Wegen mangelnder Jahr-2000-Fähigkeit des alten Produkts

Lear erneuerte PPS-System für die Just-in-Time-Fertigung

10.12.1999
MÜNCHEN (CW) - Mit einem Kraftakt hat der Autositzhersteller Lear Corp. sein Produktionsplanungs- und Steuerungssystem in allen europäischen Werken ausgetauscht. Das 14 Jahre alte IBM-Produkt "Copics" Jahr-2000-fähig zu machen wäre zu aufwendig gewesen.

Der Just-in-Time-Trend stellt höchste Anforderungen an die Termintreue der Automobilzulieferer. Von der Auftragserfassung bis hin zur Lieferung an das Band des Herstellers kann sich das Zulieferunternehmen weder Zeit- noch Fehlertoleranzen leisten.

Alle 1,5 Minuten geht vom Bremer Automobilwerk der Daimler-Chrysler AG ein Impuls mit den Auftragsdaten beim Werk Bremen-Mahndorf der Lear Corporation GmbH & Co. KG ein. Im selben Rhythmus wird dort eine komplette PKW-Sitzgarnitur - im Fachjargon "Carset" genannt - produziert, und alle 20 Minuten verläßt ein vollbeladener LKW das Fabrikgelände. Vom Anforderungsimpuls des Automobilwerks bis zur Bereitstellung der Sitze am Band dürfen maximal sieben Stunden vergehen. Rund 600 Mitarbeiter sind damit beschäftigt, durchschnittlich 1150 Sitzgarnituren pro Tag herzustellen.

Auch bei der Just-in-Time-Produktion ist der Kunde König. Im Bremer Lear-Lager befinden sich Rindslederhäute in 52 Farben und 136 unterschiedliche Stoffarten. "Gegen entsprechenden Aufpreis können Sie farblich Ihren eigenen Sitz entwerfen", sagt Thomas Walzner, Director Information Technology bei Lear. "Das schaffen wir auch noch."

Bis zum vergangenen Juni bezog das Bremer Lear-Werk IT-Dienstleistungen von der Keiper GmbH & Co., Remscheid, deren OEM-Geschäft (Keiper Car Seating GmbH) Lear 1997 übernommen hatte. Für die Produktionsplanung und -steuerung (PPS) kam dabei eine modifizierte Version des IBM-Systems Copics zum Einsatz. Obschon das Produkt mittlerweile 14 Jahre auf dem Buckel hat, gab es bislang wenig Grund zur Beanstandung.

Doch Copics ist aufgrund seines Alters nicht Jahr-2000-fest. Eine Umstellung wäre laut Walzner zwar möglich, aber sehr teuer gewesen; mindestens eine Million Mark hätte es gekostet, die Datenfelder auf vierstellige Jahreszahlen zu erweitern oder sie entsprechend interpretierbar zu machen. Zudem bot der IBM-Oldie längerfristig keine Perspektive.

Deshalb entschied sich Lear, ein neues System einzuführen. Die fünf europäischen Niederlassungen hatten Erfahrungen mit unterschiedlichen Produkten gesammelt. So hatte beispielswiese das mit den Herstellern Audi und Porsche kooperiernde Werk in Besigheim während seiner Zugehörigkeit zu Keiper bereits mit der Implementierung der R/3-Software von SAP begonnen, die im Finanzbereich auch eingesetzt wird.

In Wackersdorf, wo Autositze für BMW produziert werden, lief eine Implementierung des AS/400-basierten Produkts "XPPS" von Brain International. Die anderen Landesgesellschaften des Lear-Konzerns setzten zumeist auf "BPCS" von SSA.

Obschon das SSA-System quasi ein Unternehmensstandard ist, entschied sich die deutsche Lear für das Produkt von Brain. Einer der Gründe: Es ließ sich schnell genug einführen, um noch vor der Jahrtausendwende "up and running" zu sein. Weder mit der SAP- noch mit der SSA-Software wäre das möglich gewesen. Zudem hatte das Werk Wackersdorf mit der Brain-Software gute Erfahrungen gemacht.

Tatsächlich gelang es Lear, das im August 1998 gestartete Projekt bereits im April dieses Jahres weitgehend abzuschließen. Im September ging das letzte der beteiligten Werke damit produktiv.

Die Entscheidung für die neue Software bedingte auch die Einführung neuer Hardwaresysteme. Während die Copics-Software auf einer Host-Plattform bei der IBM-Tochter IBB betrieben wurde, kommen für XPPS vier lokale AS/400-Systeme zum Einsatz. Eins steht in Bremen, ein zweites im von der Größe her vergleichbaren Werk Besigheim, die restlichen beiden in den ungarischen Niederlassungen: der für den Audi TT produzierenden Just-in-Time-Fabrik Györ und der Näherei in Mor. Die Customer-Service-Center in Böblingen, Wolfsburg, Ingolstadt und Ebersberg bei München wurden ebenfalls an die Applikation angebunden.

Von der Stange ließ sich die Brain-Software allerdings nicht verwenden - was laut Walzner jedoch für alle gängigen PPS-Lösungen gilt. Die Standardprodukte seien durchweg nicht in der Lage, die hohe Komplexität der Automobilproduktion voll zu unterstützen.

Deshalb investierte Lear noch einmal 500 Manntage in die Anpassung der Standardsoftware sowie weitere 1000 in Beratung und Schulung. In rund 30 Einzelprojekten wurde das System verbessert und verfeinert. Projektgegenstand war beispielsweise die Kommunikations-Schnittstelle zu den Kunden aus der Automobilproduktion. Der Industrieverband VDA habe zwar Standards dafür definiert, de facto unterschieden sich die Herstellersysteme aber doch an vielen Stellen, erläutert Walzner. Deshalb mußte das PPS-System eine ausgefeilte EDI-Schnittstelle bekommen.

Kritisch war auch der Datendurchsatz. Bei 1150 Carsets am Tag addieren sich die Einzelteile auf mehr als 500000 Stück. Die große Variantenvielfalt macht eine pauschale Buchung unmöglich. Jedes einzelne Teil online in der Datenbank zu verbuchen würde aber die Grenzen des Systems schnell sprengen.

Deshalb entschied sich Lear, die Stücklisten aufzulösen, gleiche Teile zu kumulieren und sie dreimal am Tag rückwirkend (im Fachjargon: "retrograd") zu verbuchen. Das hätte jedoch bedeutet, daß die im System verzeichneten Bestände jeweils um mehrere Stunden hinter der Wirklichkeit herhinken würden.

Um dieses Problem zu lösen, entwickelte Lear eine vorgelagerte Datenbank, in der die tatsächlich verbrauchten Teile online vom letzten gespeicherten Bestand abgezogen werden. Auf diesem Umweg haben die Materialdisponenten den jeweiligen Bestand im Zugriff, ohne daß die Datenbank überläuft.

An dieser Stelle erweist sich, daß der Umstieg auf ein neues PPS-System dem Automobilzulieferer mehr eingebracht hat als nur die Jahr-2000-Festigkeit: Copics war ein reines Batch-System, das den Abgleich zwischen Realität und Rechnerwelt nachts offline vornahm. Erinnert sich Walzner: "Was wir tatsächlich im Lager hatten, konnten wir, bedingt durch den Dreischichtbetrieb, nur am Montagmorgen sehen."

DAS UNTERNEHMEN

Die Lear Corp. wurde 1917 in den USA gegründet und hat sich seither zu einem Konzern mit weltweit etwa 300 Niederlassungen sowie rund 100000 Mitarbeitern entwickelt. Seit 1994 notiert das Unternehmen an der Börse, und für 1999 verbuchte es einen Umsatz von mehr als neun Milliarden Dollar.

Das Hauptgeschäft des Unternehmens besteht in der Produktion von Innenausstattungs-Komponenten für alle namhaften Automobilhersteller. Daneben gehören die Fertigung von Spritzgußteilen und Sitzversteller-Komponenten aus Stahl zur Produktpalette.

In den 90er Jahren erwarb Lear eine Reihe von Zulieferfirmen, darunter Fiat Seat Business und Keiper Car Seating Europa. Das Unternehmen steht heute auf Platz fünf in der Weltrangliste der Automobilzulieferer.