Materialwirtschafts-Programmsysteme:

Konzepte von vorgestern für Lösungen von morgen?

21.01.1977

Ein bissiger Spruch in EDV-Fachkreisen besagt, daß heute mit der Hardware der 3. Generation und der. Systemsoftware der 2. Generation die Anwendungen der 1. Generation realisiert werden Untermauert wird diese Aussage durch die These amerikanischer Fachleute, daß die Einführung der Materialwirtschaft mit EDV 3 bis 5 Jahre dauert. Beachtet man zusätzlich, daß die Entwicklung derartiger Systeme durch die Hersteller mindestens 3 Jahre dauert, so kann man zurückrechnen, daß diejenigen Systeme der Materialwirtschaft, die heute mit Erfolg (also schon mindestens ein Jahr) laufen, auf Konzeptionen beruhen, die 6 bis 9 Jahre zurückliegen.

Zu diesen Programmsystemen zählen vor allem die "großen" Modularprogramme wie ISI von Siemens, MIACS von Honeywell-Bull, PICS von IBM und UNIS von Univac. Aber auch INFOS von Nixdorf und Die Materialwirtschaftsprogramme von Kienzle.

Sie alle sind nach demselben Grundschema aufgebaut, nämlich:

Datenbankverwaltung (Stücklistenverwaltung, Arbeitsplanverwaltung); Materialwirtschaft (Bestandsführung, Bedarfsvorhersage, Bedarfsauflösung, Bestellrechnung); Zeitwirtschaft (Durchlaufterminierung, Kapazitätsterminierung, Werkstattsteuerung).

In dieser Reihenfolge erfolgt normalerweise die Installation, und in dieser Reihenfolge erfolgen auch die periodischen Auswertungen.

Zur Analyse solcher bewährten Systeme sollte man Maßstäbe anlegen, wie sie vor 5 Jahren galten. Als Kenngrößen kommen in Frage:

- die Eignung des Programmsystems für den speziellen Betriebstyp (Einzel-, Serien-, Variantenfertiger),

- Die Bewältigung von Ausnahmesituationen, die während des Laufs vom Programm erkannt werden

- der Rückbezug zu den einzelnen Kundenaufträgen,

- die Anzahl der Optimierungs- und Alternativroutinen für Sonderfälle,

- die Programmiersprache und der Hauptspeicherbedarf,

- der Platzbedarf auf externen Speichern,

- die Herstellerunterstützung durch Handbücher, Schulung usw.,

- die Laufzeit des Gesamt systems,

- die Laufzeit von Simulations- und Änderungsläufen,

- die organisatorischen Einschränkungen bezüglich Nummerung, Stellenzahl von Feldern und Periodeneinteilung.

Die Unterscheide zwischen den erwähnten Modularprogrammen sind bei globalem Vergleich verschwindend gering. Bei detaillierter Analyse zeigt sich aber, daß jedes der Modularprogramme schwerpunktmäßig etwas andere Bereiche abdeckt, so daß es sieh für einen Anwender schon lohnt, die einzelnen Modularprogramme genau miteinander zu vergleichen.

Bei Besichtigungen kann man allerdings erkennen, daß sieh die erfolgreichen Installationen quer über alle Modularprogramme verteilen. Die Unterscheide zwischen diesen Modularprogrammen sind wohl zu geringfügig, als daß sie den Nutzen für das Unternehmen allein entscheiden könnten.

Entscheidend ist vielmehr der Arbeitsstil, mit dem die betroffenen Abteilungsleiter und Sachbearbeiter das System handhaben. Rationell ist jedes Materialwirtschaftssystem, das mit denselben Einsatzfaktoren (Arbeitskräften, Maschinen oder Materialien) mehr Umsatz produzieren kann. Dabei entscheidet der einzelne Anwender in einem weit höheren Maße über den erfolgreichen Einsatz des Systems als das gewählte Programmsystem.

So sollten die Disponenten der Behandlung von Ausnahmen trainiert werden, die Normalfälle erledigt das Modularprogramm und die Sonderfälle nehmen bei jeder Verknappung der Einsatzfaktoren konsequenterweise zu. Die Disponenten müssen weitsichtiger handeln, um für den eigenen Bereich und vor allem für die durch die Integration mitbetroffenen Kollegen die absehbaren Ausnahmefälle zu reduzieren. Darüber hinaus kann ein Modularprogramm dazu genutzt werden, sieh auf den flexibler werdenden Märkten schneller und rationeller an neue Situationen anzupassen.

In den letzten Jahren hat die Hard- und Software technologisch und kostenmäßig eine beispiellose Entwicklung durchgemacht. So ist es heute möglich, einen Kompaktrechner für weniger als 200 000 Mark Kaufpreis zu erhalten, der die Leistung früherer Groß-EDV-Anlagen weit übertrifft. Das bedeutet, daß die Materialwirtschaft mit EDV auch für mittlere Industrieunternehmen und für dezentrale Abteilungen größerer Unternehmen interessant wird.

Hier zeigt sieh eine Chance, zukunftsgerichtete Konzeptionen für Modularprogramme zu realisieren, die die Schwachstellen der derzeitigen Modularprogramme vermeiden (lange Laufzeiten, träger Belegfluß, starrer Laufrhythmus, organisatorische Einschränkungen und lange Wartezeiten auf Auswertungen):

*Eine starre Einteilung und Organisation von Modularprogrammen ist in Zukunft nicht mehr vertretbar - organisatorische Flexibilität sollte die zukünftigen Modularprogramme auszeichnen.

*Auf dem Zeitwirtschaftssektor bieten fast alle derzeitigen Modularprogramme die Vor und Rückwärtsterminierung an. Auch Materialwirtschaftsprogramme sollten in allen Phasen die Vor- und Rückwärtsplanung beinhalten, damit die Auswirkungen und Änderungen und Störungen über alle Fertigungsstufen hinweg sofort erkennbar sind.

*Die Trennung zwischen Material- und Zeitwirtschaft ist künstlich - sie stammt noch aus Zeiten begrenzter externer Speicherkapazitäten. Alle Routinen sollten simultan sowohl den Material- wie auch den Kapazitätsbedarf beachten, da Material- und Kapazitätsengpässe sieh gegenseitig unmittelbar beeinflussen.

*Die detaillierte tagesgenaue Planung weit in der Zukunft liegender Daten erfordert lange Programmlaufzeiten. Besser wäre es- wie in der Netzplantechnik - alle Mengen zu einem frühesten und einem spätesten Termin einzuplanen und den exakten Termin erst bei der Werkstattsteuerung zu fixieren.

*Der Einsatz von Bildschirmen am Arbeitsplatz hat einen Siegeszug ohnegleichen angetreten. Änderungen und Störungen können sofort auf ihre Auswirkungen untersucht werden. Sonderfälle werden nicht mehr in umfangreichen Programmroutinen maschinell gelöst, sondern im Dialog durch den Sachbearbeiter- dadurch werden die operierenden Programme transparent und einfach.

*Vor allem das leidige Thema der Produktionsdatenerfassung kann nunmehr mit Dialogsystemen elegant gelöst werden. So steigt die Qualität und Aktualität der Informationen im Bereich der Materialwirtschaft, so daß wirklichkeitsnäher geplant wird.

Wer in einigen Jahren ein zukunftsorientiertes, erfolgreiches.

Fertigungssteuerungssystem einsetzen will, der sollte schon heute bei der Konzeption der Betriebsorganisation diese Gesichtspunkte beachten.

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