Surfen im Drei-Klassen-Internet

Mautpflicht für bestimmte Internet-Dienste?

14.07.2010
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 

Störungsfrei Surfen nur gegen Aufpreis

Gegen Aufpreis würde dann die zweite Klasse mit besseren Latenzzeiten aufwarten. Sie käme für E-Commerce-Anwendungen in Frage, bei denen zu starke Verzögerungen das Shopping-Erlebnis beeinträchtigen und so die Anwender verärgern würden. Ein anderes Anwendungsszenario könnten Telearbeiter sein, die remote von zu Hause via Internet auf Unternehmensanwendungen zugreifen. Steigen hier die Latenzzeiten zu stark an, ist kaum mehr an ein flüssiges Arbeiten zu denken.

Typische Fälle für die Premium-Klasse wären dagegen Videoanwendungen wie die Fernsehübertragung per IP-Netz oder das Thema Videoconferencing. Da bei der Videoübertragung jede Störung oder Unterbrechung des Datenstroms sofort sichtbar wird, sollte dieser Verkehrsart eine besonders hohe Priorität zukommen. Und dafür müsste der Anwender künftig mehr bezahlen. Gerade das Beispiel Video verdeutlicht, dass preislich gestaffelte Angebote im Internet kein Hirngespinst sind. Bereits heute priorisiert beispielsweise die Telekom im VDSL-Netz den IPTV-Verkehr ihrer T-Home-Entertain-Angebote, um für ein ruckelfreies Filmerlebnis zu sorgen (siehe Kasten "Netzneutralität - ein naiver Wunsch?").

Glossar

In der Diskussion um die Netzneutralität werden je nach Interessenlage verschiedene Begriffe wild miteinander vermengt, um den jeweiligen Gegner in der öffentlichen Diskussion zu diskreditieren. Hierzu zählen etwa die Netzzensur/Sperren sowie das Thema Open Access. Beide werden gerne in die Diskussion eingeflochten.

Netzneutralität im engeren Sinne bedeutet die Priorisierung von bestimmten TCP/IP-Paketen im Netz, um für verschiedene Anwendungen unterschiedliche Qualities of Service zu realisieren. Zum Beispiel erhalten die Datenpakete eines Videostreams Vorfahrt gegenüber einer E-Mail. Ähnlich wie bei der Autobahnmaut (LKW zahlen mehr als PKW) sollen Heavy User höhere Gebühren zahlen. Im günstigsten Fall muss dann der normale Benutzer keine Zusatzgebühren entrichten - ähnlich wie es hierzulande bislang nur eine Autobahnmaut für LKW gibt.

Netzneutralität im weiteren Sinne umfasst auch die Blockierung von gewissen Diensten. Für Schlagzeilen sorgte hier immer wieder die Drosselung oder Blockierung von P2P-Diensten. In Europa haben sich in der Vergangenheit vor allem die Mobilfunkbetreiber bei der Diskriminierung von Internet-Datenpaketen hervorgetan. Mal wurden VoIP-Pakete (Stichwort Skype) geblockt, ein anderes Mal wurden Bilder von Web-Seiten unter dem Deckmäntelchen der Performance-Optimierung in ihrer Auflösung heruntergerechnet, um das Datenvolumen zu reduzieren.

Der Open Access hat mit der Dienstneutralität im Netz wenig zu tun. Hier geht es vielmehr darum, wem die Betreiber der neuen Glasfasernetze Zugriff auf ihre Infrastruktur gewähren müssen. Im Sinne eines Open Access sollten die Stadtwerke, oft Besitzer der neuen Glasfaser-Zugangsnetze - im Gegensatz zur öffentlichen Hand kann sich den Netzausbau mit seinen langen Abschreibungszeiten von 20 bis 30 Jahren kaum ein börsennotiertes TK-Unternehmen leisten -, anderen Providern eine diskriminierungsfreie Nutzung ihrer Infrastruktur ermöglichen. Als Business-Modell in seiner extremen Ausprägung entsteht ein mehrstufiges Modell: Der Besitzer der Infrastruktur engagiert einen physikalischen Betreiber, der die Glasfaser beleuchtet. Der Betreiber wiederum vermietet das beleuchtete Netz an die Service-Provider. Diese offerieren Dienste wie Telefonie, aber auch schlicht Transportkapazität für Content-Anbieter wie Google und Co. Letztere könnten dann eigene IPTV- oder Video-on-Demand-Dienste vermarkten. Gegenstück zum Open Access ist ein Ansatz, bei dem Infrastruktur, Netzbetrieb und Content-Angebot in einer Hand liegen, wie etwa bei den VDSL-basierenden IPTV-Angeboten "Entertain" der Telekom.

Netzzensur steht per se in keinem grundsätzlichen Zusammenhang mit dem Thema Netzneutralität . Die Zensur wird von den Neutralitätsbefürwortern gerne ins Feld geführt, um das Schreckensszenario eines Internets an die Wand zu malen, in dem nur noch der Content zahlungskräftiger Kunden eine Chance auf Verbreitung habe.

Zum Anstieg des Datenvolumens tragen vor allem Videodienste bei, während andere Services wie VoIP eher stagnieren.
Zum Anstieg des Datenvolumens tragen vor allem Videodienste bei, während andere Services wie VoIP eher stagnieren.
Foto: Cisco

Aber zahlt der Konsument nicht bereits deutlich mehr für den 16-Mbit/s-DSL- oder gar VDSL-Anschluss? Die Geschwindigkeit bestimmt letztendlich nur, wie viele Daten innerhalb einer Zeiteinheit durch die Leitungen transportiert werden, unabhängig davon, ob es sich um E-Mails oder Videostreams handelt. Wie kontinuierlich die Daten fließen, ist dagegen keine Frage des gewählten Anschlusses, sondern hängt davon ab, wie die Netzbetreiber bestimmte Verkehrsarten mit Hilfe von Netz-Management-Tools priorisieren.

Dementsprechend sollen die Benutzer von Videoanwendungen künftig nach dem Willen der Carrier mehr für eine bevorzugte Behandlung ihrer Daten im Internet bezahlen. Im Gegenzug würden die Netzbetreiber dann für einen ruckelfreien Videogenuss garantieren.