Microsoft Exchange gegen Lotus Notes Ein technischer Vergleich der wichtigsten Groupware-Systeme

17.03.1995

Von Michael Wagner*

Als Konkurrenz zur Groupware-Killer-Applikation Lotus Notes kommt aus Redmond im US-Bundesstaat Washington der "Exchange Server" von Microsoft. Ist er das System der Wahl fuer unternehmensweite Informationsnetze? Worin unterscheiden sich die Produkte, und was sind ihre spezifischen Vor- und Nachteile? Ein detaillierter Vergleich soll Aufschluss ueber diese Fragen bringen.

Ungleicher koennte der Kampf, der sich um den noch so jungen Groupware-Markt zu entwickeln scheint, wohl kaum sein. Auf der einen Seite Lotus Development, ein Unternehmen, dass mit dem Produkt Notes einen Massstab fuer Groupware-Produkte gesetzt hat. Auf der anderen Seite der um ein Vielfaches groessere Desktop- Software-Gigant Microsoft, der mit aller Macht in das Server- und Systemgeschaeft draengt.

Microsoft will in eine Lotus-Domaene einbrechen

Wer in diesem Spiel die Rolle des David oder die des Goliath uebernehmen wird, steht allerdings noch keineswegs fest, denn der reine Groessenvergleich ist relativ. Lotus beherrscht mit ueber einer Million verkaufter Lizenzen den Groupware-Markt, waehrend Microsoft in diesem Sektor bislang praktisch nicht vertreten ist. Das Unternehmen aus Cambridge, Massachusetts, wurde zwar von einigen Analysten bereits etwas vorschnell als Uebernahmeobjekt gehandelt, es verfuegt aber ueber langjaehrige Einsatzerfahrung, Implementierungen auf den wichtigsten Betriebssystem-Plattformen und eine

Fuelle von Zusatzprodukten von Drittanbietern.

Mit dem Produkt Exchange, das einige Zeit unter den Codenamen "Touchdown" und "Enterprise Message Server" lief, versucht Microsoft in diese Domaene von Lotus Development einzubrechen. Einige Anzeichen deuten jedoch darauf hin, dass das keineswegs so einfach sein wird, wie es nach der vollmundigen Ankuendigung im letzten Herbst zunaechst den Anschein hatte. Nicht zuletzt die anhaltenden Verzoegerungen bei der Entwicklung von Exchange und die Berichte ueber grundlegende Probleme mit der Software lassen aufhorchen. Eine Einschaetzung der Marktchancen kann daher nur ein direkter Vergleich der Produkteigenschaften liefern.

Schluesseltechnologie Replikation

Was Lotus Notes fuer den Einsatz als Unternehmensinformationssystem so interessant macht, ist die bislang einmalige Kombination aus ueberschaubarer Anwendungsentwicklung, einfacher Administration und der lange Zeit einzigen kommerziellen Implementierung asynchroner Replikation. Ein Replikationsmechanismus gleicht Aenderungen zwischen verteilten Datenbanken ab. Er ermoeglicht ueberall dort, wo die Tagesaktualitaet der Informationsabgleiche ausreicht, den Aufbau einer Kommunikationsstruktur zu einem Bruchteil der Kosten synchroner Systeme, wie etwa verteilter Datenbanken.

Auch Exchange bietet aus diesem Grund einen Replikationsmechanismus, der neben dem obligatorischen Netzwerkprotokoll im Unterschied zu den direkten Modemverbindungen von Notes ueber das Medium der elektronischen Post arbeiten kann. Die E-Mail-Adressierung ist in beiden Systemen X.400-basiert. Doch Notes verwendet ein eigenes Weiterleitungssystem, waehrend Microsoft auf Standard-X.400-MTAs (Mail Transfer Agents) setzt. Zusaetzlich wird Exchange eine dem vorlaeufigen X.500-Standard entsprechende Verzeichnisstruktur mit Abgleichmoeglichkeiten bieten, die Notes bislang vermissen laesst.

Exchange stellt im wesentlichen die logische Weiterfuehrung der Microsoft-Mail-Produktreihe mit einigen Ergaenzungen dar. Als Speichermedium dient dem System eine zu MAPI 2.0 kompatible Objektverwaltung. Sie ermoeglicht die Speicherung von OLE-2.0- Objekten in einer Dateisystem-aehnlichen Verzeichnisstruktur. Gleichzeitig ist dadurch allerdings der Replikationsmechanismus auf den Abgleich ganzer Folder festgelegt.

Notes hingegen ermoeglicht eine Replikation einzelner Dokumente zwischen verteilten Kopien der dokumentenorientierten Datenbanken. Beide Systeme bieten jedoch keine Replikation von Feldaenderungen und auch keine Moeglichkeit der Replikation zwischen unterschiedlichen Datenbanken (Notes) beziehungsweise Foldern (Exchange).

Die Achillesferse heisst Integration

Als weiterer Problempunkt zeichnet sich die inhaltsbezogene Integration beider Groupware-Plattformen mit existierenden Applikationen ab. Beide Systeme koennen zwar OLE-Objekte verwalten, die Steuerung beispielsweise von Verwaltungsablaeufen in Abhaengigkeit von den Inhalten dieser Objekte, wie sie zum Beispiel fuer Budgetgrenzen im Workflow-Bereich alltaeglich sind, ist dagegen nicht ohne weiteres moeglich.

Lotus hat fuer Notes mit Field Exchange (FX) eine eigene Applikations-Schnittstelle zur Loesung dieses Problems geschaffen. Die entsprechende Integration laesst sich mit Exchange hingegen nur durch eine explizite Programmierung der entsprechenden Operationen der OLE-Objekte erreichen.

Waehrend Exchange auf OLE 2.0 zugeschnitten wird, ist die OLE Integration in Notes eher problematisch. Auch wenn Notes einst selbst von Microsoft als OLE-Pionier und -Vorreiter gepriesen wurde, so gibt es in der Praxis eine Fuelle von Problemen bei der Benutzung dieses Features. Die Palette reicht dabei von der Arbeitsverweigerung bei groesseren Dokumentenumfaengen bis hin zu gelegentlichen Abstuerzen aufgrund von Inkompatibilitaeten mit neueren OLE-Applikationen. Ebenfalls negativ macht sich bemerkbar, dass Notes bislang nicht als DDE- oder OLE-Server dienen kann, was den Zugriff auf Notes-Datenbanken aus anderen Anwendungen heraus extrem erschwert. Entsprechende Zugriffsmoeglichkeiten bieten beide Systeme ohnehin nur ueber ihre Programmier-Schnittstellen.

Moeglichkeiten zur Anwendungsentwicklung

Was die Moeglichkeiten zur Anwendungsentwicklung angeht, so unterscheiden sich beide Systeme fundamental: Notes stellt eine kryptische Makrosprache zur Implementierung der wichtigsten Aufgaben zusaetzlich zu festen APIs bereit. Microsoft setzt bei Exchange auf die Verbreitung von Visual Basic fuer Applikationen und bietet im uebrigen die allgemeinen MAPI-Schnittstellen sowie die ueblichen Software-Entwicklungsumgebungen.

Lotus hat ueber die reinen Programmier-Schnittstellen hinaus zwei Werkzeuge geschaffen, die die Entwicklung eigenstaendiger Notes- Anwendungen wesentlich vereinfachen. Die Entwicklungsumgebung Visual Interface Programmer (ViP) ist ein grafischer GUI-Builder, der Lotusscript, eine Visual-Basic-verwandte Makrosprache, erzeugt. Bislang ist ViP allerdings noch ein eigenstaendiges Produkt, dessen gaenzliche Integration fuer die kommende Version 4.0 von Notes geplant ist. Ein aehnliches Werkzeug ist Lotus Forms, das fuer das reine Formular-Management entwickelt wurde.

Eine Reihe von Zusatzprodukten ermoeglicht zudem die Entwicklung von Notes-Anwendungen in verschiedenen Programmiersprachen. Allen diesen Umgebungen ist jedoch gemein, dass sie nur auf der Client- Seite arbeiten und Notes-Server nach wie vor die Replikation verwalten.

Die Unterschiede der Architekturen

Beide Systeme arbeiten als Peer-to-peer-Netzwerk zwischen Servern sowie als Client-Server-System zu den Benutzer-Schnittstellen hin. Waehrend Notes inzwischen drei verschiedene Client-Versionen anbietet, soll die Exchange-Client-Funktionalitaet in das Windows- Release Windows 95 integriert werden.

Lotus bietet neben dem Notes-Standard-Client und das auf fuenf vordefinierte Datenbanken beschraenkte "Notes-Express" nun mit "Notes-Desktop" eine weitere Alternative. Sie verzichtet auf die verwirrende Vielfalt von Administrationsfunktionen und laesst lediglich eine Benutzung beliebiger vordefinierter Anwendungen zu, waehrend deren Aufbau nur von normalen Notes-Clients veraendert werden kann.

Als Exchange-Client kann dagegen jede Windows-95-Installation dienen. Die "Explorer" genannte Datei-Manager-Alternative von Windows 95 wird unter anderem den Zugriff auf die Objekthierarchien von Exchange erlauben. Die Implementierung von Anwendungen, die ueber das Oeffnen von OLE-Objekten hinausgehen, beduerfen aber mit Exchange nach wie vor einer intensiven Entwicklungsarbeit mit den genannten Programmiersprachen.

Schwaechen bei der Administration

Die Administration von Notes-Netzwerken gestaltet sich problematisch. Trotz der Moeglichkeit der Steuerung mehrerer Notes- Server von einer Administrationsstation aus ergibt sich bei grundlegenden Problemen mit der Server-Software oft die Notwendigkeit der Wartung vor Ort. Insbesondere weil Notes ein eigenes Protokoll fuer den Systemzugriff ueber Modem und Telefonleitungen benutzt, besteht nach dem Anhalten des entfernten Servers keine Chance, diesen wieder zu starten.

Diesen Problemkreis hat Lotus erkannt und mit der Entwicklung der kuerzlich angekuendigten "Notes-View" die Integration von "HP Openview" mit Notes auf der Basis von SNMP (Simple Network Management Protocol) unter TCP/IP implementiert. Die Administration von Exchange beschraenkt sich dagegen auf die Benutzerverwaltung in Windows NT, in das Exchange eng eingebunden ist.

Ferner soll es eine weitergehende Integration mit dem in Entwickung befindlichen "System Management Server" (SMS) von Microsoft geben. Was die Sicherheitsaspekte angeht, so benutzen beide Systeme den Industriestandard RSA fuer die Authentisierung und die Verschluesselung geheimer Daten.

Moeglichkeiten zur Nutzung von Internet

Insbesondere aufgrund der anhaltenden US-amerikanischen Diskussion um den Information-Highway koennen weder Microsoft noch Lotus das weltweit groesste Netzwerk, das Internet mit seinen 80 Millionen Benutzern, ignorieren. Waehrend eine Integration der E-Mail-Systeme relativ einfach zu realisieren ist, steigt die Nachfrage nach anderen Netzwerkdiensten.

So arbeitet Lotus Development selbst an einem Gateway von Notes zum World Wide Web (WWW), dem aeusserst schnell wachsenden weltumspannenden Informationssystem im Internet. Weitere Internet- Werkzeuge, wie zum Beispiel ein Gateway, entwickeln derzeit Drittanbieter. Eine Internet-Anbindung fuer Exchange ist ebenso geplant wie eine Einbindung des Microsoft-eigenen Netzwerks. Details dieser Integrationen sind jedoch noch nicht bekannt. Gateways zu diversen anderen E-Mail-Systemen wurden dagegen bereits vor laengerem angekuendigt.

Notes bietet bessere Heterogenitaet

Was die Implementierung von Groupware-Loesungen in heterogenen Netzen anbetrifft, so sind die Fronten klar: Notes bietet das breiteste Portabilitaetsspektrum unter allen Groupware-Systemen an: Windows, OS/2, Netware, Windows NT, die Unix-Derivate SunOS, Solaris, HP/UX, SCO und AIX auf der Server-Seite sowie dieselbe Palette - ausser Netware, aber zuzueglich Macintosh - auf der Client-Seite. Zusaetzlich zur Dateikompatibilitaet der Notes- Datenbanken ueber alle diese Plattformen hinweg bieten Lotus sowie diverse Softwarehaeuser Gateways zu anderen Datenbanken und E-Mail-Systemen an.

Microsoft will den Exchange Server hingegen nur fuer Windows NT implementieren. Lediglich Exchange-Clients wird es zusaetzlich zum Explorer des Windows 95 zumindest auch fuer NT und Unix-Systeme geben. Fuer die Anbindung an diverse Datenbanken und E-Mail-Systeme sorgen ebenfalls Produkte von Drittanbietern.

Der Ausgang des Rennens ist laengst nicht klar

Dieser Produktvergleich macht deutlich, das es keineswegs absehbar ist, welcher der Kontrahenten die besseren Voraussetzungen dazu hat, das Rennen zu gewinnen. Ob Microsoft in den Groupware-Markt einbrechen und Lotus folglich signifikant Marktanteile verlieren wird, ist bis auf weiteres ungewiss.

Lotus besitzt ein weitverbreitetes Produkt und kennt die Probleme der Praxis, waehrend Microsofts Exchange noch in den Kinderschuhen steckt. Andererseits verfuegt es ueber eine neuere Technologie als Notes, das noch mit einer Fuelle hausgemachter Implementierungsprobleme zu kaempfen hat.

Alles deutet also darauf hin, dass es fuer eine gewisse Zeit ein Nebeneinander der Konkurrenten geben wird. Nicht zuletzt wird die Entwicklung von Exchange entscheidend von der Verbreitung der Betriebssystem-Plattform NT abhaengen, was moeglicherweise auch umgekehrt der Fall sein kann.