G7-Konferenz: Mehr Strom fuer Informationsgesellschaft

Lippenbekenntnisse und Pilotprojekte sollen Europa auf die Ueberholspur der Datenautobahn bringen

03.03.1995

Revolution ja oder nein? Auf der G7-Konferenz in Bruessel diskutierten Minister und Industrievertreter erstmals Chancen und Risiken der modernen Informationsgesellschaft. Waehrend fuer manchen Politiker die Revolution des Informationszeitalters erst noch bevorsteht, sehen die Marketiers der Hersteller den Umbruch bereits in vollem Gange, wie die auf einer Ausstellung praesentierten Anwendungen untermauern sollten. Kein Wunder also, dass hier die Politiker zur Eile draengten. Angesichts auch der in Bruessel zahlreichen und eindringlichen Appelle, in Europa aktiv an der Gestaltung der Zukunft mitzuwirken und die Maerkte nicht nur Amerikanern und Japanern zu ueberlassen, ist das Abschlussdokument des Info-Highway-Gipfels mit seinen vage gehaltenen Absichtserklaerungen jedoch eher enttaeuschend.

Noch zwei Zeilen tippen, und das Tagewerk ist geschafft - der Artikel zum zehnjaehrigen Jubilaeum der ersten "Konferenz zur Information Society im Februar 95" steht. Ein Knopfdruck, und via Datenautobahn geht der Text in den Satzrechner des Verlages, waehrend sich der Autor zu einer Tasse Kaffee in den Garten begibt. Doch halt, ein Fenster am oberen Bildschirmrand oeffnet sich: Der Chef bittet zur Themenkonferenz via Bildtelefon. Seit der Deregulierung der TK-Maerkte 1998 und der damit verbundenen Kostensenkungen ist naemlich aus der Zentralredaktion eine virtuelle Redaktion geworden. Die Mitarbeiter wohnen und arbeiten rings um Muenchen verteilt im Gruenen und halten via Videokonferenz miteinander Kontakt. Im Stammhaus, das einmal ein komplettes Buerogebaeude fuellte, haelt eine Rumpfmannschaft aus 50 Beschaeftigten die Stellung und die Technik am Laufen. Die Arbeit kommt also tatsaechlich, wie Apple-Chef Spindler bereits 1995 prophezeite, zum Menschen und nicht wie frueher der Beschaeftigte zum Arbeitsplatz.

Ein schrilles Klingeln reisst den Redakteur unsanft aus seinen Traeumen. Vor der Tuere steht der Fahrer von "Medi-Blitz" und bringt die Arznei fuer den kleinen Sohnemann. Vor einer Stunde hatte der Hausarzt via Ferndiagnose beim juengsten Familienmitglied eine mittelschwere Bronchitis diagnostiziert. Anstelle der frueheren Arztbesuche mit oft stundenlanger Wartezeit in ueberfuellten Sprechzimmern wird der Sproessling einmal die Woche ans "Home Monitoring System" angeschlossen, das die Daten an den Hausarzt weiterleitet. Falls dieser mit seinem Latein am Ende ist, ist dies kein Problem: Ueber das "International Public Health Information Network" hat er Kontakt zu Kollegen, die ihm bei der Diagnose weiterhelfen.

Doch zurueck zum Schreibtisch. Bis zum abendlichen Konzertbesuch in Muenchen ist noch die elektronische Steuererklaerung des Jahres 2004 beim Finanzamt abzugeben. Zog die Lust auf Livemusik frueher oft endlose, nicht selten vergebliche Warterei an den Kartenhaeuschen nach sich, koennen die Tickets heute bequem am Multimedia-Kiosk zu Hause gekauft werden. Bezahlt wird online mit "Cyberbucks", einer 1996 weltweit eingefuehrten elektronischen Waehrung fuer Online- Dienste.

Alles Science-fiction? Zum Teil sicherlich, allerdings sind die notwendigen Technologien, wie der EU-Praesident Jacques Santer anlaesslich des G7-Treffens zur Informationsgesellschaft in Bruessel anmerkte, bereits vorhanden. Was jedoch nichts daran aendert, dass - hierin waren sich Industrievertreter wie EU-Politiker einig - Europa auf dem besten Wege ist, den Einsatz moderner Technologien zu verschlafen. Deren Entwicklung ist den Worten des US- Vizepraesidenten Al Gore zufolge nicht aufzuhalten, da moderne Kommunikationsmittel wie Satelliten nicht die Grenzen der Nationalstaaten von gestern kennen. So warnte denn Gore in Bruessel auch davor, nur die moeglichen kulturellen Risiken der Global Information Infrastructure (GII) zu sehen und nicht auch die moeglichen neuen Arbeitsplaetze. Staaten beziehungsweise Regierungen, die nicht rechtzeitig mit entsprechenden Liberalisierungsmassnahmen fuer ein geeignetes Investitionsklima sorgen, bezeichnete der Clinton-Vize als potentielle Arbeitsplatzvernichter.

Mit gutem Beispiel vorangehend, ueberraschte Gore die G7-Teilnehmer mit der Ankuendigung, dass die USA noch in diesem Jahr ihren Telecom-Markt vollstaendig fuer auslaendische Investoren oeffnen wollen. Allerdings knuepft der US-Vizepraesident daran die schon bekannte Bedingung, dass die Heimatmaerkte der potentiellen Investoren ebenfalls offen fuer US-Unternehmen sein muessen. Des weiteren ermahnte der US-Vize die Europaeer, mit ihrer zoegerlichen Haltung in Sachen Liberalisierung nicht den fuer April 1996 angesetzten Abschluss der WTO-Verhandlungen ueber ein "General Agreement on Trade in Services" zu gefaehrden.

Eine Erkenntnis, die zumindest der fruehere Chef der EU-Kommission Jacques Delors teilt. So vertrat Delors in Bruessel die Ansicht, dass jede Verzoegerung in puncto Liberalisierung nicht nur den Unternehmen, sondern auch den Arbeitnehmern schadet. Fast unisono schlossen sich die ueber 40 Wirtschaftsvertreter, die die G7 zum ersten Mal offziell zu Beratungen eingeladen hatte, dieser Meinung an. Ueberhaupt zeigten sich die Industrievertreter innovationsfreudiger als ihre Regierungen und wiesen auf die Chancen, die eine freie GII bieten kann, hin.

Olivetti-Boss Carlo de Benedetti hatte das passende Zahlenmaterial parat: So seien in den USA 1993 1,7 Millionen neue Arbeitsplaetze entstanden, wovon 65 Prozent dem Informationssektor zugute kamen. Im gleichen Zeitraum seien in den USA dagegen in den von den Europaeern so gehegten klassischen Produktionsbereichen wie der Automobilindustrie nur 30 neue Jobs geschaffen worden. Um den Rueckstand aufzuholen, forderte Benedetti bis zum naechsten G7- Gipfel einen Aktionsplan mit konkreten Massnahmen.

Einen der Gruende fuer den Rueckstand der Alten Welt erkennt der Olivetti-Chef in der Info-Phobie der Europaeer, die lieber zurueck auf ihre kulturelle Vergangenheit schauten, anstatt wie die Amerikaner nach vorne zu blicken. Hier prangerte nicht nur de Benedetti besonders die Franzosen an, die mit ihrem Kulturprotektionismus die Entwicklung behinderten. Aehnlich wie in der Filmindustrie waere unseren Nachbarn auch in der DV eine Quotenregelung am liebsten, die nur einen bestimmten Prozentsatz an auslaendischer Software und Online-Diensten erlaubt.

Ueberhaupt zeigte sich in Bruessel waehrend der Diskussionen ueber die Information-Society sehr deutlich die tiefe Kluft zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansaetzen der EU-Staaten und den restlichen G7-Angehoerigen. So forderten die Amerikaner beipielsweise in Sachen Standards und bessere Interoperabilitaet, dass kuenftig der freie Wettbewerb in Verbindung mit internationalen Gremien wie der ITU, ISO sowie der Internet Society ueber eine entsprechende Spezifizierung entscheiden solle. Die Europaeer dagegen favorisieren hier immer noch einen eher traditionalistischen Ansatz, wonach entsprechende Vorschlaege auf Regierungsebene zu diskutieren sind.

Ebenso widerspruechlich sind auch die Auffassungen zwischen der EU einerseits und den USA, Japan und Kanada andererseits, wenn es um die Festlegung der Rahmenbedingungen geht.

Waehrend die drei nur den rechtlichen Grundrahmen in Sachen Copyright, Datenschutz und Marktzugang festschreiben und den Rest dem freien Wettbewerb ueberlassen wollen, nehmen die Staaten der EU eine restriktivere Haltung ein. Wenn es nach dem Willen der Regierungen des Alten Kontinents geht, schafft die Legislative weiterhin nicht nur die Rahmenbedingungen, sondern greift auch regulierend ein.

Entsprechend lang und quaelend gestaltete sich daher auch das Ringen um ein gemeinsames Abschlusskommunique. Im wesentlichen ging der Streit darum, ob, wie von den USA gefordert, zur "Foerderung des freien Wettbewerbs" aufgerufen werden sollte oder, wie von den EU-Staaten vorgeschlagen, zur "Foerderung des fairen Wettbewerbs". Schliesslich einigte man sich auf die nichtssagende Formulierung der "Foerderung eines dynamischen Wettbewerbs". Des weiteren gehoeren zu den acht Grundprinzipien, auf die man sich in Bruessel verstaendigen konnte, die Foerderung von Privatinvestitionen, die Festlegung eines anpassungsfaehigen ordnungsrechtlichen Rahmens sowie die Sicherstellung eines offenen Netzzugangs.

Ergaenzend soll die Sicherung eines universellen Diensteangebots und -zugangs gewaehrleistet werden, wie auch die Chancengleichheit aller Buerger. Geht es um die Inhalte auf den Datenautobahnen, so planen die Staaten die Foerderung der Programmvielfalt auch mit Blick auf die kulturellen und sprachlichen Varietaeten. Darueber hinaus haben die G7-Staaten in ihrem Schlussdokument die Notwendigkeit einer weltweiten Zusammenarbeit unter Beruecksichtigung der Entwicklungslaender erkannt.

Allgemeine Uebereinstimmung herrschte auch darueber, dass die heutigen Rechtsvorschriften weiter entwickelt werden muessen, um den Anspruechen der Informationsgesellschaft gerecht zu werden. Verstaerkt wollen sich die G7-Laender dabei der Loesung der Probleme in den Bereichen Datenschutz, Informationssicherheit sowie Urheberrecht widmen.

Neben diesen eher allgemein gehaltenen Grundsaetzen vereinbarten die Minister die Durchfuehrung von elf Pilotprojekten, wobei bereits auf dem naechsten G7-Gipfel in Halifax erste Zwischenergebnisse praesentiert werden sollen. Machte der Information-Highway in der Vergangenheit vor allem durch 500 digitale TV-Kanaele sowie das Heimkino unter dem Schlagwort Video on demand von sich reden, sollen im Rahmen der Pilotprojekte nun eher praktische Anwendungen getestet werden: Von der Einrichtung eines globalen Verzeichnisses ueber bedeutende internationale Forschungsvorhaben bis hin zu elektronischen Bibliotheken, Museen und Galerien oder globalem Umwelt-, Natur- und Katastrophen- Management. Ebenso sollen im Rahmen der Pilotversuche Vorschlaege fuer eine kulturuebergreifende allgemeine und berufliche Bildung, staatliche Online-Dienste, neue Verkehrs-Informationssysteme sowie globale Anwendungen fuer das Gesundheitswesen erarbeitet werden. Damit diese Visionen Realitaet werden, untersucht eine Arbeitsgruppe die Interoperabilitaet der Breitbandnetze.

Dass die Interoperabilitaet nach wie vor ein grosses Problem darstellt, zeigten die ersten praktischen Vorfuehrungen waehrend der Konferenz. Denn entgegen allen hehren Politikerworten und glaenzenden Herstellerprospekten hapert es im alltaeglichen Leben damit noch gewaltig. So mussten die Techniker waehrend der den Gipfel begleitenden Ausstellung ATM-Verbindungen muehsam von Hand programmieren, wenn sie eine Videokonferenz oder Satellitenbilder uebertragen wollten. Zudem waren hinter den Kulissen Fachleute eifrig damit beschaeftigt, Unterbrechungen in den Datenleitungen manuell und mit Hilfe telefonischer Ratschlaege aus der Heimat zu lokalisieren und zu beheben. Ebenso eindrucksvoll zeigte die Ausstellung die Konsequenz hoher Telefontarife: Unternehmen wie DEC, die die Uebertragung von Satellitenbildern demonstrieren wollten, mussten einen Umweg ueber Schottland nehmen, um die Kosten im vertretbaren Rahmen zu halten. Mit dieser Umleitung konnte man naemlich die hohen Gebuehren des belgischen Carriers Belgacom fuer eine 2-Mbit/s-Verbindung vermeiden und in den Genuss der niedrigeren Telekom-Tarife in Grossbritannien kommen.

Doch nicht nur auf "High-Tech"-Ebene bereitete die Interoperabilitaet Schwierigkeiten. Vor Konferenzbeginn drohte die praktische Demonstration an so profanen Dingen wie unzureichender Stromversorgung zu scheitern: Das von Amerikanern, Kanadiern und Japanern mitgebrachte Equipment kam jedenfalls mit der europaeischen Stromversorgung von 220 Volt nicht zurecht. In letzter Minute installierte die EU deshalb ausserhalb des Gebaeudes zwei Dieselgeneratoren mit einer Leistung von 680 Kilowatt, um die Stromversorgung mit 110 Volt sicherzustellen.