Kostensenkung durch Prozesssimulation Mit Petri-Netzen strukturiert ABB die Produktionsablaeufe neu

16.12.1994

Von Bernd Mueller*

Ueber Prozessorientierung und Process-Mapping wird viel gesprochen. Was Prozesse jedoch eigentlich sind und wie man sie zweckmaessig abbildet, darueber gehen die Meinungen immer noch auseinander. Bei der Mannheimer ABB Kraftwerke AG wurde als Tool-unterstuetzte Methode das sogenannte Petri-Netz eingesetzt, um Fertigungsprozesse einer neuen Produktionsanlage in Ausschnitten abzubilden und zu optimieren.

Bereits vor mehr als 30 Jahren entwarf Carl Adam Petri die nach ihm benannten Petri-Netze zur Modellierung nebenlaeufiger, das heisst asynchroner Aktivitaeten. Seitdem wurde das Verfahren weltweit weiterentwickelt, die Diskussion um die Darstellung von Prozessen haelt jedoch an, mitunter wird das Rad neu erfunden. Dies hat einerseits mit der Scheu vor der konsequenten Umsetzung mathematisch exakter Strukturen im betrieblichen Umfeld zu tun. Andererseits gab es bislang nur wenige kommerzielle Tools zur Unterstuetzung, wobei es auch an der Rechenleistung insbesondere zur Simulation betrieblicher Prozesse haperte.

Grundlegende Aenderungen in den grossmechanischen Fertigungsablaeufen standen auch bei der ABB Kraftwerke AG an, als im April 1994 eines der groessten Karussell-Bearbeitungszentren der Welt, die "Doppel- Gantry-Maschine I", in Betrieb genommen wurde. Das Unternehmen vollzog damit einen Technologiesprung in der Produktion etwa von Gasturbinen, mit dem der ABB-Standort Deutschland trotz des Hochlohngefueges gesichert werden sollte. Es ist klar, dass derartige Umwaelzungen, die als Business Re-Engineering in der Literatur fast verharmlost werden, nicht ohne Probleme zu bewaeltigen sind und tiefe Spuren hinterlassen. Mehrere sogenannte Cross-Functional-Teams haben in Mannheim die Planung und Umsetzung uebernommen. Dabei waren nicht nur die Fertigung, sondern auch Bereiche wie Personalabteilung, Kostenrechnung, Rechnungspruefung, Infrastruktur-Management und Informatik betroffen.

Die neuen Prozessablaeufe erforderten unter anderem die Umstellung der gesamten IS-Landschaft im Produktionsbereich. Dies reicht vom PPS-System ueber die Fertigungssteuerung bis hin zum Leitrechner, umfasst die CAD/CAM- Kopplung, den DNC-Betrieb, die Optimierung des Werkzeugeinsatzes an der Maschine sowie die verzoegerungsfreie Bereitstellung des Ausgangsmaterials.

Neben den inzwischen schon konventionellen Verfahren wie ER- Diagrammtechnik fuer die Informationsstrukturen sowie statischen Funktionsbaeumen wird bei ABB seit einiger Zeit zur Modellierung von Informations- und Materialfluss eine Tool-gestuetzte Petri-Netz- Methodik angewandt. Sie basiert im Kern auf der Verknuepfung von Oracle-CASE-Werkzeugen (Dictionary, ER-Diagrammer, Function- Diagrammer) mit Tools der Firma Promatis, Karlsbad, dem sogenannten Income-Designer und dem Simulator. Dabei werden Petri- Netze mit einem grafischen Werkzeug (Income-Designer) auf Basis der vorher definierten Tabellen im CASE-Dictionary eingerichtet und gegebenenfalls grafisch animiert.

Will man das Petri-Netz nicht nur grafisch darstellen und verbal beschreiben, so koennen durch die Definition der Multiplizitaet von Markenspeichern (Stellen), durch die Angabe von Kantenbedingungen sowie durch die Festlegung der Schaltvorgaenge in den Funktionen (Transitionen) die Netze auch "zum Laufen gebracht werden". Das bedeutet letztlich, dass man ein fertig definiertes Netz als Abbild der Realitaet, etwa des tatsaechlichen Material- oder Informationsflusses, durch Einspeisen von Marken

(Informationen, Botschaften, Handlungen oder physische Materialien) simulieren kann. Aus den Ergebnissen lassen sich wertvolle Erkenntnisse zur Optimierung eines Prozesses, hier in der Produktion, gewinnen.

Dies laesst sich am Beispiel des Ressourceneinsatzes auf der Doppel- Gantry-Anlage demonstrieren. Das Ziel bei der Planung des Fertigungsprozesses war eine nahezu 100prozentige Maschinenauslastung, damit sich die Investitionen moeglichst schnell amortisieren. Die Untersuchungen konzentrierten sich einerseits auf die Mensch-Maschine-Interaktion, andererseits auf die Verfuegbarkeit von Werkzeugen, die waehrend der langen Bearbeitungszeiten in der Grossmechanik unter Umstaenden mehrfach gewechselt werden muessen.

Das Projekt wurde wissenschaftlich im Rahmen einer Diplomarbeit an der Gesamthochschule Paderborn (Lehrstuhl Professor Dangelmaier) untersucht. Besonders in der Mensch-Maschine-Interaktion konnten interessante Ergebnisse in die Praxis umgesetzt werden. In einem Modell war ein Werker fuer die Bearbeitung verschiedener Grossteile einer Gasturbine mit dem Auf- und Abspannen der Werkstuecke auf die Bearbeitungsfelder beschaeftigt. Ausserdem sollte er ein Kettenmagazin fuer die Werkzeuge beschicken. Die Frage lautete: Kann die Maschine von dem Werker ausgelastet werden?

Die einzelnen Taetigkeiten samt Umfeld wurden in einem Petri-Netz modelliert. Das Ergebnis war eine erste Auslastungskurve, aus der die freien (idle) Zeiten der Maschine ersichtlich wurden. Aufgrund der in diesem Versuch eingestellten "Zeitgranularitaet" von einer Stunde liess sich das Ergebnis fuer die Praxis allerdings noch nicht verwerten. In einer weiteren Simulation wurde mit einem Intervall von zehn Minuten gearbeitet. Die damit erhaltenen, nun praxisrelevanten Ergebnisse haben gezeigt, dass ein Werker die geforderte Auslastung der Maschine bei dem geplanten Produktionsprogramm nicht sicherstellen kann.

Neben diesen Simulationslaeufen mit Stellen-Transitionsnetzen (Petri-Netze mit unstrukturierten Marken) wurde auch eine Untersuchung zum Werkzeugeinsatz mit Praedikats-Transitionsnetzen (Petri-Netze mit strukturierten, unterscheidbaren Marken) durchgefuehrt. Dieses aeusserst komplexe Netz stellt den gesamten Ablauf der Werkzeugvorbereitung, -montage und -einstellung bis hin zum Einsatz an der Maschine dar. Auch hier brachte die Simulation wichtige Erkenntnisse: So spielen die in der Erprobungsphase noch relativ unklaren Standzeiten der Werkzeuge eine bedeutende Rolle fuer die langen Bearbeitungszeiten in der Grossmechanik. Sie muessen fuer die Produktionsphase sehr genau bekannt sein, damit die Belegung der Werkzeugkette mit Duplo-Werkzeugen (gleichartige Werkzeuge zum Wechseln) so geplant werden kann, dass sich die unproduktiven Zeiten der Maschine reduzieren. Allein mit diesen Erkenntnissen leistet die angewandte Informatik ueber Petri-Netze einen Beitrag zur Senkung der Produktionskosten.

* Dr.-Ing. Bernd Mueller ist IS Key Account Manager Produktion bei der ABB Kraftwerke AG, Mannheim.

Grundelemente eines Petri-Netzes

Ein Petri-Netz ist eine spezielle Form eines gerichteten Graphen. Es besteht aus zwei unterschiedlichen, elementfremden Objektmengen. Dies sind zum einen passive Elemente, die als Bedingungen, Stellen oder Kanaele bezeichnet und grafisch als Kreis dargestellt werden. Zum anderen sind dies aktive Elemente, die als Ereignisse, Transitionen oder Instanzen bezeichnet und grafisch mittels eines Kaestchens dargestellt werden. Die Kantenverbindungen zwischen den beiden Elementen bezeichnet man als Flussrelationen und stellt sie als Linie mit einem oder zwei Pfeilenden dar. Mit diesen Elementen laesst sich die Prozessstruktur eines Systems statisch beschreiben. Zur Darstellung des dynamischen Verhaltens werden Marken hinzugefuegt, die grafisch als Punkt dargestellt werden. Eine erfuellte Bedingung wird dann mit einer Marke gekennzeichnet.

(Auszug aus der Diplomarbeit "Ablaufoptimierung eines modernen Bearbeitungszentrums mit Hilfe von dynamischen Petri-Netzen", Francesco Pisciotta, Universitaet Gesamthochschule Paderborn/ABB Kraftwerke AG, 1994)

Der Erfinder

Professor Dr. rer. nat. Carl Adam Petri gehoert zu den fuehrenden, weltweit anerkannten und noch immer wissenschaftlich aktiven Pionieren der Informatik. Vor ueber dreissig Jahren begann er - seiner Zeit weit voraus - eine allgemeine Theorie diskreter Systeme zu entwickeln, die auf dem Konzept der Nebenlaeufigkeit, der Verteiltheit und der asynchronen Kommunikation aufbaut. Durch ideenreiche Mitwirkung Petris entstand ein neues Gebiet der Informatik, das Teile der theoretischen, der praktischen und der technischen Informatik umfasst sowie viele Anwendungen in anderen Disziplinen hat. Ein wesentliches Konzept und Modellierungshilfsmittel fuer verteilte Systeme und parallele Prozesse, mit dem zugleich auch das gesamte Forschungsgebiet bezeichnet wird, traegt den Namen des Erfinders: das "Petri-Netz".

(Auszug aus der Urkunde zur Verleihung der Konrad-Zuse-Medaille)