Produktionssteuerung in der fraktalen Fabrik

Leitstandsanbieter hinken den Anforderungen hinterher

03.01.1997

"Wenn Funktionen aus den Bereichen Multimedia, Groupware und Data-Warehouse berücksichtigt werden, erscheint die Zukunft des Leitstandsmarktes aussichtsreicher denn je", fassen Gerd Aupperle, Günther Burr und Lothar März ihre Marktstudie zusammen*. Darin hat das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), Stuttgart, 23 Leitstandsprodukte erfaßt.

In der Vergangenheit, die geprägt war von der Idee des Computer Aided Manufacturing (CIM), setzten die Betriebe für die zentrale Planung, Steuerung und Überwachung elektronische Leitstände ein. Diese dienten als Bindeglied zwischen PPS-Systemen und den eigentlichen Produktionsprozessen. Heutzutage führen Zeit- und Kostendruck in der Fabrikation zu kürzeren Durchlaufzeiten sowie unter Umständen zu steigenden Variantenzahlen oder kleineren Losgrößen.

Tiefe Hierarchien und tayloristische Prinzipien weichen den Konzepten einer fraktalen Fabrik. Diese zeichnet sich durch dynamische Organisationsstrukturen aus. Die Fraktale erhalten ein gewisses Maß an Selbständigkeit in der Zielausrichtung, in der Selbstorganisation und -optimierung. Der größere Handlungsspielraum geht mit einer umfangreicheren Aufgabenstellung einher. Dabei entsteht sowohl ein innerbetrieblicher Wettbewerb zwischen den Organisationseinheiten als auch eine funktionale Zersplitterung.

Die Übergänge von einem Teilsystem zum anderen erweisen sich häufig als Schwachstellen. Neben DV-technischen Schwierigkeiten sind auch Probleme bei der Verwaltung der Schnittstellen zu erwarten, etwa bei Release-Wechseln und bei Änderungen im Datenmodell.

Die traditionellen Leitstandssysteme decken diesen Bereich nicht ab. Ihnen fehlt die Flexibilität, die eine dynamische Organisation fordert. So konnte sich die Einführung von Standardprodukten über Jahre erstrecken. Währenddessen haben sich häufig die Anforderungen an das System geändert, so daß die Firmen zum Teil in erheblichem Maße Anpassungen vornehmen mußten.

Das Wissen um solche Speziallösungen ist heute meist auf wenige Personen beschränkt, und kaum jemand wagt es, diese Systeme anzurühren. Darüber hinaus stellen traditionelle Leitstände nur unzureichende Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten zu Verfügung. In Zukunft gilt in bezug auf Information die Holschuld, glauben die Fraunhofer-Wissenschaftler.

Nur auf diese Weise werde eine bedarfsgerechte Versorgung möglich. Der Leitstand muß demgemäß ein Informationssystem anbieten, über das die Daten, in geeigneter Form aufbereitet, abrufbar sind. Dazu könnten Multimedia-, Mail- und Workflow-Systeme beitragen.

Bilder-, Video- und Sprachunterstützung böten bislang in vollem Umfang nur "Becos Fertigungsleitsystem" von Becos und "Concorde XAL" von IBM an. Gar nichts auf diesem Gebiet habe sich bei "Moopi" von Berclain, "FI-2" von GSSE und IDS Prof. Scheer, "Schedule ++" von OR Soft Jänicke, "Infra Pro/LS" von SIB Walter & Partner und "GFL" von Strässle Informationssysteme getan.

Multimedia ermöglicht benutzerfreundliche Oberflächen: Nachrichten sind schneller gesprochen als geschrieben, Bilder verfügen über einen höheren Informationsgehalt als Beschreibungen, und Videosysteme können nicht nur Maschinen überwachen, sondern auch der Aus- und Weiterbildung dienen.

Obwohl Mail- und Workflow-Systeme für die Kommunikation in dezentralen Organisationen fundamental sein können, verfügen lediglich vier Produkte über Workflow-Unterstützung: Becos, "Triton Baan", Schedule ++ und GFL. Doch auch der Nachrichtenversand ist nicht selbstverständlich. "Ifax-Open" von GSC, "VPPS" von Infor, "Obserwer" von OBS, "FDS/e" und "Soma/e", "Piuss Penta Leitstand" von PSI sowie Infra Pro/LS weisen nicht die Möglichkeit auf, Nachrichten zu verschicken.

Wie die Fraunhofer-Forscher fordern, sollte ein Leitstand auch über "Börsenfunktionen" verfügen. Mit ihrer Hilfe ließen sich etwa übergreifende Ressourcen wie Maschinen, Material, Werkzeuge, aber auch Personal auf die einzelnen Fraktale verteilen.

Bis jetzt seien dazu in den untersuchten Systemen lediglich rudimentäre Ansätze vorhanden. Auch ein "Auktionssystem", mit dessen Hilfe Aufträge an konkurrierende Fraktale wie bei einer Ausschreibung "versteigert" werden, gebe es bislang noch von keinem Hersteller. Denkbar sei die Umsetzung mit Hilfe von Software-Agenten.

Um trotz der Dezentralisierung von Verantwortung eine gemeinsame Ausrichtung auf die Unternehmensziele gewährleisten zu können, ist nach Auffassung des Fraunhofer-Instituts die Verständigung auf relevante Kennzahlen unabdingbar. Der Leitstand muß demnach sowohl das permanente Messen von Istzuständen als auch den Vergleich mit den Sollwerten erlauben. Außerdem sollte er Funktionen bereitstellen, die es erlauben, Abweichungen zu analysieren.

Das Fertigungsleitsystem von Becos unterstützt sowohl die Kennzahlenermittlung als auch Zielvereinbarungen bei den Durchlauf- und Lieferzeiten, beim Ausschuß, bei den Mengen, der Termintreue und den Kapazitäten. Den gleichen Funktionsumfang in diesem Bereich haben nur noch "Icam +" von Ikoss und das OBS-Produkt Obserwer. Mit Minimalausstattung versuchen Ifax-Open, Schedule++, Piuss Penta Leitstand, Infra Pro/LS und GFL zu bestehen.

Die meisten Leitstände (18) sind unter Unix lauffähig. Allerdings gibt es laut Aupperle einen Trend in Richtung Windows-NT-basierter Systeme. Derzeit unterstützen 14 Produkte Windows NT und neun Windows 95 oder Windows. "Computer Plantafel" der HBF KG, "Hydra" der MPDV Mikrolab GmbH, Obserwer, "Provisor" von der Pro DV Software GmbH, "OPS Power Station" der PS Systemtechnik GmbH, "FMS 300-20" der Siemens AG und GFL laufen lediglich unter Unix.

*Gerd Aupperle, "Der Leitstand: Werkzeug für dezentrale Organisationsformen" - Eine Marktübersicht", siehe auch: Gerd Aupperle, Günther Burr, Lothar März, "Leitstandsysteme und ihre Eignung für neue Organisationskonzepte - Ergebnisse einer Marktanalyse".