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Merlin: Das Geheimnis eines Codenamens

31.05.1996

Anders als beim Militär stehen Codenamen in der Wirtschaft nicht für ein geheimzuhaltendes Projekt, sondern sollen Wichtigkeit signalisieren. Da ist dann schon die Wahl der Bezeichnung wichtig, Marketing-Stäbe können sich wochenlang die Köpfe darüber zerbrechen. Das Ergebnis kann trotz aller Mühen zweifelhaft sein.

Wahrscheinlich haben die bemühten IBMer gemerkt, daß "Warp" nun doch eine etwas überzogene Bezeichnung für die Geschwindigkeit ist, mit der sich OS/2 am Markt entwickelt. Es müßte schon mit Wunderdingen zugehen, um die verschiedenen Windows-Varianten noch einzuholen. Und wer bringt solche Wunder fertig? Der Vorschlag "Jesus" wurde abgelehnt die Honorarforderungen des Papstes für die Nutzung des Namens wären horrend gewesen.

Da kam ein IBMer - er hatte am letzten Wochenende mit seinem Sohn schwarzer und weißer Ritter gespielt - auf die rettende Idee: Merlin, genau dieser weise Ratgeber und Zauberer, der dem König Artus aus der Sage den Weg auf den Thron geebnet hatte. Zum Lohn für diesen genialen Einfall durfte sich der fantasievolle Mitarbeiter auf Kosten des Hauses einen neuen dunkelblauen Anzug maßschneidern lassen und wurde auf den Posten eines Frühstücksdirektors befördert.

Leider verfiel in der allgemeinen Euphorie niemand auf die Idee, einmal nachzuschauen, wer dieser Merlin denn zumindest der Sage nach nun eigentlich war. Und so nahm keiner "Meyers neues Lexikon" zur Hand, ein Umstand, dem es die Mitarbeiter der Abteilung Codenamen von IBM zu verdanken haben, daß sie noch nicht allesamt an Herzattacken verschieden sind.

Denn was steht dort unter dem Stichwort Merlin? "Stammt aus der Vereinigung eines Teufels mit einer Jungfrau". Jeder darf sich selbst aussuchen, welche Rollen er IBM und Bill Gates beim Zeugungsdrama von OS/2 geben will.

Das Lexikon erwähnt noch mehr über Merlin: "Er beendet sein Leben im Wald von Brocéliande, wo er von der Fee Viviane in ewigem Schlaf gehalten wird." Egal wer die Fee und wo dieser Wald ist, dieses Schicksal wollte die Codenamen-Abteilung von IBM bei OS/2 wohl nicht signalisieren.

Sollte Big Blue nun dementieren und erklären, mit Merlin sei keineswegs der sagenhafte Zauberer gemeint, sondern ein in Nordamerika und -europa heimischer Vogel, hat Meyers Lexikon noch eine Hinter- hältigkeit auf Lager. Danach ist dieser Merlin ein "Zwergfalke", und der "jagt Vögel bis Taubengröße". So klein ist Bill Gates nun auch wieder nicht.