUZOS: Vorsichtige Schätzungen gehen für die Jahrhundertwende von Transaktionen im Wert von mehr als zehn Milliarden Dollar über das Internet aus. 1996 waren es nach meiner Beobachtung einige hundert Millionen Dollar, 1997 lagen wir über 1,5 Milliarden. Ich würde aber noch weiter gehen und sagen, daß wir relativ früh im 21. Jahrhundert drei Billionen Dollar erreichen werden. Ich würde etwa auf 2025 tippen.

CW: Wie kommen Sie auf diese Zahlen?

DERTOUZOS: Der Wert der Arbeit, die von Angestellten erledigt wird, liegt derzeit bei neun Billionen Dollar, das entspricht 60 Prozent unserer Wirtschaft. All das könnte rein theoretisch in das Internet einfließen, aber das wird es wohl nicht. Ich gehe wie gesagt von einem Viertel bis einem Drittel aus.

CW: Wie steht es mit Electronic Commerce?

DERTOUZOS: Es ist sehr schwer, dazu präzise Aussagen zu machen, weil eine klare Definition von E-Commerce nicht ganz einfach ist. Stellen Sie sich vor, Sie haben 5000 Buchhalter in China, und diese verkaufen ihre Arbeit für einen Dollar pro Stunde an General Motors - ist das bereits Electronic Commerce? Auf jeden Fall hat elektronischer Handel über das Web bisher mit Sicherheitsproblemen zu kämpfen. Diese werden mit dem Wachstum des Internet noch zunehmen.

CW: Welche Lösungen sehen Sie für diese Probleme?

DERTOUZOS: Es gibt derzeit keinerlei technologischen Gründe, warum wir keine hundertprozentige Sicherheit haben. Wir müssen uns lediglich einigen, welcher Standard benutzt werden soll. Würden wir alle das Zwei-Schlüssel-System mit öffentlichen und privaten Schlüsseln - meiner Meinung nach die beste Lösung - akzeptieren, wäre das Problem aus der Welt. Wir könnten das bereits morgen tun, wenn wir uns nur darauf einigen würden.

CW: Wo wir gerade bei Leuten sind, die sich nicht einigen: Was halten Sie von Microsoft gegen Netscape oder eventuell Microsoft gegen den Rest der Industrie?

DERTOUZOS: Die meisten Leute verstehen nicht, was da passiert. Microsoft ist verwundbar. Hier am MIT arbeitet ein Typ, der eine Software geschrieben hat, mit der er mehr Leute erreicht hat als Gates mit Windows 95. Sein Name ist Tim Berners-Lee, er hat das World Wide Web erfunden. Er kann gewissermaßen mehr verkaufte Stückzahlen vorweisen als Microsoft. Wenn also ein einzelner mit einer Erfindung Windows in den Schatten stellen kann, was läßt sich dann mit der Rückendeckung durch eine große Company erst erreichen?

CW: Es passiert aber nicht.

DERTOUZOS: Weil in der IT gute Ideen fehlen. Wenn jemand einen richtig guten Einfall hätte, ihn ausbauen und daraus eine brauchbare und wirklich nützliche Lösung machen würde, könnte er damit sehr leicht mit Microsoft konkurrieren.

CW: Hat Microsoft keine guten Ideen?

DERTOUZOS: Microsofts modus operandi ist zumeist, vielversprechende Konzepte anderer zu übernehmen und ihnen den eigenen Stempel aufzudrücken.

CW: Aber hat Netscape mit "Mosaic" nicht das gleiche gemacht? Und hat Apple nicht bei Xerox geklaut, als sie den Macintosh bauten?

DERTOUZOS: Richtig. Dieses gegenseitige Übernehmen von Ideen, das in Japan als das "Lernen vom großen Meister" verbreitet ist, gehört zu unserer Branche. Solange es innerhalb der Gesetze geschieht, ist daran auch nichts auszusetzen. So bewegt sich das ganze Feld vorwärts. Gute Ideen werden kopiert. Ich weiß nicht, warum die Leute das so schlimm finden.

CW: Was sehen Sie als größte Herausforderung in naher Zukunft?

DERTOUZOS: Das Internet und das Web befinden sich in einer noch frühen Entwicklungsphase: Wir schauen uns Bilder an, die Tausende Meilen entfernt sind oder gerade um die Ecke. Das ist weit von dem entfernt, was uns der Informations-Marktplatz bringen wird. Wir werden Arbeit über das Web anbieten, verkaufen und austauschen. Wie kann ein Arzt jemanden aus der Entfernung heilen? Wie können chinesische Buchhalter ihre Arbeit an General Motors verkaufen? Wir müssen Wege finden, wie sich diese Dinge realisieren lassen. Und das bedeutet auch, die technischen Fähigkeiten des Netzes zu verbessern.