"Lasst doch die Daten da, wo sie sind"

05.04.2005
Über Sinn und Unsinn von Radio Frequency Identification (RFID) sprach SAP-Vorstand Claus Heinrich mit CW-Redakteur Martin Bayer.

CW: In Sachen RFID scheint sich Ernüchterung breit zu machen. An welcher Stelle der Hype-Kurve sehen Sie das Thema derzeit?

Heinrich: Die Diskussion dreht sich zu sehr um Fallbeispiele wie Wal-Mart. Landläufige Meinung ist hier, man muss nur ein Funketikett auf die Packung zu kleben, und schon funktioniert alles wie von selbst. Unternehmen müssen aber zunächst über Implikationen und notwendige Investitionen nachdenken, wenn RFID flächendeckend eingeführt werden sollte.

CW: Passiert das denn schon?

Heinrich: Um jedes Produkt mit einer Funketikette zu bestücken, sind die entsprechenden Chips noch zu teuer. Es gibt keinen Sinn, wenn ein 20 Cent teurer Chip auf einen zehn Cent teuren Joghurtbecher geklebt wird.

CW: Was kann RFID für Firmen bedeuten?

Heinrich: Prozesse laufen unter völlig veränderten Bedingungen ab. Vergleichen lässt sich dies mit der Entwicklung der Luftfahrt. Während die Piloten früher alles von Hand erledigen mussten, funktioniert das heute weitgehend automatisiert. Die Piloten überwachen nur noch Ausnahmen. Die heutigen Manager stehen meist noch auf dem Status eines Charles Lindbergh. Sie steuern ihre Unternehmen nach Gefühl.

CW: Welche Veränderungen erwarten Sie?

Heinrich: Die neue IT wird mit RFID mehr Informationen aus der realen Welt aufnehmen und diese automatisch weiterverarbeiten. Dadurch können die Wartungsintervalle von Maschinen an die Einsatzbedingungen angepasst werden. Ein weiteres Beispiel ist die erhöhte Transparenz der Warenbestände in der Logistik.

CW: Was muss geschehen, bis derartige Szenarien in den Alltag einkehren?

Heinrich: Entscheidend ist der Preis des Chips. Das so genannte Pallet-Tracing, also RFID-Chips auf Paletten, wird sich relativ schnell realisieren lassen. Dagegen wird End-Item-Tagging, das Funketikett auf dem Endprodukt, vom Chip und der Problemstellung abhängen.

CW: Sie sehen also ein deutlich breiteres Einsatzgebiet für RFID?

Heinrich: Die Anwender dürfen sich nicht nur auf die Technik konzentrieren, nach dem Motto: Jetzt habe ich eine neue Technik und suche nach einem Problem dafür. Man muss sich zuerst fragen: Was ist eigentlich das Problem? Gillette will mit Hilfe von Funketiketten den Diebstahl seiner Rasierklingen unterbinden. Pharmaunternehmen nutzen RFID, um den Weg von Medikamenten zurückzuverfolgen.

CW: Warum hat das Thema dann noch nicht richtig abgehoben?

Heinrich: Es steckt noch eine Menge Komplexität darin. Unsere Partnerschaften unter anderem mit Infineon und Intel sollen helfen, die Standardisierung voranzutreiben. Devices und Software sollen künftig aufeinander abgestimmt sein. Dann können die RFID-Lesegeräte direkt mit den angeschlossenen Business-Systemen kommunizieren. Das nimmt die Komplexität und damit einen Kostenfaktor aus dem Thema heraus.

CW: Durch die RFID-Technik fallen Unmengen an Daten an. Sind die Systeme und die Business-Software schon darauf vorbereitet?

Heinrich: Wichtig ist dabei der ausnahme- orientierte Ansatz. Früher galt es, große Mengen an Informationen in ein Data Warehouse zu schaufeln und dann zu verarbeiten. Das wird künftig nicht mehr so sein. RFID-Chips verfügen bald über mehr Rechenleistung und eine gewisse Intelligenz und Logik. Anwender können dann beispielsweise festlegen, unter welchen Bedingungen eine Meldung abgesetzt wird. Letztendlich sollen nur die Informationen weitergeschickt werden, die in den nächsten Systemen wirklich wichtig sind. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel. Der neue Real-World-Awareness-Ansatz besagt: Lasst doch die Daten da, wo sie sind. Dort ändern sie sich auch ständig.

CW: Wenn die Chips künftig mehr Aufgaben bewältigen müssen, wird es dann nicht schwierig, die Funketiketten billiger zu machen?

Heinrich: Da haben Sie Recht. Es wird jedoch eine Vielzahl unterschiedlicher Systeme geben: Von einfachen passiven Chips für zehn oder 20 Cent, die vielleicht 100 bis 200 Informationen speichern können, bis zu leistungsfähigen aktiven Chips, die im Prinzip kleine Computersysteme darstellen.

CW: Halten die aktuellen Privacy-Debatten die Entwicklung auf?

Heinrich: Wir müssen die Bedenken der Privacy-Verfechter sehr ernst nehmen und dürfen die Einwände nicht als Quatsch abtun. Wichtig dabei ist es, Transparenz zu schaffen und darzustellen, was mit den Daten geschieht.