Lotus-Chef: "Wir steigen nicht ins Anwendungsgeschäft ein"

05.02.1999
Zu den Ankündigungen der diesjährigen Lotusphere in Orlando/Florida gehörten eine Kooperation mit America Online (AOL)sowie die Entwicklung einer Linux-Variante des "Domino-Servers". Lotus-President Jeff Papows stand CW-Redakteur Wolfgang Sommergutzu diesen Themen und zur weiteren Produktstrategie von Notes Rede und Antwort.

CW: Sie bezeichneten die Partnerschaft zwischen Lotus und AOL als strategisch. Wenn man sich aber das jüngste Abkommen zwischen den beiden Firmen genau ansieht, dann geht es um Content, den AOL für Lotus-Kunden anpaßt, und um die Möglichkeit für Notes-Anwender, über die Sametime-Funktionen AOL-Mitglieder aufzuspüren und per Chat anzusprechen. Was soll daran eigentlich so aufregend sein?

Papows: Lotus konnte bis Ende 1998 rund 34 Millionen professionelle Anwender gewinnen und wird seine Präsenz im Enterprise-Geschäft innerhalb des laufenden Jahres auf 50 Millionen verkaufte Lizenzen ausweiten. Wir möchten nun auch stärker im Massenmarkt Fuß fassen, und dort hat AOL seine Basis. Ich glaube, daß sich die beiden Firmen deshalb gut ergänzen. Wir werden weitere Formen der Zusammenarbeit vereinbaren, bei denen AOL nicht nur als Anbieter von Content fungiert, sondern vor allem als Distributionskanal.

CW: Wenn man bedenkt, daß AOL vor kurzem mit Netscape eine Technologie-Company eingekauft hat, deren Portfolio sich weitgehend mit dem von Lotus überschneidet, dann scheinen sich AOLund Lotus doch nicht so gut zu ergänzen. Haben Sie nicht eher Angst, daß Ihnen in AOL ein mächtiger Konkurrent heranwächst?

Papows: Ich wäre darüber besorgt, wenn Netscape jemals ein ernsthafter Konkurrent für uns gewesen wäre. Aber sie stellten mit ihrem Marketing-Rummel für uns nie mehr als eine kurzfristige Ablenkung dar. Unsere Beziehungen zu AOL reichen nun schon einige Zeit zurück und betrafen beispielsweise auch das Geschäft mit dem Java-Büropaket "E-Suite". Auch mit Netscape hatten wir bis zur Übernahme bei Inhalten für die Portal-Site "Netcenter" kooperiert. Ich gebe zu, daß das Verhältnis zu AOL kompliziert aussieht, aber ich sehe darin keine Schwierigkeiten.

CW: Könnte AOL für Lotus ein interessanter Partner für das Application Hosting werden?

Papows: Wir arbeiten zu diesem Zweck schon seit einiger Zeit mit Telcos und Internet-Service-Providern (ISPs) zusammen. Es ist denkbar, daß wir auch mit AOL eine derartige Kooperation vereinbaren werden, aber sie wäre deshalb nichts Besonderes.

CW: Angesichts des relativ unklaren Charakters der AOL-Lotus-Kooperation vermuteten einige Beobachter bereits, daß es sich dabei in erster Linie um eine Anti-Microsoft-Allianz handelt. Welche Rolle spielte die Gates-Company für das Zustandekommen derAOL-Lotus-Partnerschaft?

Papows: Bei all den Verhandlungen wurde Microsoft überhaupt nicht erwähnt, das war auch nicht der Antrieb für die Zusammenarbeit. Natürlich sehen wir, daß Microsoft traditionell im Massenmarkt für Endanwender sehr stark ist, wo Leute in erster Linie Marken und nicht Technologie kaufen. Wenn uns die Kooperation hilft, Microsoft dort zu schlagen, dann ist das sicher gut für beide Firmen.

CW: Eine weitere überraschende Ankündigung dieser Lotusphere betraf die Linux-Version des Domino-Servers. Sie kam doch ziemlich unerwartet, nachdem Sie sich noch vor vier Monaten auf der Lotusphere in Berlin dagegen ausgesprochen hatten. Was bewirkte diesen plötzlichen Sinneswandel?

Papows: Nachdem mich die Teilnehmer im letzten Jahr beinahe gesteinigt hätten, weil ich gegen eine Linux-Version war, traute ich mich diesmal nicht, noch einmal nein zu sagen. Nein, im Ernst, wir hatten damals ohnehin Schwierigkeiten, den Zeitplan für die Version 5 einzuhalten. Ich wollte nicht, daß irgendwer bei Lotus durch eine zusätzliche Ausführung für Linux abgelenkt würde. Als wir aber mit den Arbeiten für den Server zum Abschluß gelangten, stellten wir fest, daß eine Portierung auf Linux kein aufwendiges Vorhaben sein würde. Wir wollten der ganzen Aufbruchsstimmung rund um Linux keinen Dämpfer versetzen. Es muß sich allerdings erst herausstellen, ob die Linux-Variante auch ein wirtschaftlicher Erfolg wird.

CW: Sehen Sie in der Linux-Version bloß eine weitere Unix-Portierung, oder verknüpfen Sie damit ein anderes Geschäftsmodell?

Papows: Nein, sie ist für uns nur eine weitere Unix-Ausführung. Es wird dafür auch keine wesentlich anderen Lizenzbedingungen geben, schon gar nicht denken wir an die Veröffentlichung des Quellcodes.

CW: Was halten Sie vom Konzept aufgabenspezifischer Server wie beispielsweise Oracles "Raw Iron"? Wäre das nicht auch ein Modell für Domino? Zusätzlich könnten Sie den Preisvorteil aus dem zugrundeliegenden kostenlosen Betriebssystem einer solchen vorkonfigurierten Lösung an den Kunden weitergeben. Das wäre doch ein Konkurrenzvorteil gegenüber Microsoft, und mit IBM hätten Sie noch dazu einen Hardwarelieferanten an der Hand.

Papows: Die Idee ist interessant und wurde schon aus unseren eigenen Reihen an mich herangetragen. Wir könnten tatsächlich ein enormer Distributionskanal für "Red Hat" oder andere Anbieter werden. Ich habe prinzipiell keine Einwände gegen alle möglichen Formen von Bundling. IBM plant ohnehin einige Marketing-Aktivitäten, um Linux zu unterstützen. Aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen beiden Firmen ist ein Komplettangebot aus Hardware, Linux und Domino vorstellbar - solange wir bei Kunden dadurch nicht den Eindruck vermitteln, Domino sei Freeware.

CW: Welchen Anteil der Server-Verkäufe erwarten Sie für die Linux-Ausführung von Domino?

Papows: Das ist natürlich schwer vorherzusagen, wir haben dazu keine eingehenden Marktstudien gemacht. Aber ich glaube, es könnten anfangs um die fünf Prozent sein.

CW: Die wichtigste Server-Plattform für Domino bleibt wohl WindowsNT. In der Vergangenheit paßte Lotus sein Produkt am besten für dieses System an. Nun verkündeten Vertreter Ihrer Firma auf einer Pressekonferenz nicht ganz ohne Ironie, das Beste an Domino sei, daß es nicht von Windows 2000 abhänge. Verliert das Microsoft-System an Bedeutung für Lotus?

Papows: Domino beruht auf einer Architektur, die wir intern mit dem Codenamen "Chameleon" bezeichnen. Sie gibt uns genügend Flexibilität, um Domino unabhängig von der Windows-2000-Fertigstellung auszuliefern. Sobald das Microsoft-System weit genug gediehen ist, werden wir großen Aufwand betreiben, um Domino dafür zu optimieren. Es ist meine Überzeugung, daß wir unsere Produkte bestmöglich auf Windows abstimmen müssen. Alles andere wäre Selbstmord in einem Markt, in dem wir mit Microsoft konkurrieren.

CW: Läuft die übermäßige Anpassung an Windows nicht auf das gleiche hinaus? Windows 2000 stößt mit seinen Funktionen in Bereiche vor, die bisher Anwendungen vorbehalten waren, beispielsweise Verschlüsselung, Key-Management oder Verzeichnisdienste. Sehen Sie da keine Konflikte mit Notes?

Papows: Wir müssen unser System so modular halten, daß Kunden wahlweise unsere Funktionalität oder jene des Betriebssystems nutzen können. Schon heute können Domino-Anwender unter Windows entweder den in Domino eingebauten HTTP-Server oder Microsofts "Internet Information Server" (IIS) verwenden.

CW: Fungiert der IIS somit als Modell für die Integration mit anderen Windows-2000-Bestandteilen wie dem Active Directory oder der Verschlüsselung?

Papows: Ja, wobei wir bei den Sicherheitstechnologien viel weiter sind als Microsoft. Gerade das Public-Key-Management oder die Verschlüsselung in Windows 2000 ist für Domino-Anwender ein großer Schritt zurück.

CW: Sie erwähnten in Ihrer Eröffnungsansprache, daß Microsoft Messaging als die oberste Schicht seines Systems betrachtet, während diese Funktion für die Notes/ Domino-Plattform die Grundlage bildet. Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie eines Tages vollständig auf die ins Betriebssystem integrierte Messaging-Infrastruktur aufbauen und Ihre eigene Technologie aufgeben?

Papows: Nein, Messaging ist die entscheidende Anwendung für kollaborative Applikationen. Wenn wir uns dort zurückziehen, würde uns das einen erheblichen Konkurrenznachteil einbringen. So weit geht die Anpassungsfähigkeit des Chamäleons doch wieder nicht: Es ändert zwar seine Farbe, aber nicht seine Gestalt.

CW: Seit der Übernahme durch IBM baut Lotus seine ursprünglich relativ einfache Groupware zum Enterprise-Tool um. Glauben Sie, daß Notes/Domino angesichts immer noch existierender Defizite bei der Anwendungsentwicklung bereits in dieser Liga mitspielen kann?

Papows: Der "Designer" erleichtert in Version 5 den Umgang mit großen Programmierprojekten erheblich. So läßt sich der Code im Übersichtsmodus komplett ansehen. Offensichtlich befinden wir uns in der Software-Industrie immer in irgendwelchen Übergangsphasen, wo wir gleichzeitig bestehende Anwendungen unterstützen und neue Modelle erschließen müssen. Natürlich könnte ich ein schönes Bild von der zukünftigen Situation zeichnen, das würde aber nicht dieses aktuelle Nebeneinander von Altem und Neuem wiedergeben. Was einige Entwickler heute mit Lotusscript zuwege bringen, könnten Sie nicht in Java tun. Wenn dies der Fall wäre, könnten wir Lotusscript ganz einfach einstellen.

CW: Um komplexe Anwendungsentwicklung zu beschleunigen, unternahmen die europäischen Lotus-Niederlassungen einen Vorstoß zur Standardisierung eines Anwendungskerns. Diese Lotus Solutions Architecture (LSA) wurde nun einem Business-Partner übergeben. Ist dies das Aus für die LSA als Standard in der Anwendungsentwicklung?

Papows: Ich sehe in diesem Schritt nichts Ungewöhnliches. Die LSA wird weiterhin eine wichtige Rolle innerhalb unseres Consulting-Geschäfts spielen.

CW: Waren die Spannungen zwischen Lotus Consulting und Business-Partnern ausschlaggebend für das Abrücken von der LSA?

Papows: Sicher, zwischen Lotus Consulting und den Business-Partern gibt es gelegentlich Spannungen. Aber ich möchte darauf hinweisen,daß Lotus in 48 Prozent aller Projekte, in denen es im letzten Jahr weltweit engagiert war, Business-Partner hinzugezogen hat. Für jeden Dollar, den Lotus Consulting umsetzte, haben die Partner mehr als neun Dollar eingenommen. Für unseren Markt paßt das Microsoft-Modell nicht, einfach nur Softwarepakete zu verkaufen, wir benötigen unser eigenes Beratungsgeschäft.

CW: In Ihren Bemühungen, Notes als Front-end für betriebswirtschaftliche Standardsoftware populär zu machen, wollen Sie die Integration der beiden Systeme durch eine Reihe von generischen Applikationen vereinfachen. Für welchen Einsatz eignen sich diese Schablonen?

Papows: Ich möchte dazu klar feststellen: Lotus wird damit nicht in das Anwendungsgeschäft einsteigen. Wir verstehen uns als Anbieter einer Plattform und wollen durch diese "ready made parts" unsere Partner in die Lage versetzen, Projekte schneller umzusetzen.

CW: Es hat für einige Konfusion gesorgt, daß sie Domino ein weiteres Produkt aus der Kategorie der Applikations-Server, die Standard-Edition von IBMs "Websphere", beipacken. Er sollte Domino für transaktionsorientierte Anwendungen ergänzen, kann in dieser Version aber nicht einmal Enterprise Javabeans ausführen. Wem soll dieses Bundling nutzen?

Papows: Eine engere Integration der beiden Produkte steht noch bevor. Wir packen Websphere schon jetzt zu Domino, um der IBM einen Vertriebskanal zu erschließen. Im Moment geschieht das Bundling hauptsächlich aus Bequemlichkeit.