Versorgungswirtschaft/Neues Abrechnungssystem für die Wärmeversorgung

Main-Kraftwerke: Akribisch planen und ohne Zeitdruck testen

02.06.2000
Die Einführung neuer Software für die Verbraucherabrechnung muss genau geplant werden, damit sie den definierten Anforderungen der Kunden auch lückenlos entspricht. Für die Testphase sollte genügend Zeit eingeplant werden, weil kleinere Fehler oft erst mit Verzögerung ans Tageslicht kommen. Ein Erfahrungsbericht der Main-Kraftwerke AG von Kai-Thorsten Lorenz*.

Die Main-Kraftwerke AG ist ein regionales Energieversorgungsunternehmen mit Sitz in Frankfurt-Höchst. Im überwiegend ländlich strukturierten eigenen Netzgebiet zwischen Main, Rhein, Lahn und Westerwald werden rund 300000 Kunden mit Strom und gebietsweise mit Erdgas versorgt. Seit 1996 engagieren sich die Main-Kraftwerke auch intensiv auf dem Geschäftsfeld der Wärmeversorgung. Das Unternehmen plant, baut und betreibt für neue Wohn- und/oder Gewerbegebiete sowie für zu sanierende Immobilieneinheiten und kommunale Einrichtungen moderne Nahwärmezentralen. Diese versorgen insgesamt rund 900 Kunden - angefangen beim Einfamilienhaus bis hin zu großen Industriebetrieben - mit Wärme. Die jährlich abgegebene Wärmemenge beläuft sich inklusive der Beteiligungsgesellschaften auf rund 190 Millionen Kilowattstunden.

Die Verbrauchsabrechnung der Wärmekunden wickelten die Main-Kraftwerke bislang über ein selbst erstelltes Programm auf Word- und Excel-Basis ab. Diese Methode war so lange sinnvoll, wie sich die Gruppe der Kunden überschauen ließ. Mit steigender Abnehmerzahl wurde die manuelle Verbrauchsabrechnung jedoch immer aufwändiger und komplizierter. Denn bei der Wärmeabrechnung ist zu berücksichtigen, wie Haushalts- oder Gewerbekunden abgerechnet werden müssen: nach Heizkosten-Verordnung (HKV) - das heißt der Aufteilung der gesamten Wärmekosten in einen Grundkosten- und Verbrauchskostenanteil für jede einzelne Wohnung, zum Beispiel 30 Prozent Grundkosten-/70 Prozent Verbrauchskostenanteil - oder nach den Allgemeinen Bedingungen für die Versorgung mit Fernwärme (AVB FernwärmeV). Bei der zweiten Abrechnungsgruppe, zu der auch das Gewerbe gehört, wird die erfasste Verbrauchsgröße einfach mit dem entsprechenden Wärmepreis multipliziert und zusammen mit einem Grund- und/oder Messpreis in Rechnung gestellt.

Als die Zahl der Wärmekunden bei den Main-Kraftwerken auf 300 zusteuerte, wurden verschiedene Überlegungen angestellt.

Beispielsweise wäre es möglich gewesen, die einfache Verbrauchsabrechnung in bewährter Weise weiter selbst vorzunehmen und die arbeitsintensiveren HKV-Abrechnungen einem externen Dienstleister zu übertragen, der für die Main-Kraftwerke die Aufteilung der verbrauchten Wärmemengen nach Wohneinheiten errechnet.

Aus mehreren Gründen - einer davon war der drohende Image-Verlust gegenüber Kunden - entschied sich das Unternehmen gegen die Outsourcing-Lösung. Vielmehr sollte ein professionelles Verbrauchsabrechnungssystem angeschafft werden, das alle Aufgaben abdeckt und es ermöglicht, die gesamte Verbrauchsabrechnung selbst durchzuführen. Dadurch können sich die Main-Kraftwerke als kompetenter Rundum-Wärmedienstleister profilieren.

Warum in ein neues System investieren?Zunächst musste man sich bei den Main-Kraftwerken Klarheit darüber verschaffen, ob dieser Plan tatsächlich sinnvoll war und welche Fähigkeiten ein neues System mitbringen sollte. Unter anderem standen verschiedene Fragen im Blickpunkt, auf die folgende Antworten gegeben wurden:

- Kann und soll das Geschäftsfeld Wärmeversorgung überhaupt so stark ausgebaut werden, dass die Anschaffung eines neuen, teuren Softwareprogramms gerechtfertigt ist?

Ja, es ist erklärtes Ziel der Main-Kraftwerke, das Nahwärmegeschäft kontinuierlich auszudehnen.

- Wie sieht es mit der Abrechnungsstruktur der Kunden aus?

Sie ist komplex und manuell nicht mehr zu bewältigen.

- Könnte man die Abrechnung der HKV-Kunden auslagern?

Dies kommt aus verschiedenen Überlegungen nicht in Betracht. Faktoren wie Imageverlust, Terminabhängigkeit, einheitliches Rechnungsbild stehen dem entgegen.

- Soll neben der Wärmekosten- auch die Nebenkostenabrechnung möglich sein (zum Beispiel für Trinkwasser, Müllabfuhr, Hausmeister, Gartenpflege usw.)?

Eindeutig ja. Wenn beispielsweise eine Wohnungsbaugesellschaft die Wärmeabrechnung für ein Objekt aus der Hand gibt, will sie meist auch mit den anderen Kosten nichts mehr zu tun haben.

- Muss das neue System die Zähler verwalten können?

Bei wachsender Kundenzahl ist das unabdingbar, um beispielsweise bei den Eichintervallen die Übersicht zu behalten.

- Wie sieht es mit der Tarifstruktur aus?

Bei den Main-Kraftwerken gibt es je nach Objekt, dort eingesetzter Technik sowie Größe der Wärmeerzeugungs- und -verteilungsanlagen differenzierte Tarife.

- Besteht die Notwendigkeit, Ablesung, Abrechnung und Debitorenverwaltung miteinander zu verknüpfen?

Selbstverständlich, bei manueller Handhabung ist dies nicht gegeben.

- Ist der Programmierer der PC-Einzellösung immer verfügbar?

Wenn der Mitarbeiter krank ist, Urlaub macht oder aus dem Unternehmen ausscheidet, gibt es schnell Probleme. Mit dem Anbieter eines professionellen Systems hingegen kann man einen Systembetreuungsvertrag abschließen, der zudem regelmäßige Programm-Updates beinhaltet.

Das bei den Main-Kraftwerken im Bereich Strom und Gas eingesetzte Abrechnungssystem deckte dieses Spektrum spezifizierter Leistungsmerkmale nicht ab. Auch die Suche nach einem geeigneten Programm innerhalb des RWE-Konzerns, dem die Main-Kraftwerke angehören, blieb erfolglos. Also musste eine völlig neue Software eines anderen Anbieters gefunden werden.

Pflichtenheft definiert die AnforderungenUm den Systemanbietern möglichst konkrete Informationen an die Hand geben zu können, stellten die Main-Kraftwerke ein 21 Punkte umfassendes Pflichtenheft auf. Die wichtigsten Anforderungen daraus sind:

-Wärmeabrechnung nach ABV FernwärmeV und HKV

-Abrechnung von Nebenkosten

-Verwaltung der Kunden-, Objekt-, Zähler- und Tarifdaten

-Verwaltung von Abschlägen

-Abbildung bestehender Verträge

-debitorische Verwaltung inklusive Mahnlauf

-Statistik

-freie Umsatzsteuerwahl

-Plausibilitätsprüfungen

-Schnittstellen zur bestehenden EDV-Landschaft

-Standard-Kundenanschreiben

-Übernahme von Datenfernübertragungs-Daten.

Insgesamt machten die Main-Kraftwerke im Rahmen ihrer Recherchen rund 20 Firmen ausfindig, die Verbrauchsabrechnungssysteme entwickeln und vertreiben. Den Softwareherstellern wurde das Pflichtenheft samt einer Musterrechnung zugeschickt, verbunden mit der Aufforderung, dazu Stellung zu nehmen beziehungsweise ein Angebot abzugeben. Die detaillierte Vorbereitung des Pflichtenhefts erleichterte nicht nur den Softwareanbietern die Orientierung, sondern ermöglichte den Main-Kraftwerken auch eine rasche systematische Auswertung der eingegangenen Angebote. Die Offerten konnten nach den Einzelanforderungen in einer Tabelle (Matrix) mit Punkten bewertet werden. Anhand der Gesamtpunktzahl ließ sich schließlich gut ablesen, welcher Hersteller beziehungsweise welches Produkt den Anforderungen am ehesten entsprach. Aussagen von Anbietern, wichtige Details noch entwickeln zu müssen, wurden negativ bewertet, weil dies größere Verzögerungen bei der Systemeinführung befürchten ließ.

Die drei Firmen mit der höchsten Punktzahl der Vorauswahl wurden zur Präsentation ihrer Produkte eingeladen. Nur ein Anbieter konnte alle Anforderungen erfüllen und diverse Anwendungen auch unmittelbar vorführen: die Somentec Software GmbH aus Langen mit ihrem Abrechnungssystem XAP.

Am 1. April 1999 wurde der Auftrag über die Systemlieferung an das Langener Unternehmen vergeben. Bei den Main-Kraftwerken wurden Mitarbeiter all jener Abteilungen in das Projektteam als "Mitarbeiterpool" berufen, die in der Praxis mit dem Abrechnungssystem arbeiten müssen: der Vertrieb (Vertragsabschluss, Basisdateneingabe, Statistik), die Energieabrechnung (Preisanpassung, Abrechnung mit Kunden beziehungsweise Eigentümern), das Rechnungswesen (Buchung und Mahnwesen) sowie die DV-Abteilung. Die Projektleitung lag in den Händen jeweils eines Vertreters der Somentec Software und der Main-Kraftwerke. Um einerseits das Alltagsgeschäft nicht unter der Systemeinführung leiden zu lassen, andererseits aber auch eine effektive Projektarbeit mit optimalem Informationsfluss zu gewährleisten, wurden immer nur diejenigen Mitarbeiter aus dem Projektpool zu den Projektsitzungen hinzugezogen, deren spezielles Arbeitsgebiet gerade betroffen war.

Die erste Aufgabe des Projektpools bestand darin, gemeinsam mit dem Softwareunternehmen ein Detailkonzept zu erstellen. Dabei mussten alle Anforderungen an Verträge und Abrechnungen berücksichtigt werden. Die Datenerfassung galt es ebenso einzubeziehen wie das Konzept für die Schnittstellen zum SAP-System als Hauptbuchungssystem, die Übernahme der Bank- und Zählerdaten sowie die Festlegung der wichtigsten Systemtabellen und Stammdatentabelleninhalte.

Um sicher zu sein, dass alle Aspekte berücksichtigt wurden, folgte eine nochmalige Besprechung dieses Detailkonzepts mit den betroffenen Abteilungen. Nach einer anschließenden Überarbeitung wurde das nun fertige Gesamtkonzept schriftlich fixiert und von den Betroffenen gegengezeichnet.

Erst jetzt konnte der Auftrag in allen Einzelheiten vergeben und die Umsetzung in Angriff genommen werden. Schnittstellen und notwendige Erweiterungen wurden programmiert. Parallel fanden für alle Beteiligten Schulungen statt. Für die späteren Anwender war es sehr vorteilhaft, in der Projektgruppe mitzuarbeiten, weil sie sich so über einen längeren Zeitraum mit dem neuen Programm vertraut machen konnten und spätere Bedienungsprobleme praktisch ausgeschlossen waren. Die Erfassung der Stammdaten erfolgte manuell, weil es sich bei der geringen Kundenzahl aus Zeit- und Kostengründen nicht gelohnt hätte, eigens eine Schnittstelle für den einmaligen Datentransfer zu programmieren.

Die Terminplanung wurde durch eine Liste mit offenen Arbeiten unterstützt, so dass im Projektteam immer Klarheit darüber herrschte, welche Aufgaben abgearbeitet und welche noch zu erledigen waren. Beim Erreichen von Meilensteinen traf sich die gesamte Projektgruppe in Status-Meetings zum aktuellen Informationsaustausch.

Zweigeteilte InbetriebnahmeLiefen die Arbeiten bis zu diesem Punkt völlig planmäßig, so stellte sich heraus, dass man bei den Main-Kraftwerken den Zeitbedarf für den Systemtest zu gering veranschlagt hatte. Erst beim Probelauf mit Echtdaten wurden kleine Fehler sichtbar, die sich durch falsche Eingaben und Programmumstellungen eingeschlichen hatten. Als vorteilhaft erwies sich allerdings das Verfahren, die Tests zunächst mit einer Kopie der Echtdaten durchzuspielen. Erst als damit alle Funktionen inklusive der Umstellungen fehlerfrei liefen, wurde das Programm auf der Echtdatenbasis angewendet. Auf diese Weise konnten Beschädigungen der Urdatei vermieden werden.

Der Systemstart musste aufgrund der verlängerten Testphase zweigeteilt werden: Die Abrechnung auf dem neuen Programm ging pünktlich zum 1. Januar 2000 in Betrieb, der debitorische Teil hingegen musste wegen Schnittstellenproblemen zunächst weiterhin manuell durchgeführt werden. Erst drei Monate später, zum 1. April 2000, waren die Fehlerquellen beseitigt. So verlängerte sich das Projekt vom Kickoff bis zum Beginn des Produktivbetriebs von geplanten neun Monaten auf exakt ein Jahr.

Testrechnungen per Internet erstellenDie Testphase hätte noch effektiver gestaltet werden können, wenn es möglich gewesen wäre, die Systemkontrolle durch den Anbieter vom Firmenstandort aus per Datenübertragung durchzuführen. Das hatte Somentec angeboten, eine Realisierung war aus datenschutzrechtlichen Gründen jedoch nicht möglich. Die notwendigen Arbeiten mussten somit bei den Main-Kraftwerken erfolgen und verursachten deshalb zusätzliche Kosten.

Als die ersten mit dem neuen System erstellten Rechnungen verschickt waren, wurden die Kunden über die Veränderung in ihrer Abrechnung informiert. Zeitgleich mit diesem Wechsel ging die Umstellung der Hauswährung von Mark auf Euro einher. Ein Erläuterungsblatt und die parallele Angabe der Rechnungsbeträge in Mark helfen den Kunden, sich auf dem neuen Abrechnungsformular zurechtzufinden.

Weitere zu beachtende Aufgaben sind die laufende Betreuung der Benutzer und der Abschluss eines Pflege- und Support-Vertrags. Von großer Bedeutung bei diesen zukunftsgerichteten Optionen ist die Internet-Fähigkeit des neuen Programms. Auf diesem Wege haben Kunden beispielsweise die Möglichkeit, sich Testrechnungen anfertigen zu lassen, die einen Überblick über aktuelle Kostenstände vermitteln. Neben weiteren Nutzungsmöglichkeiten können Kunden den Main-Kraftwerken aktuelle Zählerstände auch online mitteilen. Dies wird jedoch nur in den wenigsten Fällen nötig sein. Einerseits inspizieren die Main-Kraftwerke die Wärmeerzeugungsanlagen in regelmäßigen Abständen, wobei auch Zählerstände der Hauptwärmemengenzähler ermittelt werden können. Andererseits gibt es bei den meisten Kundenanlagen die Möglichkeit der Fernauslesung über M-BUS-Systeme und eigens installierte Datenleitungen.

*Kai-Thorsten Lorenz ist für die Wärmewirtschaft bei der Main-Kraftwerke AG in Frankfurt am Main zuständig.