Marktübersichten sind mit Vorsicht zu genießen

Laut Statistik ist jeder ein Branchenführer

16.02.1990

DV-Marktforscher geraten zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Der Grund: Hersteller

wie Anwender fühlen sich verschaukelt, weil Marktübersichten, Statistiken und Zahlenmaterial mit grundverschiedenen - nicht selten widersprüchlichen - Aussagen den DV-Markt überschwemmen. Wer in der Balkengrafik einmal ganz oben stehen möchte, wird

in den seltensten Fällen Schwierigkeiten haben - vorausgesetzt, er kann sich s e i n e

Individual-Statistik leisten. "Es sind nicht unbedingt Fehler, die Abweichungen zwischen den Ergebnissen verschiedener Institute verursachen, sondern in erster Linie unterschiedliche Definitionen" so die Erläuterung der IDC-Forscherin Ingrid Schubert.

Für den Marktüberblick sind Statistiken interessant, aber auf Kaufentscheidungen haben sie bei uns keinen Einfluß, beteuert Heinz Rosser, Leiter des Endbenutzer Services bei der Coca-Cola GmbH in Essen. Kein Wunder, denn die Company-Strategie ist von vornherein festgelegt: "Marktführer geht mit Marktführer!"

Anders beurteilt dagegen Ralf Vogel, DV-Koordinator bei den Kölner Nordstern Versicherungsgesellschaften, die Angebote der Marktforschungsinstitute und Zeitungen: "Marktübersichten und Zahlenmaterial interessieren uns außerordentlich". Zwar sei auch sein Unternehmen auf die IBM-Welt fixiert doch eine Trennung will der Koordinator bei der derzeitigen Preispolitik von IBM langfristig nicht ausschließen. Marktbeobachtung scheint ihm für den Fall einer neuen Orientierung unerläßlich.

Bezeichnend für die derzeitige Situation in der Marktforschung ist, daß beide Anwender den in Zeitschriften und Dokumentationen veröffentlichten Zahlen relativ unkritisch gegenüberstehen. "Eigentlich ist es uns egal, woher die Daten stammen", so der Coke-Mitarbeiter. "Definitionen und methodische Erläuterungen vermissen wir nicht - die Zahlen sprechen für sich", bestätigt darüber hinaus Nordstern-Koordinator Vogel.

Doch wie entsteht eigentlich das Zahlenmaterial, dem die Anwender vertrauen und das nicht selten in ihre Investitionsplanung miteinfließt? Fritz Reinhold Müller, einer der Geschäftsführer von Diebold, gesteht: "Unsere Methode war, Hersteller nach Auslieferungs-

und Installationszahlen zu befragen; wir erhielten zuletzt Ergebnisse, die nicht immer ganz richtig, oder besser, nicht ganz falsch waren."

War es für den Diebold-Chef vor Jahren noch recht einfach, exakte Zahlen über einen von Mainframes dominierten Markt zu liefern, so wurden mit dem zunehmenden Einsatz von PCs und Bürocomputern die Probleme immer größer. "Früher konnten wir die Installationszahlen noch gegenchecken; das schaffen wir heute nicht mehr, weil die Hersteller meistens nicht wissen, was sie draußen haben, und weil wir den Markt nicht mehr vollständig erfassen können", erläutert Müller. Diebold hat deshalb die Konsequenz gezogen und ist aus dem Geschäft mit den Zahlen ausgeschieden, um nun ausschließlich auf seine "starke Seite", die Unternehmensberatung zu setzen.

Auch bei den Marktforschern von der IDC Deutschland GmbH, Kronberg, schleicht sich der Frust ein. Der Aufwand für die Ermittlung von Zahlen ist so groß geworden, daß sich daran kaum noch verdienen läßt - zumindest, solange sich die Kundschaft vorwiegend aus DV-Herstellern rekrutiert. Bei IDC vollzieht sich, so Marktforscherin Ingrid Schubert, sukzessive eine Trendwende von der Hersteller- zur Anwenderbetreuung. "Statt weiterhin Zahlengerüste anzubieten, wollen wir unsere Daten künftig mit wesentlich mehr lnterpretation und Analyse versehen", verrät die Analystin.

Trotz der neuen Vorsätze wird sich schon aus Kostengründen an dem Verfahren, die Erhebungen allein auf der Basis von Herstellerbefragungen durchzuführen, kaum etwas ändern. Karl Abril, Leiter der Marktanalyse im DI-Bereich der Münchner Siemens AG, erläutert, wie es zu den Diebold- und IDC-Übersichten kommt: "Die Art der Fragestellungen in den Fragebögen, die wir von diesen Instituten bekommen, ist reichlich naiv. So sollen wir auf einem IDC-Fragebogen für das Protokoll 802.3 (Ethernet) angeben, wie viele Netzwerke wir in sämtliche europäische Länder verschickt haben. Das ist einfach nicht machbar!"

Laut Abril ist es schon schwierig genug zu sagen, welche Umsätze in einzelnen Marktsegmenten erzielt worden sind. Gar nicht zu beantworten seien auch Fragen nach vertikalen Märkten, da der Hersteller oft nicht wisse, in welchen Branchen seine Produkte abgesetzt würden.

Auch Wolfgang Pauli, Leiter Marketing Services bei der DEC GmbH in München, hält von den Fragebögen der Marktforscher nicht viel. "Ich habe Diebold schon zweimal auf fehlerhafte Fragestellungen in ihren Erhebungsbögen aufmerksam gemacht." Bei diesen Umfragen, so Pauli, ist es den Herstellern überlassen, abgesetzte Stückzahlen anzugeben, beziehungsweise ihre Rechner den angebotenen Kategorien mehr oder weniger nach Belieben zuzuordnen.

Wie fragwürdig und zum Teil fehlerhaft viele der öffentlich präsentierten Marktforschungsergebnisse sind, weiß zwar der DV-Hersteller - nicht aber der Anwender. Der bildet sich seine Meinung aus dem präsentierten Zahlenmaterial und zieht vielleicht noch Quellen wie den Isis Produktkatalog hinzu - allerdings beruht auch dieser auf Herstellerangaben. Dabei entstehen Meinungsbilder wie das des folgenden Anwenders, der

anonym bleiben möchte: "Wenn eine Firma - gemessen an den Umsatzzahlen - wie eine Rakete in den Markt eindringt, dann steckt da auch ein interessantes Produkt dahinter. Fällt dagegen ein Standard-Lieferant total ab, dann ist da mit Sicherheit irgendwas faul."

Faul sind aber oft eher die methodischen Verfahren der Erhebung und die unpräzisen Angaben, die Unternehmen zu ihren eigenen Vorteilen machen. Unklare Definitionen, so die unternehmenseigenen Marktforscher von DEC und Siemens, führen gerade bei Herstellerbefragungen zu groben Fehlangaben.

Siemens-Analyst Abril gibt ein Beispiel: "Wenn man produktbezogene Absatzzahlen über PCs, Datensichtstationen, Workstations und andere Endgeräte hernimmt und diese Zahlen addiert, dann kommt man zu total unrealistischen Stückzahlen. Nach diesen Angaben

müßten an jedem Büro-Arbeitsplatz mindestens zwei Bildschirme stehen. Unklare Definitionen und nicht zuletzt falsche Angaben der Hersteller sorgen für ein völlig falsches Bild.

Ähnliche Probleme gibt es bei Erhebungen über Umsätze, Absatzwerte oder Preise. Will der Anwender zum Beispiel die Gesamtumsätze von IBM, Hewlett-Packard (HP) und Siemens miteinander vergleichen, so wird er in den meisten Fällen - zumindest was den reinen DV-Markt betrifft - ein verzerrtes Bild erhalten.

Die IBM dürfte nämlich daran interessiert sein, ihre Umsätze im Bereich der Chip-Entwicklung mit in die Statistik einfließen zu lassen; HP dagegen wird sich darum bemühen, auch Umsätze aus den Bereichen Medizin-Analytik und Meßtechnik zu erfassen - und bei Siemens ist die Informationstechnologie bekanntlich nur ein Teilbereich des Gesamtkonzerns. Durch die Mehrheitsbeteiligung an Nixdorf könnte sich das Bild noch weiter verzerren.

Geben Marktübersichten von IDC oder Diebold aufgrund unklarer Definitionen und zweifelhafter Angaben der Hersteller in vielen Fällen auch ein schiefes Bild wieder, so sind sie für den Anwender doch zuverlässiger als die Unzahl von Marktübersichten, die von den Herstellern präsentiert werden.

"Heute kann jedes DV-Unternehmen seine eigenen Statistiken auf den Markt bringen", moniert Diebold-Geschäftsführer Müller. "Natürlich möchte der Hersteller gut aussehen", so der Analyst. "Er sucht sich einfach einen Bereich aus, zum Beispiel die Rechner-Preisklasse zwischen 400 000 und 600 000 Mark, um sagen zu können: hier bin ich Marktführer."

Marktzahlen, die Anwendern zur Verfügung stehen, stammen also auf jeden Fall vom Hersteller - entweder über den Umweg der Erhebung eines Institutes oder auf direktem Wege. Die großen DV-Unternehmen dagegen, bis dato noch die Hauptkunden der Marktforscher, erhalten ihre zweifelos korrekteren Zahlen aus mehreren Quellen - unter anderem aus detaillierten Anwenderbefragungen und umfassenden eigenen Nachforschungen.

Unternehmen wie DEC, IBM oder Siemens leisten sich ihre hausinternen Marktforschungsabteilungen. Dort ist eine Vielzahl von Analysten mit statistischen Aufgaben befaßt. Sämtliche Zahlen der verschiedenen externen Marktforschungsinstitute werden von den Konzernen einzeln ausgewertet und mit den Resultaten eigener Forschungen zu einem Gesamtbild vereinigt. "lnterne und externe Untersuchungsergebnisse fügen sich mosaikartig zu einem umfassenden Meinungsbild über ein bestimmtes Segment zusammen", erläutert Michael Rupf, Leiter der Marktforschung bei IBM in Stuttgart.

Bei Siemens stammen zwei Drittel der Daten und Fakten, die für die Planung benötigt werden, aus eigenen MarktanaIysen und nur zu einem Drittel fließen externe Quellen ein. Siemens-Mitarbeiter Abril hält das Befragen von Herstellern zwar für problematisch, will aber dennoch nicht auf die Befragungsergebnisse verzichten, weil sie für die Beobachtung der Konkurrenz unerläßlich sind.

Die schlüssigsten Ergebnisse, so der Münchner Analyst, sind über das sehr aufwendige und kostspielige Verfahren der Anwenderbefragung zu bekommen. Beim Benutzer sei exakter zu erfahren, welche Systeme und Anwendungen eingesetzt werden. Angaben über Branchen, Größenklassen und Marktanteile seien ebenso zu bekommen wie Hinweise über den Zufriedenheitsgrad der Kunden. Allerdings: Vor Ungenauigkeiten und Fehlern sei auch dieses Verfahren nicht gefeit.

Das Münchner Marktforschungsinstitut Infratest-lndustria ermittelt seine Zahlen bei Anwendern. Geschäftsführerin Ursula Neugebauer räumt ein: "Aufgrund der Tatsache, daß die Erhebung auf der Basis von Stichproben erfolgt, sind Zufallsschwankungen unvermeidlich." Außerdem sei eine "Unterberichterstattung", zu verzichten da die meisten Unternehmen bei ihren Angaben einzelne Systeme schlicht vergessen. Dieser Bereich könne jedoch mit Schätzungen in etwa abgedeckt werden.

DEC-Mitarbeiter Pauli sieht dagegen in Anwenderbefragungen kein Allheilmittel. Ebenso wie bei Herstellererhebungen fürchtet er auch hier, daß aufgrund mißverständlicher Definitionen falsche Ergebnisse entstehen. Hinzu kommt das Mißtrauen gegen Stichprobenverfahren: "Bei Infratest erhält man nur sehr zögerlich Informationen über die Erhebungsmethode. Die haben sich lange geziert, und die Stichprobenumfänge mitzuteilen; wir wollten nämlich nachvollziehen, wie genau so eine Analyse überhaupt ist."

Auch Siemens-Analyst Abril der Anwenderbefragungen generell befürwortet, sieht hier die Probleme: "Ein Stichprobenverfahren kann nur dann sinnvoll sein, wenn der zu

untersuchende Markt eine große, Anzahl von homogenen Merkmalen aufweist. Wenn von dem untersuchten Produkt aber nur vier, 50 oder 180 Stück im Einsatz sind, kann die Stichprobenmethode nur Fehler hervorbringen ."

Nach Ansicht des Siemens Mitarbeiters müßte der Umfang der Stichproben erhöht werden - dann allerdings entstünden dem Marktforschungsunternehmen enorme Zusatzkosten.

Während sich also die Hersteller darum bemühen, vom Anwender die exaktesten Daten zu bekommen, werden sich diese auch in Zukunft mit dem zweifellos ungenaueren Herstellermaterial begnügen müssen. Allerdings dürfte ihnen durch die anwenderfreundlichere Neuorientierung der Marktforschungsinstitute Diebold und IDC der Rücken gestärkt werden.