Linux ist Unix dicht auf den Fersen

29.03.2006
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Dr. Carlo Velten schreibt als Experte zu den Themen Cloud-Platforms und -Developers, Enterprise Cloud Management und Digital Business. Dr. Carlo Velten ist CEO des IT-Research- und Beratungsunternehmens Crisp Research AG. Seit über 15 Jahren berät Carlo Velten als IT-Analyst namhafte Technologieunternehmen in Marketing- und Strategiefragen.
Geht es um Highend-Features für unternehmenskritische Anwendungen, sind klassische Unix-Derivate oft noch erste Wahl. Doch die Open-Source-Konkurrenz holt auf.
Mit der Verbreitung von Linux auf leistungsstarken Hardwareplattformen verlieren Unix-Derivate weiter an Bedeutung.
Mit der Verbreitung von Linux auf leistungsstarken Hardwareplattformen verlieren Unix-Derivate weiter an Bedeutung.

Angesichts der immer noch wachsenden Bedeutung von Linux als Server-Betriebssystem fragen sich viele Anwender, in welchen Segmenten Unix zukünftig noch eingesetzt wird. Dabei spielen die Marketingkampagnen zum Thema "Enterprise-Linux" seitens der Hardwareanbieter, der Linux-Companies und ihrer Partner, eine wesentliche Rolle. Sie vermitteln den Eindruck, dass das quelloffene System mittlerweile in nahezu allen unternehmenskritischen Anwendungsbereichen den Reifegrad von Unix erreicht hat und die klassischen Derivate verdrängen kann.

Fazit

Im Umfeld unternehmenskritischer Anwendungen hat sich Linux etabliert und auf der Midtier-Ebene Unix bereits teilweise verdrängt. Dem Einsatz im Bereich anspruchvoller transaktionsorientierter Workloads stehen allerdings noch Hindernisse entgegen. Ein limitierender Faktor ist vielfach der adressierbare Hauptspeicher und die im Vergleich zu Unix geringere Skalierbarkeit. Allerdings lässt die Tendenz hin zu Web-basierenden und verteilten Anwendungen (Web-Services) eine weitere Aufspaltung und Modularisierung der IT-Landschaften erwarten. In dieser neuen Welt werden sich durch Konzepte der Virtualisierung, Modularisierung und Verteilung die Gewichte weiter zugunsten von Linux verschieben. Unix wird nur für einen harten Kern zentralisierter Anwendungen relevant bleiben.

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Trotz der technischen Verbesserungen, die der Linux-Kernel 2.6 bietet, sowie der Anstrengungen von IT-Anbietern, Linux für Enterprise-Workloads zu optimieren, ist diese Einschätzung mit Vorsicht zu genießen: Nach wie vor gibt es Anwendungsszenarien, die derzeit besser von Unix als von Linux bedient werden.

Vergleicht man Unix und Linux aus technischer Perspektive, müssen verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. Der Reifegrad und die Verfügbarkeit von Kernel-Funktionen ist nur eine Komponente, die aber eng mit den Entwicklungen der Hardware einhergeht. Auch darf die Softwareseite nicht außer Acht gelassen werden. So sorgte der Mangel an Unternehmensanwendungen lange Zeit für eine gebremste Verbreitung von Linux.

ISV-Zertifizierung gefragt

Auch heute müssen Anwender vielfach noch nach Zertifizierungen und Garantien seitens der ISVs (Independent Software Vendors) suchen, wenn es darum geht, sehr anspruchsvolle Anwendungen auf Linux zu migrieren oder neu aufzusetzen. Die Übernahme des Risikos verbleibt vielfach beim Nutzer.

Zur Klärung der Gretchenfrage, ob Linux tatsächlich "Enterprise-ready" ist, sollte die Definitionsfrage geklärt sein. Unternehmenskritische oder Enterprise-Anwendungen sollen im Folgenden definiert werden als:

• Anwendungen, die einen wesentlichen Teil des Workloads im Unternehmen verarbeiten,

• Anwendungen, deren Verfügbarkeit sich kritisch auf zentrale Unternehmensabläufe auswirkt,

• Anwendungen, deren Stabilität und Verfügbarkeit die Reaktionsfähigkeit eines Unternehmens determinieren,

• Anwendungen, deren Verfügbarkeit und Leistung den Umsatz und die Profitabilität direkt beeinflussen.

Enterprise-Anwendungen

Legt man diese Definition zugrunde, ist zu erkennen, dass Enterprise-Anwendungen von Unternehmen zu Unternehmen und von Branche zu Branche unterschiedlich sind. Dies erklärt sich vor dem Hintergrund verschiedenartiger Geschäftsmodelle, Herausforderungen, und Wertschöpfungsketten. Zudem wird deutlich, dass die Enterprise-Fähigkeit von Systemen - wie in diesem Fall Linux als Betriebssystem - immer individuell beurteilt werden muss.

Dennoch lassen sich bei Betrachtung der typischen IT-Architekturen Ansätze finden, die eine leichtere Einordnung von Betriebssystemen erlauben. Als Enterprise-fähig sollen Betriebssysteme gelten, die nicht nur auf Ebene der Darstellung und des Applikations-Processing Einsatz finden, sondern auch die Anforderungen von Transaktionsdatenbanken erfüllen und Echtzeitfähigkeiten bieten.

Datenbanken noch unter Unix

Am Beispiel einer ERP-Installation, die als typisches Beispiel einer Enterprise-Anwendung gilt, wird deutlich, dass sich der Einsatz von Linux und Unix vielfach noch stark bezüglich der jeweilige Schichten (Layer) differenziert. So werden unter Linux vielfach Midtier-Application-Server betrieben, während die Datenbanken mit Transaktionsfähigkeit und hohen Anforderungen an adressierbaren Speicher in der Mehrzahl noch unter Unix laufen. Es gibt also eine gestufte Enterprise-Fähigkeit, die nicht nur von der Art der jeweiligen Anwendung, sondern wesentlich von der Tiefe des Einsatzes (Tier Level) abhängt.

Bezüglich des Reifegrads und des Funktionsumfangs der Betriebssysteme stehen vor allem Funktionen im Vordergrund, die Leistungsoptimierung und System-Management adressieren. So ist es in komplexen Multi-Tier-Umgebungen wichtig, die Funktionsweise und Performance zwischen Hardware und Software über das Betriebssystem messen und optimieren zu können. Hier ist Linux den etablierten Unix-Systemen noch nicht gewachsen, auch wenn Tools wie Intels "Vtune", "Kprobes" oder das relativ neue "SystemTap"-Project Verbesserungen gebracht haben.

Java-Unterstützung

Der Wandel von 3GL-Programmierung hin zu Java, bedingt durch SOA-Strategien und webbasierende, interaktive Applikationen, verlangt auf Seiten des Betriebssystems entsprechend leistungsfähige Java Virtual Machines (JVM). Hier kann Linux mit Unix konkurrieren. Anwender haben beispielsweise mit Suns JVM, Beas "JRockit" oder dem "GNU Compiler for the Java Programming Language (GCJ)" eine breite Auswahl starker Systeme zur Auswahl.

Engpass Hauptspeicher

Allerdings bleibt Linux bei Anwendungen mit hohen Anforderungen an adressierbarem Hauptspeicher für Echtzeit-verarbeitung noch deutlich hinter Unix zurück. So finden sich beispielsweise noch keine Installationen größerer Supply-Chain-Management-Lösungen unter Linux, da hier oft zu hohe Anforderungen an Hauptspeicher und Skalierbarkeit gestellt werden.

Anders sieht die Situation bei verteilten und geclusterten Systemen aus, wo Linux alle Anforderungen für größere Installationen erfüllt. So basiert nicht nur ein Großteil der HPC-Workloads auf Linux (HPC = High Performance Computing). Auch Google etwa betreibt ein Netz aus rund 100000 handelsüblichen x86-Rechnern unter Linux.

Hardwareunterstützung

Die Einsatzmöglichkeiten von Linux als Enterprise-Plattform sind neben den kernelspezfischen Leistungsmerkmalen stark von der Unterstützung seitens der Hardwareanbieter sowie der Hardwarearchitektur abhängig. So lassen sich bestimmte Unternehmensanwendungen nicht auf x86-Systemen abbilden. Zwar soll die Entwicklung zu 64-Bit-Systemen wie Itanium auch für Linux neue Möglichkeiten eröffnen. Doch das Open-Source-System weist noch Schwächen hinsichtlich der Skalierung und des adressierbaren Speichers auf, die bei etablierten Unix-Systemen mit Risc-Prozessoren besser abgedeckt sind. So bilden Anwendungen mit mehr als 16 GB adressierbarem Hauptspeicher unter Linux eher die Ausnahme.

Allerdings zeigen die Strategien von Hewlett-Packard und Fujitsu-Siemens Computers eindeutig in Richtung Itanium. Es ist deshalb von einer allmählichen Verbreitung von Linux auf dieser Plattform auszugehen. Zwar erreichen die hauseigenen Unix-Systeme derzeit noch bessere Leistungskennzahlen und haben mehr Anwender. Werden die Strategien zur Entwicklung von Itanium als zentraler Plattform aber umgesetzt und die Entwicklung von Linux als alternatives System zugleich verstärkt, kann dies in den kommenden Jahren zu einem Schub für Open Source führen.

In der Grafik ("Linux-Roadmap") ist die Entwicklung von Itanium-basierenden Linux-Systemen im Vergleich zu Risc-basierenden Linux-Rechnern dargestellt. Zu beachten ist ferner, dass die firmen- und branchenindividuell für Risc-Architekturen geschriebenen Anwendungen auch zukünftig kaum auf Linux umgestellt werden. Die Migrationskosten sind vielfach zu hoch oder auch die Anforderungen an das Processing zu unterschiedlich. Solche Legacy-Anwendungen werden deshalb auch zukünftig eine Domäne von Unix bleiben.

Auch auf der Softwareseite weist Linux gegenüber Unix noch Schwächen auf. In bestimmten Anwendungsbereichen bevorzugen Anwender deshalb Unix. So existieren zwar mittlerweile viele Lösungen für Linux. Doch in den Portfolios der Softwareanbieter sind noch etliche "Enterprise"-Module nicht für das quelloffene System zertifiziert oder es existieren keine Referenzen. Beispielsweise sind Teile anspruchsvoller SCM-, BI- oder ERP-Pakete im Midtier für Linux zertifiziert, die Kernmodule aber bleiben weiterhin auf Unix ausgerichtet. (wh)