Mark Curtis von Accenture-Tochter Fjord

"Kunden dazu bringen, innovativ zu sein"

21.04.2016
Von 


Simon Hülsbömer betreut als Senior Research Manager Studienprojekte in der Marktforschung von CIO, CSO und COMPUTERWOCHE. Zuvor entwickelte er Executive-Weiterbildungen und war rund zehn Jahre lang als (leitender) Redakteur tätig. Hier zeichnete er u.a. für die Themen IT-Sicherheit und Datenschutz verantwortlich.
Schwarmintelligente britische Fußballfans, liebestolle Smartphone-Besitzer, nüchtern rechnende Unternehmen mit einem Hang zum totalen Stillstand - Mark Curtis hat sie alle schon gehabt. Als weitgereister Service-Design-Berater gestaltet er den digitalen Wandel an vorderster Front mit.

Hemdsärmlig ausgedrückt, ist Mark Curtis ein "Hansdampf in allen Gassen". Als kreativer Kopf stieg er schon früh ins Digitalgeschäft ein, gründete 2001 zusammen mit Mike Beeston und Olof Schybergson die Service-Design-Beratung Fjord, die seit 2013 als Design- und Innovationstochter zu Accenture gehört. Als "Chief Client Officer" dreht sich bei ihm schon immer alles um den "Kunden" an sich - in der Erfindung, Weiterentwicklung und Vermarktung neuer Produkte. "Ich sitze bestimmt jeden zweiten Tag mit Kunden zusammen und tausche mich aus - und es sind immer andere Kunden", erzählt Curtis im COMPUTERWOCHE-Interview.

Mark Curtis gründete Fjord mit und ist derzeit als "Chief Client Officer" unterwegs.
Mark Curtis gründete Fjord mit und ist derzeit als "Chief Client Officer" unterwegs.
Foto: Fjord, Accenture

2005 gründete er das mit zehn Millionen Dollar finanzierte Start-up "Flirtomatic" - eine "Match & Make"-Dating-Software für liebesuchende Smartphone-Besitzer, die als erste mobile Anwendung überhaupt auf ein "Freemium"-Umsatzmodell setzte. Darüber hinaus entwickelte Curtis für den britischen Sender C4 das Reality-TV-Format "You’re the Manager", bei dem Fußball-Fans wie er via Smartphone-App Woche für Woche ihre eigene Mannschaftsaufstellung wählen sollten - lange bevor virtuelle Teammanager a la "Fantasy Football" zum Volkssport wurden.

Eine Ausstrahlung blieb "You’re the Manager" verwehrt, weil der englische Fußballverband eine Woche vor der ersten Ausstrahlung kalte Füße bekam und das Format für zu gewagt hielt. "Meine vielleicht größte Niederlage", gesteht Curtis, der die gewonnenen Erfahrungen aber in seinem Buch "Distraction - Being Human in the Digital Age" niederschrieb und sich dafür auch intensiv mit der Theorie der Schwarmintelligenz auseinandersetzte.

Wenn er nicht gerade Dating- oder Fußball-Apps oder andere sinnvolle Produkte erfindet, berät er Unternehmen, lässt sich in Gesprächen mit Kunden inspirieren, hält Vorträge oder schaut sich Spiele seines Lieblingsclubs FC Chelsea an.

Alles dreht sich um den Kunden

CW: Herr Curtis, bitte charakterisieren Sie sich selbst in drei Worten.

MARK CURTIS: Neugierig. Überschwänglich. Nachdenklich.

CW: Wie hat sich das "Zeitalter des Kunden", von dem immer die Rede ist, über die letzten Jahre hinweg entwickelt?

CURTIS: Ich spreche lieber von Kundenzentrierung. Es geht um die Art, wie sich der Fokus auf den Kunden in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Wir bei Fjord haben da eine bestimmte Regel - die "Rule of Three in Design". Erstens Design Thinking - da geht es um die Planung und die Bekanntmachung von neuen kundenorientierten Services auf den anvisierten Märkten. Zweitens Design Doing - das eigentliche Schaffen der erdachten Dienste. Drittens Design Culture - oft das schwierigste von allen. Hier geht es um Hilfestellungen für Unternehmen, sich zu wandeln, zu transformieren hin zu einem kundenorientierten Geschäft - sich zu lösen vom Silodenken und vom Nachdenken über reine Technologie.

In den vergangenen Jahren hat das reine Design Thinking den Markt dominiert. Gerade im Bereich Service Design hat der Einsatz von standardisierten Werkzeugen seit vier oder fünf Jahren erheblich zugenommen - wir nutzen beispielsweise Customer Journey Maps oder Service Blueprints. Den Kunden sind diese Begriffe und Tools unbekannt, solange sie sie nicht selbst einsetzen. Und hier entwickelt sich etwas Wichtiges hin zum Design Doing und zur Design Culture: Früher haben wir Designer anderen Designern den Umgang mit diesen Werkzeugen gelehrt, heute zeigen wir es den Kunden direkt. Wir haben dafür beispielsweise massiv in unsere Design-Ausbilder investiert, die immer häufiger direkt an die Kundenbasis gehen und ihr Wissen weitergeben. Auf der anderen Seite müssen sie auch den Fjord-Kollegen ihr Wissen vermitteln - da die richtige Balance zu finden, wer was wissen möchte und wissen muss, ist nicht so ganz einfach.

CW: Auch Ihr Titel "Chief Client Officer" verrät, dass sich bei Ihnen alles um den Kunden dreht. Sie stehen damit stellvertretend für eine absolute Kundenzentrierung, die transformierende Unternehmen heute erreichen möchten. Überfordern Sie die Kunden nicht, wenn die quasi über die Zukunft einer ganzen Industrie entscheiden sollen?

CURTIS: Kundenzentrierung heißt nicht, dass die Kunden einem Unternehmen sagen, was zu tun ist. Das wissen die Kunden oft nämlich nicht. Die Kunden wussten nicht, dass sie Uber wollten. Da mussten erst ein paar junge Leute aus Kalifornien kommen, die sich darüber ärgerten, dass die kaum vorhandenen Taxis in San Francisco stinken und schlechte Stoßdämpfer haben. Sie reagierten mit der Geschäftsidee eines Chauffeur-Services von privat zu privat. Um diese einfache Idee herum entwickelten sie weitere Services und gingen sehr clever dabei vor. Das, was früher unsichtbar war - der Standpunkt des nächsten Taxis - wurde durch mobile Kartendienste sichtbar. Und das, was früher sichtbar war - die Bezahlung des Fahrers - wurde via Online-Payment quasi unsichtbar. Aus einer anfangs lokalen Idee in San Francisco wurde so ein weltweites Geschäft, das nun selbst in Städten wie London funktioniert, in der massenweise angenehm riechende und gut gefederte Taxis unterwegs sind.

Nun stellen Sie sich vor, die Uber-Gründer wären erst zu verschiedenen Leuten gegangen und hätten sie nach ihrer Meinung gefragt. Kaum ein Kunde wäre damals auf die Idee gekommen, die Barzahlung des Taxifahrers zu kritisieren und nach einer Cloud-basierten Lösung zu fragen. Das so etwas geht, war den meisten zum damaligen Zeitpunkt nicht geläufig. Uber ist ein Kundenproblem angegangen, von dem die Kunden gar nicht wussten, dass sie es haben. Das führte zum Erfolg.

Von Glühbirnen und Schrauben

CW: Also kommt der kundenorientierte Ansatz erst dann richtig zur Geltung, wenn ein Produkt bereits am Markt ist?

CURTIS: Nein. Wenn wir mit großen Unternehmen zusammenarbeiten, schauen wir uns den Kontext der Kunden an. Wir reden zwar viel mit ihnen, oft beobachten wir aber einfach nur. Beispielsweise beraten wir einen Baumarktbetreiber, in dessen Filialen wir während der Öffnungszeiten die Warenregale im Auge behielten. Uns fiel unter anderem auf, dass vielen Kunden der Kauf der richtigen Glühbirne unglaublich schwer fällt. Ein sehr kundenzentriertes Problem, das wohl jeder kennt, der einmal vor einem riesigen Warenregal mit Glühbirnen gestanden hat. Gespräche mit Kunden und Marktangestellten bestätigten das Problem. Wenn wir also den Glühbirnenkauf und -verkauf vereinfachen können, können wir auch eine Menge anderer, ähnlich kleiner Probleme lösen - wie den Kauf von Schrauben oder Nägeln. Das hilft den Kunden und dem Baumarkt. Und das alles nur durch kleine Beobachtungen und persönliche Gespräche.

Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Angestellten des Unternehmens, das wir beraten. Nur sie kommen jeden Tag mit ihren eigenen Kunden in Kontakt, sie kennen deren Nöte und Wünsche am besten. Wir als Berater sorgen nur dafür, dass die Mitarbeiter und die Technologie, die es dann noch braucht, zusammenfinden.

CW: Sie und ich und wir alle sind auch selbst Kunden. Haben wir nicht selbst einen guten Kundenblick, der aufwändige "Feldforschungen" überflüssig macht?

CURTIS: Was meinen Sie, in wie vielen Gesprächen ich schon saß, wo es Unternehmensvertretern einfach nicht gelang, sich in ihre Kunden hineinzuversetzen. Ich war bei einer Bank - irgendwo im Ausland - und wir haben uns einen ganzen Tag lang mit der Customer Journey dieser Bank beschäftigt, um beim Design eines neuen Services zu helfen. Wir haben uns verschiedene Kundengruppen und -typen angeschaut, um herauszufinden, wie die Kunden dieser Bank über den Tag hinweg ihr Geld ausgeben. Wir haben uns dazu mehrere Musterkunden ersonnen, die genau in die Zielgruppe des geplanten Services passen würden. Eine davon war eine junge Studentin, die jeden Morgen um neun zur Universität fährt - in derselben Stadt, in der die Bank ihren Sitz hat. Frage von uns: "Wie kommt sie hin?" Schnelle Antwort der Bank-Vorstände: "Mit dem Bus." Frage: "Wie teuer ist ein einfaches Busticket?" Die Antwort ließ auf sich warten, bis einer kleinlaut mit einer Gegenfrage aufwartete: "20 Euro?"

Die Vertreter der Bank aus dem mittleren und oberen Management hatten keinen blassen Schimmer, wieviel eine Fahrt mit dem Bus in ihrer Stadt kostet. Warum? Nun ja, ich kenne einige von ihnen sehr gut. Sie fahren dicke Autos, sind sehr gut bezahlt und schon sehr lange Zeit ganz weit weg vom Leben eines durchschnittlichen Studenten.

Was ich mit dieser Geschichte ausdrücken möchte: Ja, wir haben alle unsere persönliche Sicht auf bestimmte Probleme. Wir vergessen aber allzu oft, dass wir nicht repräsentativ für das stehen, was unsere Kunden beschäftigt. Wir glauben das zwar bisweilen, irren uns da aber gewaltig. Deshalb ist der Kundenkontakt so wichtig.

Mitarbeiter helfen mit

CW: Eine Frage noch zu den Mitarbeitern - wie konkret können diese einbezogen werden, wenn ein Unternehmen neue Produkte erfindet?

CURTIS: In Australien hatten wir einmal ein Projekt für Außendiensttechniker eines großen Telekommunikationsunternehmens. Wir haben sie bei Hausbesuchen zur Installation von Breitbandanschlüssen begleitet. So eine Installation ist wahrlich kein einfaches Unterfangen. Der Kunde möchte schnelles Internet, möchte, dass die Techniker zum vereinbarten Zeitpunkt pünktlich vor der Tür stehen und dass sie schnell wieder verschwinden, damit er surfen kann. Was er nicht möchte, ist das Loch in der Wand und der Krach der Bohrmaschine.

Wir sind also eine Woche mit den Technikern durch die Häuser gezogen, haben sie beobachten und interviewt. Gleichzeitig haben sich unsere Designer intensiv mit der Armada von Werkzeugen und Gerätschaften beschäftigt, die die Techniker immer dabei haben. Sie haben einige von ihnen gebeten, ihre Werkzeuge einfach einmal aufzuzeichnen, um dann gemeinsam zu überlegen, wie das ideale Werkzeug denn aussehen müsste, das sowohl die Wünsche der Techniker als auch die der Kunden zufriedenstellt. Im Ergebnis haben wir tatsächlich gemeinsam mit den Außendienstmitarbeitern neue Werkzeuge designen können, die für alle Seiten besser waren als die alten.

Diese Mischung aus Kundenzentrierung und Kreativität ist für mich die Zukunft: Nicht nur theoretisch über Innovationen sinnieren, sondern Mitarbeiter wie Kunden dazu bringen, auch selbst innovativ zu sein.

CW: Welche Rolle spielt der Verteilerkanal, spielt das Medium, für das ein Design entworfen wird? Wie verändert sich der Entwicklungsprozess je nach Ausspielweg und auch je nach Zielgruppe?

CURTIS: Channels sind sehr wichtig. Geräteklassen sind sehr wichtig. Jedes Gerät hat seine eigenen Anforderungen, reagiert anders, ist anders zu handhaben, hat einen anderen Kontext. Schauen wir uns die Geschichte an: Immer wenn sich die Ausspielwege geändert haben, wurden über kurz oder lang auch die Art der Inhalte geändert. Als das Fernsehen aufkam, hat man erst versucht, das Radio zu kopieren: Jemand saß an einem Mikrofon und sprach in die Kamera. Das war langweilig und hat nicht funktioniert. Hier musste sich in der Machart also etwas ändern. Als Zeitungsverlage ins Internet gingen, merkten sie schnell, dass es sich dort um ein völlig neues Medium handelt, das andere Anforderungen an Inhalte stellt.

Genau das Gleiche gilt für Services. Der Kundenkontakt zur Bank ist online ein anderer als der persönliche, als der über die App, der per Briefpost oder gar der über Amazon Echo. Es kommt immer auf den Kunden und seine Vorlieben an, wie er wann gerade Kontakt zur Bank aufnehmen möchte. Vielleicht möchte er den Kontakt ja künftig über sein Auto herstellen, weil er sich während der Fahrt über seinen Kontostand wundert und mehr darüber herausfinden möchte.

Weiterlesen? Jetzt Sind Sie dran!

Neben den Themen Kundenzentrierung und Design Thinking unterhielten wir uns mit Mark Curtis unter anderem auch darüber, wem wertvolle Kundendaten gehören, welches Produktdesign ihm bisher am meisten Spaß gemacht und wie er seine größte berufliche Niederlage weggesteckt hat.

Wenn Sie sich für seine Antworten interessieren, nehmen Sie an unserer interaktiven Umfrage teil und wir werden die Passagen, die besonders begehrt sind, für Sie bereitstellen.