Prozessautomatisierung enttäuscht

Lohnt sich Prozessautomatisierung?

09.11.2011
Von   
Dirk Stähler befasst sich seit vielen Jahren mit der innovativen Gestaltung von Organisationen, Prozessen und IT-Systemen.

2. Versprechen: Weniger Kosten

Weil Unternehmen ihre Kosten senken wollen, übt die Möglichkeit der IT-gestützten Prozessautomatisierung starken Reiz auf sie aus. Die Ergebnisse haben wir als Konsumenten in den letzten Jahren zu spüren bekommen. Reiseunternehmen, Banken, Versicherungen und viele andere nutzen die Möglichkeiten der Digitalisierung. Wesentliche Arbeitsanteile wurden dabei auf uns Kunden übertragen. Wir geben Überweisungen selbst in Banksysteme ein, wir buchen Flüge und checken ein, wir bedienen die Kasse im Supermarkt, wir beschaffen unsere Medikamente online und vieles mehr. Dafür mussten Prozesse so weit vereinfacht werden, dass jeder sie in eigener Regie ausführen kann. Im Ergebnis führte das zu einer Normierung auf niedrigem Niveau.

Den Unternehmensstrategen hätte dabei eigentlich klar sein müssen, dass die Vereinfachung der Prozesse am Ende bei allen Anbietern zu vergleichbaren Ergebnissen führt. Automatisierung hat somit dazu beigetragen, dass sich die Differenzierungsfähigkeit zwischen Unternehmen reduziert. Aus Kundensicht hat das eine Zunahme ähnlicher Angebote bei immer geringeren Wechselkosten zur Folge.

Die emotionale Verbundenheit mit dem Anbieter sinkt. Individuelle Such- und Normierungskosten für einen Wechsel sowie vertraglich bestehende Bindungen sind das einzige, was einem Anbieter noch einen gewissen Schutz bietet. Solche Mechanismen zur Verhinderung eines Wechsels sind jedoch negativ besetzt und bieten aus Sicht des Kunden keinen Vorteil. Kommt es im automatisierten Prozess zu einer schlechten Erfahrung, ist der Kunde mit hoher Wahrscheinlichkeit verloren. In automatisierten Prozessen ist dieses Risiko erhöht, da keine individuelle Reaktion durch einen geschulten Mitarbeiter möglich ist.

Betrachten wir als Beispiel den Online-Händler Amazon. Dessen gesamter Geschäftsprozess ist darauf ausgelegt, jeden Menschenkontakt im Kaufprozess zu vermeiden. Aufgrund des hohen Automatisierungsgrades betragen die Kosten des Kundenservice nur rund einen Prozent des Umsatzes. Nach einer Untersuchung von Jeffrey Rayport aus dem Jahr 2005 operieren andere Online-Händler im Durchschnitt mit dem zehnfachen Anteil. Angesichts dieser Zahlen kann man im Bereich des Kundenservice ohne Einschränkung davon sprechen, dass Amazon das Kostensenkungsversprechen realisieren konnte. Kommt es aber zu Problemen im Kaufprozess, steht Amazon-Kunden auch ein teilautomatisierter Service zur Verfügung. Dies trifft vor allem dann zu, wenn man bei einem Drittanbieter kauft, der über Amazon vermarktet.

In einem Fall wurde über einen Amazon-Partner ein Laptop-Akku bestellt. Dem Käufer fiel nicht auf, dass die Lieferung aus dem außereuropäischen Ausland erfolgen sollte und zusätzliche Zollgebühren anfallen würden. Der Zoll stoppte die Lieferung, bis die zusätzlichen Gebühren beglichen waren. Da der Besteller diese Gebühr nicht übernehmen wollte, wurde die Lieferung zurückgesendet. Jetzt ist es wichtig zu wissen, dass Amazon die Kommunikation mit Drittanbietern aus Gründen der Anonymisierung über die eigene Website abwickelt. Anbieter und Käufer kennen ihre E-Mail-Adresse nicht direkt. Die Bemühungen, den bereits entrichteten Kaufpreis vom Drittanbieter zurückzuerhalten, führten zu einer geradezu kafkaesken Situation. Der Vorgang endete damit, dass der Kunde aufgab und den bereits entrichteten Betrag abschrieb. Erst nach mehreren Wochen kam es doch noch zu einer unerwarteten Rückerstattung.

Nicht zu beantworten ist an dieser Stelle die Frage, ob Kostenvorteile, die auf die Automatisierung zurückzuführen sind, eventuelle Umsatzverluste durch enttäuschte Kunden aufwiegen.

Auch die Deutsche Post liefert ein Beispiel für das Kostensenkungsversprechen. In Deutschland betreibt das Unternehmen rund 2500 Packstationen. Jede von ihnen ist ein Wunderwerk der Automatisierung. Schätzen wir einmal die Investitionen der Post auf zirka 30.000 Euro pro Packstation, so würde sich alleine für die lokale Infrastruktur ein Aufwand von 75 Millionen Euro ergeben. Interessant ist, dass man selbst nach intensiver Suche keine Zahlen über den wirtschaftlichen Erfolg der Packstationen findet. Lediglich auf den verringerten CO2-Ausstoß der Auslieferungsfahrzeuge wird hingewiesen. Demnach entfielen im Jahr 2009 den Angaben der Verantwortlichen zufolge 280.000 überflüssige Zustellungskilometer. Rechnet man unter Berücksichtigung der durchschnittlich zu erwartenden Anschaffungskosten eines Auslieferungsfahrzeugs mit Kosten von etwa einem Euro pro Transportkilometer, erhält man eine eingesparte Summe von zirka 280.000 Euro pro Jahr.

Auch wenn diese Zahlen auf einer stark vereinfachten Schätzung basieren und weitere Größen wie zum Beispiel Lohnkosten nicht berücksichtigt werden, fällt doch bereits eine erhebliche Lücke auf. Die Reduzierung der Transportkilometer kann nicht die alleinige Begründung für die Installation der Packstationen liefern. Es müssen Ersparnisse an einer anderen Stelle gelingen oder in Aussicht stehen. Ich überlasse es dem Leser, die weitere Entwicklung der Paketauslieferung in Deutschland inklusive der Reaktion der Wettbewerber zu prognostizieren.

Schlussfolgerung 2: Vertrauen Sie den Kostensenkungsversprechen einer Prozessautomatisierung nur dann, wenn Sie in der Lage sind, den wirtschaftlichen Nutzen und das Risiko im Ganzen zu bewerten. Dazu gehört neben einer Betrachtung der Kostenvorteile aus dem automatisierten Prozess auch die Berücksichtigung versteckter quantitativer und qualitativer Auswirkungen, die mitunter in keinem direkten Zusammenhang zum automatisierten Ablauf stehen. Wenn Sie die Gesamterträge und -kosten nicht bewerten können, ist es in der Regel besser, diesen Geschäftsprozess zunächst nicht zu verändern und erst einmal für ein besseres Gesamtverständnis zu sorgen. Oft entstehen durch Automatisierung unvorhergesehene Effekte außerhalb des betrachteten Prozesses, die nur schwer zu beherrschen sind.