Die ereignisorientierte essentielle Systemanalyse

Leistungsfähigkeit der SW geht vor Kostenreduzierung

26.07.1991

* Joachim Marks ist beratender Volks- und Betriebswirt in Kiel

Die richtigen Informationen zum passenden Zeitpunkt anzubieten, ist die zentrale Zukunftsaufgabe der Informationstechnologie - nach Einschätzung von Joachim Marks* wurde dieses Ziel bis heute nur von sehr wenigen Unternehmen erreicht. Der Autor erstellt ein Zukunftskonzept, nach dem System- und Software-Entwicklung zur Nutzung der Ressource Information besser erfolgen können.

Immer wieder wird die Softwarekrise beschworen - seit mindestens zehn Jahren - und doch wird die Nachfrage nach Softwareleistungen immer größer. Inzwischen läßt sich Hardware sogar nur noch über passende Softwarelösungen verkaufen. Besucher der letzten CeBIT konnten sich von dieser Entwicklung ein Bild machen.

Sollte die häufig diskutierte These stimmen, nach der sich die permanent steigenden Investitionen in Softwareprojekte nicht mehr rechnen? Trifft dies zu, so wählen wir möglicherweise den falschen Weg in den sogenannten fünften Kondratieff. Denn die Aufschwungphasen der langen Konjunkturwellen, der sogenannten Kondratieffwellen - benannt nach dem russischen Ökonomen, der diese Phasen beschrieben hat - sind gekennzeichnet durch eine besonders hohe Rendite: Die Investitionen in diese Basisinnovationen zahlen sich aus.

Euphorie ist kein

Beweis für Aufschwung

In den Abschwungphasen dagegen werden Investitionen getätigt, die unterdurchschnittliche Renditen bringen. Das heißt, in diesen Phasen wird "des Guten zuviel" getan. Im Überschwang der Erwartungen an diese Innovationen werden Investitionen getätigt, die nach dem Stand der Faktorpreise - der Preise für Produktionsfaktoren wie Maschinen, Software oder Arbeitskräfte - nicht mehr sinnvoll sind, so daß deren Rentabilität nicht mehr gewährleistet ist.

Dies führt im Endeffekt zu überhöhten Preisen oder zu schrumpfenden Gewinnen (beziehungsweise Verlusten), die dazu führen können, daß ganze Wirtschaftszweige in die Rezession gerissen werden.

Eine allgemeine Euphorie, wie sie auf der CeBIT zu spüren war (siehe oben), ist natürlich kein Beweis dafür, daß wir wirklich im Aufschwung des fünften Kondratieff stehen. Entscheidend bleibt, ob die Investitionen in die Informationstechnologie (IT) jetzt oder in naher Zukunft überdurchschnittliche Renditen abwerfen oder nicht.

Sind die Produktivitätsgewinne der Informationstechnologie ausgeschöpft? Sind jetzt sogar Fehlinvestitionen aufgrund der Orientierung an alten Erfolgen zu erwarten?

Dies ist meiner Ansicht nach nicht so, zumindest nicht generell, denn in der Ausnutzung der IT-Möglichkeiten stehen wir erst am Anfang der Entwicklung: sowohl, was die weltweite Verknüpfung von Daten, als auch ihre Verknüpfung innerhalb eines Unternehmens angeht.

Nur in wenigen Bereichen hat die Informationstechnologie zu wirklich neuen Anwendungen geführt.

Die meisten DV-Lösungen erwecken den Eindruck, bisher manuell oder mental erledigte Aufgaben einfach auf eine technische Ebene zu verlagern.

Eine Voraussetzung zur produktiven Nutzung der Ressource Information ist, daß überhaupt bekannt ist, welche Informationen im Unternehmen existieren.

Dies transparent zu machen ist Ziel der Informationsanalyse, in deren Rahmen ein unternehmensweites Informationsmodell (Datenmodell) erstellt wird. Auch wenn Unternehmen heute noch selten wirklich vollständige Informationsmodelle erstellt haben, so besteht kaum noch Zweifel an deren Nutzen. Neue Projekte berücksichtigen diesen Aspekt in der Regel dadurch, daß sie Teilmodelle erstellen die zu einem Gesamtmodell zusammenwachsen. Der Weg, den "Datensalat" zu ordnen, wird beschritten Dies ist aber nur der Anfang, um die Informationstechnologie mit ihren Möglichkeiten voll auszuschöpfen.

Richtige Informationen zum richtigen Zeitpunkt

Es geht nicht allein darum, Informationen zur Verfügung zu stellen; ebenso wichtig ist, die richtigen Informationen zum rechten Zeitpunkt anzubieten - darin liegt der eigentliche qualitative Vorteil. Allzu häufig steht Informationstechnologie heute noch neben der klassischen Organisation. Die Optimierung der Arbeitsabläufe - einschließlich des Faktors Zeit - wird bei der Entwicklung neuer Projekte oft nur am Rande berücksichtigt.

Die systematische Gestaltung dieses Vorgangs ermöglicht die sogenannte essentielle Systemanalyse. Ausgehend von den Ereignissen, die ein System zu Reaktionen anstoßen, die es also zu Aktivitäten veranlassen, wird das Modell eines Unternehmens (System) erstellt, das sich auf die Essenz, auf das selbst beim Einsatz perfekter Technologie unabdingbar Notwendige, konzentriert. Die Essenz eines Systems beschränkt sich auf die Erläuterung dessen, was ein System leisten muß, und zwar unabhängig davon, auf welche Weise und von wem diese Aufgaben durchgeführt werden.

Dieser Sichtweise liegt die hypothetische Annahme einer perfekten Technologie zugrunde. In diesem Schritt der Modellierung wird also davon ausgegangen, daß die Aktivitäten des Systems in unendlicher Geschwindigkeit vorgenommen werden, keine Kosten verursachen und außerdem fehlerfrei durchgeführt werden.

Das System ist damit völlig unabhängig von der eingesetzten Technologie. Bei technologischen Fortschritten kann auf dieses ursprüngliche Modell zurückgegriffen werden, ebenso bei Veränderungen der Faktorpreise, die eine Modifizierung der eingesetzten Technologie "erzwingen" .

Wodurch kommt es zu dem (scheinbaren) Widerspruch zwischen der Softwarekrise, die aus mangelnder Rentabilität der Softwareprojekte entsteht, und der steigenden Nachfrage nach Softwareleistungen?

1. Die entscheidenden Leistungsfaktoren des mit dem fünften Kondratieff einhergehenden Strukturwandels, nämlich die Qualität und die Geschwindigkeit (Faktor Zeit) der Produktion von Waren beziehungsweise des Angebots von Dienstleistungen, werden in den Investitionsrechnungen gar nicht oder nur unzureichend berücksichtigt.

2. Die qualitativen Ansprüche an die Software erhöhen im allgemeinen das Investitionsvolumen, so daß die Rentabilität der Anwendungen sehr stark von der Menge der Einzelprodukte, auf die sie umgelegt werden, abhängt. Nicht wenige Firmenzusammenschlüsse dürften vor diesem Hintergrund zu sehen sein.

Zwei Konsequenzen für die Systementwicklung

Aus diesen Aspekten lassen sich zwei Konsequenzen für die Systementwicklung ziehen: Einerseits muß die Produktivität genauer gemessen werden. Das bedeutet, daß Meßkriterien für die qualitativen und zeitlichen Aspekte der Softwareprodukte zu erstellen sind. Um eine vollständige Investitionsrechnung aufstellen zu können, muß der Einfluß der Anwendungen auf die Erfolgsrechnung des Unternehmens geschätzt werden. Erst durch solche Maßnahmen wird es möglich, die Projekte mit der höchsten Rentabilität auszuwählen und damit die Investitionen sinnvoll zu steuern.

Die zweite Konsequenz: Die Produktivität der Systementwicklung ist zielgerichtet zu verbessern. Generell läßt sie sich von zwei Seiten her korrigieren, von der Kostenseite, indem die Herstellungs- und Wartungskosten der Software selbst verringert werden, sowie von der Leistungsseite, indem das Produktivitätspotential der Ressource Information in den Anwendungen voll ausgeschöpft wird.

Für die Systementwicklung und Software-Erstellung bieten sich folgende Maßnahmen an:

1. Für die Produkte der Systementwicklung sind meßbare Qualitätskriterien zu definieren Auch subjektive Einschätzungen können als Meßlatte zugelassen werden, wenn keine objektiven Messungen möglich sind beziehungsweise, wenn deren Erhebung zu teuer wäre. Das Produkt ist hier im Gesamtzusammenhang der Organisation und Abwicklung eines Geschäftsbereiches zu verstehen.

Als Kriterium für die zu ermittelnde Leistungsfähigkeit eines Geschäftsbereichs gilt neben der Qualität von Software und Hardware zum Beispiel auch die Motivation der Mitarbeiter. Als ein besonderes Leistungskriterium sollte die Geschwindigkeit der Bearbeitung berücksichtigt werden, da diese allgemein zu einem entscheidenden Wettbewerbskriterium geworden ist. Ein ebenfalls altbekannter, aber wichtiger Erfolgsfaktor ist die Schätzung der fixen und variablen Kosten für die Abwicklung der einzelnen Geschäftsvorfälle. Soll eine explizite Investitionsrechnung er stellt werden, so muß der Einfluß dieser Kriterien auf den Geschäftserfolg geschätzt werden.

2. Die Informationsmodellierung ist als grundlegender Bestandteil des Entwicklungsprozesses vorzunehmen. Sie strukturiert die Informationen und schafft dadurch eine übersichtliche Informationslage, die eine effektive Nutzung der Informationen für potentielle - im vor hinein nicht planbare - Aktionen des Systems "Unternehmen" sichert.

3. Die Objektorientierung ist als weiterer Grundsatz der Entwicklung aufzunehmen. Dadurch lassen sich die Datenkonsistenz erhöhen, die Wartungskosten der maschinellen Systeme verringern und die Wiederverwendbarkeit der Prozesse sicherstellen.

Für die Zukunft können Entwicklungs- und Wartungskosten der Software-Entwicklung gesenkt werden.

4. Soll das Produktivitätspotential der Ressource Information optimal genutzt werden, so muß ein Bestandteil der Software-Entwicklung die ereignisorientierte essentielle Systemanalyse sein. Auf diesem Weg lassen sich Unternehmenssysteme entwickeln, die eine ganzheitliche Sicht auf das Unternehmen gewährleisten und damit Software und Ablauforganisation integrieren.

Unnötige Zerstückelungen werden vermieden

Der ereignisorientierte Einstieg faßt die gesamte Bearbeitung eines Geschäftsvorfalls zusammen. Unnötige künstliche Zerstückelungen werden vermieden. Die Ablauforganisation wird tendenziell kurz gehalten. Dadurch lassen sich Reibungsverluste, die zu erhöhten Bearbeitungskosten oder zu Zeitverlusten führen können, vermeiden. Die Art der Betrachtungsweise ist zudem für die Fachabteilung leicht zugänglich, so daß Kommunikationsprobleme mit den Entwicklern vermieden werden. Dies führt zu geringeren Entwicklungskosten und zu einer höheren Qualität des Produktes.

Durch die explizite Erstellung eines essentiellen logischen Modells wird die Basis geschaffen, aus der ganz neue effektive, elegante und einfache Lösungen für Realisierungskonzepte zu finden sind, die gewachsene unproduktive Arbeitsabläufe überflüssig machen oder zumindest straffen. Dies trifft nach unserer Erfahrung insbesondere auf sekundäre fachliche Anforderungen zu.

Der "große Wurf" ist nicht mehr gefragt

Darunter sind solche Anforderungen zu verstehen, die nicht direkt dem Zweck des untersuchten Systems, sondern seiner Steuerung oder Kontrolle dienen - zum Beispiel Revisionsfähigkeit, Qualitätssicherung oder das Controlling. Außerdem wird mit diesem Schritt ein Ergebnis erzeugt, auf das im Falle von technologischen Neuerungen oder bei gravierenden Verschiebungen der Faktorpreise zwecks eines Redesigns zurückgegriffen werden kann. Dadurch werden Wartungs- beziehungsweise künftige Entwicklungskosten verringert.

Durch die Annahme der unendlichen Geschwindigkeit in dem essentiellen Modell läßt sich der Produktivitätsfaktor Zeit (Geschwindigkeit) bei der Konzeption einer Realisierung explizit berücksichtigen. Der Entscheidungsprozeß für die Auswahl einer optimalen technologischen Umsetzung wird durch die Erfolgsfaktoren Geschwindigkeit und Stückkosten des Geschäftsvorfalls steuerbar.

5. Da der Faktor Zeit ganz allgemein für die Produktion von Waren und Dienstleistungen eine steigende Bedeutung erlangt, also auch für die Systementwicklung selbst, ist es notwendig, für den Prozeß der Systementwicklung geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Zeitspanne zwischen Start und Realisation von Projekten zu verringern. Nicht mehr der "große Wurf" wird gefragt sein, sondern der kontinuierliche schrittweise Ausbau der Systeme.

Zur ldentifizierung geeigneter Teilprojekte ist ein sogenanntes Top-Modell zu entwikkeln, das die Ereignisse aus den oberen Ebenen und die korrespondierenden Informationsobjekte darstellt. Das Modell zeigt ein Gesamtsystem, aus dem Teilsysteme sukzessive weiterentwikkelt werden können, ohne daß Insellösungen entstehen. Neben den einzelnen Produktivitätsgewinnen werden möglicherweise durch die Verknüpfung zusätzliche Synergieeffekte erzielt.

Die oben skizzierten Maßnahmen zur Systementwicklung lassen sich miteinander verbinden und in ein Vorgehenskonzept zur Systementwicklung integrieren Bestandteile eines derartigen Konzeptes seien hier ansatzweise dargestellt:

1. Zieldefinition der Projekte, die zur Ableitung der Erfolgsfaktoren des Systems führt. Dazu zählen Qualitätskriterien, der Zeitfaktor sowie die variablen und fixen Kosten der Bearbeitung eines Geschäftsvorgangs.

2. Ereignisorientierte essentielle Systemanalyse, mit der TOP-Modelle erstellt werden können.

3. Gliederung der essentiellen Funktionen nach den Entitäten des Informationsmodells.

4. Auswahl von Teilprojekten, die nach sachlichen und zielgerechten Kriterien stattfindet.

5. Detaillierung der Informationsflußdiagramme für den ausgewählten Teilbereich zu einem vollständigen essentiellen Modell Parallel erfolgt die Detaillierung des Entitäten-Relationen-Modells und eine Fokussierung der Detailfunktionen auf jeweils eine Entität.

6. Entwicklung von Realisierungslösungen entlang der angestrebten Ziele und einer Bewertung anhand der abgeleiteten Erfolgsfaktoren.

Diesen ersten Schritten der Systementwicklung müssen - wie bisher auch - die Phasen des Designs, der Realisierung, des Tests etc. folgen. Auch diese Phasen sollten sich an den Erfolgskriterien orientieren. Nur so kann eine effektive leistungsorientierte Systementwicklung gewährleistet werden. Die oben skizzierten Phasen sind nicht als neues Wasserfallmodell zu verstehen, sondern als sich teilweise wiederholende Aktivitäten im Verlauf der Systementwicklung.

Die Phasen liefern einander den Input und steuern sich gegenseitig. Es müssen jeweils soviele Informationen zusammengetragen werden, daß eine Entscheidung für die nächsten Schritte erfolgen kann.

Dabei sind insbesondere alternative Lösungen zu berücksichtigen. So kann zum Beispiel ein Standardpaket oder eine organisatorische Lösung die Ziele des Projektes hinreichend erfüllen.

Resümee: Damit die Informationstechnologie ihre entscheidende Rolle als Basisinnovation im fünften Kondratieffzyklus ausfüllen kann, muß das Management der Systementwicklung im verstärkten Maße die Leistungsfähigkeit der Produkte in die Planung mit einbeziehen. Erst eine integrierte auf die Belange ihrer Kunden zugeschnittene Lösung kann das Produktivitätspotential der Ressource Information voll zur Entfaltung bringen.

Kostenreduzierung allein reicht nicht

Die Diskussion der Softwarekrise durch das Information Engeneering fokussierte allzu sehr auf die Reduzierung der Kosten der Software-Entwicklung. Der Leistungsfähigkeit der produzierten Organisationslösungen wird in der Frage der Produktivität eine bestimmende, bisher unterschätzte Rolle zukommen. Wie auch in den übrigen Waren- und Dienstleistungsmärkten verliert der Preis des Produktes als Wettbewerbsfaktor gegenüber neuen Produktivitätsfaktoren wie Geschwindigkeit der Verfügbarkeit und Qualität an Bedeutung. Die hier entworfene und teilweise schon praktizierte Entwicklungsstrategie berücksichtigt diese Aspekte systematisch um die Produktivitätseffekte der einzelnen methodischen Ansätze synergetisch zu verstärken.

Abschließend sei darauf hingewiesen, daß es nicht immer sinnvoll sein muß, den vollständigen Kanon dieser Entwicklungsstrategie auszuschöpfen. Sofern die ablauforientierten Erfolgsfaktoren in dem Zielkatalog eines Projektes von untergeordneter Bedeutung sind und die Informationsverwaltung ohne hohe Fallzahl im Vordergrund steht, kann eine rein objektorientierte Systementwicklung ausreichend sein.

Es bleibt festzuhalten, daß die Auswahl des methodischen Vorgehens nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Kostenreduzierung der Software-Entwicklung vorgenommen werden kann, sondern auch die Leistungsfähigkeit der organisierten Systeme einbeziehen muß. Nur wer sich rechtzeitig den Marktanforderungen stellt, wird sich behaupten können. Durch Kostenreduzierungen allein lassen sich keine Wettbewerbsvorteile erzielen.