MES-Software schließt ERP-Lücken

02.06.2006
Mit Planungs- und Steuerungssoftware, so genannten Manufacturing Execution Systems (MES), verfeinern Produktionsbetriebe ihre Prozesse.
Manufacturing Execution Systems sollen produktionsnahe und betriebswirtschaftliche IT-Umgebungen miteinander verbinden.
Manufacturing Execution Systems sollen produktionsnahe und betriebswirtschaftliche IT-Umgebungen miteinander verbinden.

Während ERP-Lösungen administrative Aufgaben in Industrieunternehmen steuern, sind die fertigungsnahen Firmenbereiche weit weniger mit Standardsoftware ausgestattet. Gleichwohl gibt es hier Lösungen: Manufacturing Execution Systems (MES). Bisher führten sie ein Schattendasein, doch langsam steigt das Interesse an solchen Lösungen: MES kann technische Einflussgrößen aus der Fertigung (Maschinenstillstände, Verfügbarkeit von Personal) erfassen und gezielt gegensteuern. Engpässe, die dem ERP-System verborgen bleiben, lassen sich so frühzeitig identifizieren. Detaillierte Daten von Maschinenleitständen werden aufbereitet und an ein übergeordnetes Planungssystem (ERP- oder Produktionsplanungs- und -steuerungssystem) zurückgegeben.

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574463: MES für Metallverarbeiter;

575502: SAP-Konnektor erlaubt Echtzeitplanung;

573541: Fertigungs- und Logistiksoftware für Autozulieferer;

576533: Infor kauft SSA Global.

Woraus besteht ein MES?

Zu einen MES-System gehören unterschiedliche Softwarebausteine, wobei hier die Ansichten der Anbieter divergieren. Der Hersteller MPDV beispielsweise zählt dazu:

• Auftragsdatenerfassung;

• Maschinendatenerfassung;

• Leitstandsplanung;

• Prozessdatenerfassung;

• Material- und Produktionslogistik;

• Werkzeug- und Ressourcen-Management;

• Software für Direct Numerical Control (DNC) zur Maschinensteuerung.

MES-Anbieter mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Funktionaler Schwerpunkt laut Anbieterangaben unter www.it-matchmaker.com)

Anbieter Produktname Internet-Adresse Generalist Spezialist für

Adicom Informatik GmbH Adicom Software-Suite www.adicom.de x

Applied Materials GmbH WorkStream www.appliedmaterials.com Datenerfassung und -auswertung; Produkt- und Qualitätsdaten

Dr. Sander & Associates Bionic Tools www.dr-sander.com Feinplanung und -steuerung Software GmbH Production Line

Fauser AG JobDispo MES www.fauser.de x

Forcam GmbH Factory Framework www.forcam.de x

Gfos mbH X/Time-MES www.gfos.de Datenerfassung und -auswertung

Grass GmbH CoAgoMES www.grass-gmbh.de x

PSI AG PSImes www.psipenta.de x

GTT Gesellschaft für FAST/pro, FAST/log www.gtt-online.de Feinplanung und -steuerung Technologie Transfer mbH

Guardus Solutions AG Guardus MES www.guardus.de x

IBS AG IBS:prisma BDE/MDE/CAQ www.ibs-ag.de Datenerfassung und -auswertung; Produkt- und Qualitätsdaten

Industrie Informatik GmbH Cronet Work www.industrieinformatik.com x

SCM Solutions GmbH Infor SyteLine APS www.scmsolutions.de Feinplanung und -steuerung

Inform GmbH Felios www.inform-ac.de Feinplanung und -steuerung

InQu Informatics GmbH F@stchain Manufacturing www.inqu.de x Execution System

iTAC Software AG easy works www.itac.de Datenerfassung und -auswertung; Produkt- und Qualitätsdaten

Kratzer Automation AG intraFACTORY www.kratzer-automation.com x

MPDV Mikrolab GmbH Hydra www.mpdv.de x

Salt Solutions GmbH [s]-production www.alexa.salt-solutions.de x

Siemens AG Automation Simatic IT www.siemens.com/simatic-it x and Drives

Tisoware Gesellschaft für Tisoware.MES www.tisoware.com Datenerfassung und -auswertung Zeitwirtschaft mbH

Wonderware GmbH Wonderware FactorySuite www.wonderware.de Datenerfassung und -auswertung; Produkt- und Qualitätsdaten

(kein Anspruch auf Vollständigkeit) Quelle: Fraunhofer IPA, Trovarit AG 2006

Termine von Kundenaufträgen verschieben

Diese Rückmeldung kann zum Beispiel eine Terminverschiebung bei Fertigungsaufträgen beinhalten, die sich auf einen im ERP-System angelegten Liefertermin für einen Kundenauftrag auswirkt. Verschieben sich Termine, kann der Einkauf Bestellungen nach hinten verlegen, damit zu früh gelieferte Waren nicht nutzlose Lagerkosten verursachen beziehungsweise Kapital binden. Da zwischen Terminzusage und Auftragserfüllung viel passieren kann, sollen MES-Produkte einen Regelkreis zwischen betriebswirtschaftlicher Standardsoftware und dem Maschinenpark schließen. Betriebsinformationen aus der Fertigung werden so mit Aufträgen in Relation gebracht.

Allerdings zählt MES zu den Schlagworten, unter denen sich Hersteller und Anwender ganz unterschiedliche Dinge vorstellen können. Jörg Rehage, Chef der Beratungsfirma F&M Consulting, geht sogar so weit, die MES-Produkte als "alten Wein in neuen Schläuchen" abzutun. Viele MES-Lieferanten definieren ihre APS-Lösungen (Advanced Planning & Scheduling, Auftragsfeinplanung) einfach um, die eher eine Verlängerung des ERP-Systems darstellen. Andere Spezialisten befassten sich mit Betriebsdaten- und Maschinendatenerfassung (BDE und MDE), würden diese aber nun als MES vermarkten.

Eine Einordnung einiger Marktteilnehmer hat die Firma Trovarit AG aus Aachen gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung aus Stuttgart vorgenommen (siehe Tabelle). Darin finden sich neben MES-Generalisten auch Hersteller, die ihren Schwerpunkt auf die Feinplanung von Fertigungsaufträgen, die Datenerfassung und -auswertung sowie das Sammeln von Produkt- und Qualitätsdaten gelegt haben (siehe Tabelle).

Bekannte Verfahren werden kombiniert

Da erst die Kombination verschiedener Teildisziplinen ein MES ausmacht, sei Berater Rehage zufolge ein solches System im Grunde kaum als fertige Lösung zu bekommen, sondern müsse durch viele kleine Softwareprojekte erarbeitet werden. Um neue Technik handle es sich dabei oft nicht. "Zurzeit trommeln die MES-Anbieter sehr laut, doch mit diesen Botschaften konfrontierte Fertigungsbetriebe erkennen nach anfänglicher Verunsicherung rasch, dass es sich meist um bekannte Funktionen handelt."

Doch auch MES-Kritiker Rehage sieht grundsätzlich Bedarf für neue Fertigungslösungen bei Industrieunternehmen. Der Grund: In den letzten Jahren haben sich die Losgrößen in der industriellen Produktion verkleinert. "Früher hat man 10 000 Teile auf Halde produziert. Heute wird viel öfter auftragsbezogen gefertigt, da das Lagern teuer ist." Zudem verlangen Kunden nach kürzeren Lieferzeiten. Dies können Autohersteller bestätigen, denn auch dort wird der Einfluss des Kunden größer: "Der Käufer bestimmt heute die Durchlaufzeiten bei Ford", stellt Paul Lemoine fest, der im Kölner Werk die Montage leitet. Er bemängelt, dass in seinem Industriezweig einerseits Produkte immer individueller werden, andererseits aber schlechte Planung die Ressourcen verschwende.

Eigentlich sollen ERP-Systeme genau das verhindern. Doch mit der auftragsbezogenen Fertigung hat laut Rehage so manches ERP-System, das bedarfs- und absatzorientiert arbeitet, seine liebe Mühe. Wo ERP-Lösungen ein Problem bekommen, beginnen die Vorzüge der MES-Produkte. Dazu zählt eine rasche Reaktion auf Ereignisse.

Besonderheiten im Anlagen- und Maschinenbau

Dies setzt eine genaue Erfassung von Ist-Werten aus der Produktion voraus, die sich viele MES-Hersteller auf die Fahnen schreiben. Doch nach Ansicht von Paul-Gerhard Schmidt, Seniorberater beim ERP-Hersteller Hinrichs + Müller, wäre es zumindest für den Anlagen- und Maschinenbau zu kurz gegriffen, nur die aktuelle Situation zu betrachten. "Für den Auftragsfertiger ist die Vorhersage, mit welcher Auslastung er in drei Monaten rechnen muss, viel wichtiger als der Ist-Zustand." Zudem sind im Anlagenbau zahlreiche Änderungen üblich, dazu zählen wachsende Stücklisten. Aus diesem Grund seien viele von MES-Anbietern propagierten Produktionsleitstände für den klassischen Serienfertiger wenig geeignet für diskrete Fertigungsabläufe.

Regelkreis basiert oft auf Papier

Zwar liegen die Vorteile von MES-Produkten auf der Hand, doch die Unternehmenspraxis ist eine andere. "Heute laufen diese Regelkreise meistens papierbasiert, und Anwender schummeln sie ins ERP-System hinein", meint Hans-Hermann Wiendahl, Fachreferent am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung in Stuttgart.

Dass es durchaus anders geht, beweist die Firma Rietschle Thomas aus Schopfheim. Das Industrieunternehmen fertigt unter anderem Vakuumpumpen und steuert die Fertigung mit dem MES "Felios" von Inform . Dieses Produkt ist mit dem ERP-System Psipenta des gleichnamigen Berliner Softwareanbieters verbunden. Die ERP-Lösung übermittelt dem MES-Produkt täglich über eine Dateischnittstelle Bewegungsdaten wie Aufträge, Bestellungen, Lagerbestände und eingeplante beziehungsweise begonnene Fertigungsaufträge.

Nur Experten verwenden MES im Unternehmen

Ergeben sich auf Ebene der Fertigungsmaschinen Terminverschiebungen, liefert Felios Zeitinformationen, die das ERP-System dazu veranlassen, Starttermine für Aufträge zu verschieben. Allerdings befindet sich die direkte Kopplung noch in der Testphase, denn bisher tragen Anwender die ermittelten Daten noch manuell nach. "Ein Vorteil der Inform-Lösung gegenüber der ERP-Software ist, dass wir zum Beispiel einen Fabrikkalender führen können, in dem sich Ausfalltage hinterlegen lassen", so Bernhard Falk, Leiter Informatik. Dies wäre im ERP-System mit gleicher Genauigkeit kaum möglich, und selbst durch komplexe Anpassungen der Standardsoftware würde man nicht die gleichen Funktionen erhalten. Das MES-Produkt wird nur von einigen Experten verwendet, beispielsweise von den Werksmeistern. Insgesamt 310 Lizenzen hat Rietschle Thomas für das ERP-System erworben, aber nur 20 für das Inform-Produkt.

Zwar koppeln Anwenderunternehmen ihre ERP- und MES-Produkte, allerdings besteht die Integration oft nur aus einer Dateischnittstelle, oder die Firmen verwenden spezielle Middleware. Verbindliche Standards für die Daten beziehungsweise deren Austausch gab es bisher nicht. Doch das ändert sich: Die Spezifikation "ISA S95" beschreibt, welche Inhalte zwischen beiden Systemwelten ausgetauscht werden sollen. Sie könnten den Integrationsaufwand drastisch reduzieren. Mit B2MML (Business to Manufactoring Markup Language) gibt es darüber hinaus ein XML-Schema für den Datenaustausch zwischen ERP und MES.

XML-Schema zur MES-ERP-Kopplung

Beispielsweise verwendet der MES-Hersteller Wonderware B2MML, um die Integration mit SAPs Infrastrukturplattform "Netweaver" zu bewerkstelligen. Der "Wonderware Enterprise Integrator" soll den auftragsbezogenen Datenfluss vom ERP-System MES-gerecht umwandeln, sprich, einen Kundenauftrag in Fertigungs- und Fremdfertigungsaufträge zerlegen. Neben dem Datenaustausch stellt die Wonderware-Technik auch eine Anbindung ins "Netweaver Portal" zur Verfügung. "iViews" (Module für SAPs Portal) gestatten es, Informationen aus der ERP- und der MES-Umgebung in einer gemeinsamen Portaloberfläche anzuzeigen. Anwender aus der Fertigung können den Zustand der Produktionsprozesse einsehen und mit Aufträgen im ERP-System in Zusammenhang bringen. Zudem sehen sie Materialbestände ein und erfahren, welche Fertigungsaufträge beendet sind. In Deutschland gibt es bis dato aber noch keinen Anwender dieser SAP-Kopplung, lediglich Interessenten.

SAP hält sich mit Produkten vornehm zurück

ERP-Marktführer SAP selbst bietet keine MES-Produkte an und überlässt dieses Segment Drittfirmen beziehungsweise den eigenen Partnern. Zu ihnen zählt die Firma Osco Olbricht, Seehaus & Co. Consulting GmbH aus Mannheim. Deren gleichnamiges Produkt eignet sich dazu, auf Grundlage des ERP-Systems aus Walldorf BDE und die Feinplanung von Fertigungsaufträgen vorzunehmen.

Kundenindividuelle Stahlproduktion

Der Stahlerzeuger Wuppermann AG aus Leverkusen hat Anfang dieses Jahres die Osco-Lösung auf Basis von Mysap ERP für den Unternehmensteil Flachstahl eingeführt. Die Firmensparte verarbeitet Rohstahl im Kundenauftrag. Das Industrieunternehmen veredelt Stahl, indem einzelne Rollen (Coils) verzinkt und aneinander geschweißt werden. Was sich einfach anhört, ist komplex, denn die Kunden haben individuelle Wünsche: Beispielsweise müssen die Stahlfertiger die jeweiligen Verpackungsvorschriften sowie abweichende Merkmale wie die Dicke der Zinkschicht, Breiten und Gewichte berücksichtigen. Zu den zu erfassenden Betriebsdaten zählt das Stahlgewicht: Das Rohmaterial wird abgebeizt, wodurch sich das Gewicht verringert.

Grenzziehung zwischen MES- und ERP-Ebenen

Nach dem Zinkbad ist das Material schwerer, nach dem Kantenzuschnitt wieder leichter: "Aus Merkmalsbeschreibungen können wir Stücklisten und Arbeitspläne erzeugen. So etwas wäre im SAP-Standard gar nicht abzubilden", so Vorstand Theodor Wuppermann. Zuvor betrieb das Unternehmen schon eine Nischenlösung mit ähnlichem Funktionsumfang. Deren Hersteller ist aber bereits vom Markt verschwunden.

Glaubt man den Äußerungen der Hersteller, so fehlt es noch oft am Verständnis bei den Anwenderunternehmen. Ein Problem dabei ist schlicht die Grenzziehung zwischen ERP und MES. Wie weit in die Fertigung reicht die ERP-Umgebung, und wann im Prozess übernimmt das MES? "Im Grunde könnte bei uns das MES fast alle Aufgaben des ERP-Systems erfüllen, wenn wir es wollten", gibt IT-Leiter Falk von Rietschle Thomas zu bedenken.

Obwohl es schon länger Lösungen gibt und Fachleute die Lücken zwischen ERP- und Produktionswelt erkannt haben, hat sich MES nie auf breiter Front durchgesetzt. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil sich die oft vergleichsweise kleinen MES-Hersteller bislang kaum Gehör verschaffen konnten. Firmen wie Wonderware hoffen nun, dass SAP das Bewusstsein für das Thema in den Führungsetagen weckt.