Informationstechnik im Gesundheitswesen/Interview mit einem "beteiligten Betroffenen"

"Lege die Karten auf den Tisch und zeige, was du mit den Ressourcen machst"

21.06.1996

Mit Dr. Jörg Hohenloser sprach Winfried Gertz*

CW: Warum hat es die Informationstechnik in der Medizin so schwer?

Hohenloser: Im Vergleich zu den strukturierten Bereichen des Business ist die Medizin ein komplexeres, zumal inhaltlich sehr heterogenes Gebiet mit multimedialer Datenlandschaft. Erst seit wenigen Jahren steht ein Technologieangebot zur Verwaltung dieser Daten zur Verfügung. Es gibt zudem kein allgemein akzeptiertes klinisches Datenmodell und keine übergreifenden Kodierungs- beziehungsweise Klassifikationssysteme zur Abbildung medizinischer Inhalte. Man kann allenfalls von Teillösungen sprechen. Sie können schlecht ein Auto verkaufen, das nur aus einem Kofferraum besteht. Im Spannungsfeld zwischen Informationstechnologie und patientenbezogener Datenverwaltung spielen außerdem nach wie vor ungelöste Datenschutzprobleme eine zentrale Rolle, insbesondere in der Bundesrepublik: IT schafft Transparenz. Der Grat zwischen Transparenz und Verletzung des Datenschutzes ist sehr schmal. Häufig werden sinnvolle informationstechnische Ansätze mit dem Knüppel des Datenschutzes gestoppt - meiner Meinung nach nicht immer zum Schutz des Patienten.

CW: Ein klassisches Dilemma?

Hohenloser: Eine höhere Transparenz in der medizinischen Ressourcennutzung bekommen wir nur über moderne IT. Die wichtigsten Vorteile dieser Installationen - erhöhte Transparenz, raum- und zeitunabhängige Beschleunigung des Datenzugriffs - werden allerdings häufig als Verletzung des Datenschutzes angesehen, selbst wenn dies durch autorisiertes Personal geschieht. Der Benutzer leidet zunehmend unter der Last der komplizierteren maschinellen Dateneingabe und wird auf seiten der Datenausgabe - dem eigentlichen Vorteil dieser Systeme - durch Datenschutzmaßnahmen gebremst. Das ist das Dilemma. Vernünftiger Datenschutz ist wichtig und zwingend notwendig, man sollte aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Ich kann mir kaum vorstellen, daß ein Patient daran interessiert ist, daß wesentliche medizinische Entscheidungen durch das Verhindern eines raschen Zugriffs auf seine Daten verzögert oder suboptimal getroffen werden.

CW: Was taugen die IT-Systeme, mit denen die Kliniken zur Zeit arbeiten?

Hohenloser: Ein Grundproblem ist, daß die Beschaffungs- und Entwicklungsstrukturen derartiger Systeme nicht mehr zeitgemäß sind. Es gibt einfach zuwenig klinisch erfahrene und gleichzeitig informationstechnisch ausreichend geschulte Mediziner, die an der Spezifizierung oder Entwicklung medizinischer Informationssysteme beteiligt sind. Die überwiegende Zahl der eingesetzten Systeme wird von Ingenieuren entwickelt, von der Verwaltung bezahlt, von Medizinern benutzt, aber nicht verstanden. Metaphern und Terminologien aus der Welt der Informatik, der Verwaltung, der Finanzen und Buchhaltung sind dem medizinischen Personal fremd und erschweren den Umgang mit Informationssystemen.

CW: Warum gibt es - trotz 30jähriger Erfahrung mit Klinikkommunikationssystemen - keine großen, flächendeckenden Installationen außerhalb der primär entwickelnden Einrichtungen?

Hohenloser: Informationssysteme in den medizinischen Alltag einzuführen heißt nicht selten, einen massiven Eingriff in eine informationelle Infrastruktur vorzunehmen, in der die Patientenbetreuung im Vordergrund steht, ihre Dokumentation hingegen zweitrangig ist. Der medizinische Entscheidungsprozeß ist häufig ein tastender, versuchender. Und er nimmt viel Zeit in Anspruch. Wenn ein Arzt in dieser Phase der Unsicherheit von einem System zu Pseudopräzision gezwungen wird, bleiben Probleme nicht aus. Die Schnittstelle Benutzer/Maschine und die gezielte, vorsichtige Auswahl der zu erfassenden Informationen unter intensiver Beteiligung der künftigen Benutzer ist die eigentliche Herausforderung. Ich selbst bin als Consultant eines großen Klinikverbunds in den USA an der Einführung solcher Systeme beteiligt. Dort ist der Durchsatz von Patienten in der Ambulanz nach Einführung derartiger Systeme wegen Benutzer-Maschinen- Interaktionsproblemen auf 60 Prozent gesunken. Jetzt hat man sich wieder bei 80 Prozent stabilisiert. Der Klinikverband akzeptiert den Verlust und glaubt dennoch, unter dem Strich einen Vorteil durch bessere Dokumentation und damit höhere Transparenz zu haben.

CW: Welche DV-Konzepte fördern eine höhere Transparenz und Wirtschaftlichkeit?

Hohenloser: Das Gesundheitsstrukturgesetz hat einen Sachzwang geschaffen, zu dem sich viele Mediziner sicherlich nicht freiwillig bekannt hätten. "Lege die Karten auf den Tisch, und zeige, was du mit den Ressourcen machst." In Zukunft wird man bis hinunter auf die Stationsebene wirtschaftlich haushalten müssen. Andernfalls wird es Konsequenzen personeller Art bis hin zu Klinikschließungen geben. Neben einer kompletten Reorganisation der DV-Infrastruktur auf der Datenerfassungsseite gewinnt die Datenausgabeseite zunehmend an Bedeutung.

Als ein instrumentelles Korrelat des Begriffs Transparenz im DV- Bereich bieten sich beispielsweise moderne Reporting-Werkzeuge an. Entscheidend dabei ist eine schnelle, möglichst zeitechte Verfügbarkeit entscheidungskritischer Daten, um Trends zu erkennen (etwa sinkende Aufnahmezahlen), gegensteuern oder besser argumentieren zu können (zum Beispiel zunehmende Liegezeiten) und letztendlich Phänomene plausibel zu erklären (zum Beispiel Aufnahmezuwachs bei schwerkranken Patienten, die von einer benachbarten Fachklinik überstellt werden).

Angeklickt

Zwischen Scylla (totale Transparenz) und Charybdis (komplette Reorganisation) gilt es den mittleren Kurs zu finden. Die Navigatoren der überaus schwierigen, teuren und gefährlichen Fahrt in die demnächst hoffentlich ruhigeren Gewässer einer zwar Gesundheitsstruktur-gesetzestreuen, aber dennoch maßvollen Daten- und IT-Reorganisation in den Kliniken dürfen nicht scheitern. Ein Arzt und Informatiker mit USA-Erfahrung äußert sich zu den Besonderheiten deutscher Verhältnisse.

*Dr. Jörg Hohenloser, Institut für Medizinische Informationsverarbeitung am Universiätsklinikum München- Großhadern. Winfried Gertz ist freier Journalist in München.