Bisher keine Entlassungen durch Umstellung auf Verlagssystem

Leipziger Volkszeitung ging kürzesten Weg zum Voll-DTP

04.10.1991

LEIPZIG - Am 15. September 1990 erschien die "Leipziger Volkszeitung" das letzte Mal unter gewohnten Umständen. Das frühere "Organ der Bezirksleitung Leipzig der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands", jetzt Profit-Center des Hannoveraner Madsack-Verlages (75 Prozent Beteiligung, demnächst 50:50 .mit Springer), entstand noch einmal auf publikationstechnisch museale Weise: Mechanische Texterfassung, Bleisatz, Umbruch mit Schere und Klebstoff, Mettage und Hochdruck waren die Methoden.

Vielen Zeitungsleuten, auch von "Wessi-Blättern", sind diese Arbeitswerkzeuge und Produktionsmethoden sicher noch in frischer Erinnerung; organisatorisch umfassende Redaktionssysteme und Ganzseiten-Umbruch mit Desktop-Publishing haben sich noch längst nicht überall durchgesetzt. Wo das der Fall ist, lief die Umstellung meist schrittweise ab: Zuerst wurde in den meisten Verlagen die Texterfassung auf Verarbeitung mit Text-PCs umgestellt; diese wurden später vernetzt, bevor man daranging, den Blei- durch Lichtsatz abzulösen und den Klebstoff im Layout dem Eintrocknen auszusetzen - falls das nicht gar noch Zukunftsmusik ist. Anders bei der LVZ: Am folgenden Erscheinungstag, dem 17. September 1990, lag eine technisch völlig neue Zeitung in den Kiosken und Hausbriefkästen. Die Leipziger hatten aus dem Stand ihre erste komplett mit DTP erstellte Ausgabe aus der Tür gebracht - pünktlich und im geplanten Umfang.

Eine Stadtausgabe und elf Regionalausgaben

Die LVZ ist heute eine Zeitung mit maximal 48 Seiten für die Leipziger Stadtausgabe so wie mit elf Lokalausgaben, die einen gemeinsamen Seitenmantel verwenden und höchstens 16 Seiten umfassen. Das Blatt erscheint in schwarzweiß mit einer Schmuckfarbe; Vierfarbdruck ist wegen der Beschränkung durch die teils veralteten Druckmaschinen noch nicht möglich. Gab es zu SED-Zeiten natürlich kein kommerzielles Anzeigengeschäft, macht dieses, so Verlagsleiter Jürgen Rupp, inzwischen 40 Prozent des LVZ-Umfangs aus, an Wochenenden 60 Prozent.

Die Lokalteile werden komplett in den Außenredaktionen produziert, wobei die Redakteure dort nicht die Layout-Kompetenz besitzen, um täglich neu im freien Umbruch ihre Rubrik zu gestalten. Sie wählen in der Regel eine oder mehrere der fertig entworfenen Master-Seiten aus die ihnen vom neunköpfigen Layout-Pool der LVZ zur Auswahl angeboten werden. Die fertig produzierten Lokalseiten transportiert ein Kurier zum Belichten und Weiterverarbeiten auf Disketten nach Leipzig. In einer telefontechnisch besseren Zukunft - so Telekom will und kann - sollen die Redaktionsbüros im Umland per Standleitung an das Verlagszentrum angebunden werden.

Knapp zehn Millionen Mark investierte der Verlag, um die Evolution der letzten zwanzig Jahre im Zeitungswesen einzuholen und mit einem Sprung zum Publishing im modernen Sinne des Wortes aufzuschließen. Was man dafür einhandelte, nennt sich "P.Ink Press" und erhebt den Anspruch, ein Anzeigen-, Redaktions- und Produktionssystem zu sein, das die Vorteile von Großrechner-Umgebungen und PCs zusammenbringt, und zwar in einem Netz von Apple-Macintosh-Arbeitsplätzen.

Softwarebasis für P.Ink ist das DTP-Paket Quark XPress 3.0; das System integriert eine SQL-Datenbank zur Verwaltung von Listen, Verzeichnissen und Archiven. Es besteht aus Modulen, die sich an den Arbeitsbereichen eines Periodika-Verlages orientieren: Produktplanung, Text-, Bild- und Anzeigenverarbeitung, Seitenlayout, Herstellung von Druckvorlagen, Ausgabe auf Laserbelichter sowie kaufmännische Verwaltung. Darüber hinaus enthält P.Ink eine E-Mail-Komponente mit Briefkastenfunktion.

Die LVZ-Installation (siehe Abbildung) umfaßt gegenwärtig zirka 220 Mac-Arbeitsplätze, einschließlich der Außenredaktionen sowie der Anzeigenverwaltung und Buchhaltung, die, außerhalb des Verlags-Hauptsitzes, in der Arndtstraße in Leipzig untergebracht sind. Via Ethernet in Koaxial-Verkabelung greifen sie auf zwei Macintosh-Fileserver - diese verwalteten fertig montierte Seiten und Anzeigen sowie alle Anwendungsprogramme -, eine DEC-VAX als SQL-Datenserver (je zwei mal 400 MB gespiegelte Plattenkapazität) für Agenturtexte, fertige Artikel und Typographien sowie auf einen weiteren Mac als Backup-Server mit insgesamt zwei Gigabyte an Speicherperipherie zu.

Die 220 Workstations verteilen sich im redaktionellen Bereich auf zehn Ressortsysteme mit je 16 Stationen und einem Laserdrucker. Zehn Macs für Texterfassung und Datentypie stehen im Schreibpool, weitere 14 Stück haben Anzeigenverwaltung und Buchhaltung in der Arndtstraße zur Verfügung. Der Layout-Bereich umfaßt fünf Subsysteme mit je vier Stationen, die natürlich bessere und größere Bildschirme haben als die Text-Macs; eines der fünf Subsysteme integriert einen Schwarzweiß-Scanner von Siemens.

Acht bis zwölf Stunden Zeit zur Einarbeitung

Die Anzeigengestalter arbeiten an zwei Stationen mit 19-Zoll-Farbmonitoren und je einem Siemens-Farbscanner. Eine weitere Station fungiert als Spooler für zwei online geschaltete Linotronic-530-Belichter und für drei Linotype-Drucker. Je ein Macintosh empfängt Agenturtexte von dpa, ADN, ddp und Reuter und überträgt sie an den Datenserver.

Sieben Leute sind für das Funktionieren der gesamten DV verantwortlich. Wie Systembetreuerin Nina Weiß, Chefin der Supportgruppe, wurden sie alle von "außen eingekauft", berichtet Rupp, denn die Verlagsangestellten konnten sich zwar in die Anwendungen einarbeiten, jedoch waren keine ausreichenden Kenntnisse für die Systembetreuung im Hause vorhanden. Von gravierenden Störungen kann Weiß bisher nichts berichten, aber die Kapazitätsgrenzen hat die Installation in einem Teilbereich zwischendurch bereits angekratzt: Der zuerst als SQL-Server eingesetzte Macintosh war zu langsam, was zu Verzögerungen bei der Anzeigenproduktion führte. Mit dem Austausch gegen eine VAX konnte das Problem gelöst werden. Datenverluste im Netz, die natürlich auch schon vorgekommen sind, stellten sich laut Nina Weiß im Nachhinein durchweg als Resultate von Bedienungsfehlern heraus.

Das System mußte bei der LVZ in erster Linie beweisen, wie benutzerfreundlich, wie einfach zu erlernen und wie funktionssicher es von Anfang an ist. Statt sich parallel zur Arbeit nach gewohntem Schema in das neue System einarbeiten zu können, erhielten die Redakteure, Layouter und alle anderen Verlagsmitarbeiter möglichst kurze, ihrem Anforderungsprofil bei der P.Ink-Nutzung angepaßte Schulungen, um unverzüglich mit den frisch erworbenen Kenntnissen auf die Leser losgelassen zu werden. Die Redakteure hatten nur acht bis zwölf Stunden Einarbeitungszeit, erzählt Rupp.

Natürlich machten sich die Projektverantwortlichen Gedanken, ob das neue System unter diesen Voraussetzungen akzeptiert werden würde. Zu den Gewöhnungsanforderungen kam ja hinzu, daß die Produktivität der neuen Arbeitsweise höher sein sollte als vorher, was unter Umständen auch eine Mehrbelastung für die Mitarbeiter bedeuten konnte. Zum Beispiel hat sich die Andruckzeit um eine Stunde verschoben; zwischen 18 und 19 Uhr können jetzt noch vier Seiten komplett neu gesetzt werden.

Tatsächlich war es dann so, berichtet Rupp, daß die Mitarbeiter sich "draufgestürzt" hätten. Leute mit schnellerer Auffassungsgabe hätten ihre neu erworbenen Mac-Kenntnisse nach dem "Schneeballsystem" an die anderen weitergegeben, und ziemlich schnell sei die Produktivität der Mitarbeiter mit der P.Ink-Installation auf einen zufriedenstellenden Stand gestiegen. Anzeigengestalter, Redakteure und Layouter haben ihren Mac zwar nicht mit Blumen dekoriert, aber überzeugt sind sie offenbar schon. Den Eindruck gewinnt man jedenfalls auf einem Rundgang durch den Verlag: Viele sind gerne zu einer Demonstration in ihrem Tätigkeitsfeld bereit.

Kritik wurde jedoch im Anzeigenpool laut, wo eine Grafikerin monierte, daß sie nicht mehr wie früher im Wechsel Texte erfassen und anschließend die Anzeigen montieren, sondern nur noch bereits erfaßte Texte in ein Grafikdokument einbinden und dieses anpassen muß. Ihren neuen Job findet sie langweiliger. Ansonsten hat der Beobachter den Eindruck, daß der Umgang mit dem System den Mitarbeitern so viel Spaß macht, wie man es von einer Broterwerbs-Tätigkeit erwarten kann.

Bisher mußte nach Angaben von Jürgen Rupp keiner der früheren Verlagsmitarbeiter entlassen werden. Der größere Umfang der LVZ, das gewachsene Anzeigengeschäft und Produktions- sowie Druckaufträge von außen haben offenbar den Zugewinn an Produktivität abschöpfen können.

Wie die LVZ sich künftig unter Madsack und Springer entwickelt, muß sich noch zeigen: Am Stadtrand entsteht zur Zeit ein neues Druck- und Verlagszentrum, das 1992 fertiggestellt sein soll.