Konsolidierung der Content-Biotope

10.10.2006
Von Holger Möller und Bernhard Zöller 
Trotz Großfusionen bleibt der ECM-Markt vielseitig und unüberschaubar. Entscheidend für die Anwender ist vor allem die richtige Content-Strategie.
ECM steht für Vielfalt: Der Markt für Enterprise Content Management umfasst abhängig von der Definition bis zu zwölf eigenständige Einzeldisziplinen.
ECM steht für Vielfalt: Der Markt für Enterprise Content Management umfasst abhängig von der Definition bis zu zwölf eigenständige Einzeldisziplinen.
ECM als Content Infrastruktur
ECM als Content Infrastruktur

Einerseits begleitet uns das vollmundige Versprechen vom papierlosen Büro bis heute als uneingelöste Utopie. Andererseits sind papierarme oder sogar papierlose Prozesse seit einiger Zeit tatsächlich auf dem Vormarsch, digitale Ablagen und Archive sind in Hunderten von Unternehmen und Organisationen im täglichen Betrieb unverzichtbar geworden - quer durch alle Branchen und unabhängig von der Unternehmensgröße. Ohne informationstechnische Unterstützung ließe sich die zunehmende Flut analoger und digitaler Dokumente und Informationen auch gar nicht mehr beherrschen. Weitere Triebfedern sind der wachsende Druck, Aufbewahrungspflichten und Dokumentationspflichten für unterschiedlichste Dokumente und Abläufe - analoge oder elektronische - zu erfüllen, sowie die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit, Kosten in dokumentenbasierten Prozessen zu reduzieren.

ECM-Stolpersteine

Auf dem Weg zu einer erfolgreichen ECM-Strategie gibt es genügend Stolpersteine, die unbedingt zu beachten sind. Die folgenden Punkte zählen zu den typischen Problemsituationen:

l Die Ziele sind nicht exakt definiert.

l Die Geschäftsleitung ist nicht eingebunden ("Macht Ihr mal").

l Es gibt kein klares Projektvorgehen ("Wir fangen schon mal an").

l Die Systementscheidung fällt ohne genaue Analyse.

l Die Anwender sind nicht ausreichend in den Prozess integriert.

l Die Leistungsträger stehen nicht zur Verfügung ("Keine Zeit ...").

l Transparenz und Marketing für das Projekt sind mangelhaft ("Ist mir doch egal").

l Anforderung und Lösung passen nicht zusammen.

l Kosten und Nutzen wurden nicht exakt ermittelt, oder die Annahmen dazu waren falsch.

l Die Integration in die IT-Landschaft wurde nicht genau genug geprüft.

l Die Prozesse werden nicht der ECM-Strategie angepasst.

Kein flächendeckendes ECM

Elektronische Archivierung, Dokumenten- und Content-Management - also alle Themen rund um die Verwaltung geschäftsrelevanter Dokumente und sonstiger Unterlagen - stehen daher weit oben auf der Prioritätenliste vieler Anwender. Der Markt ist seit Jahren im Aufwärtstrend, von Marktsättigung kann noch keine Rede sein. Selbst Großunternehmen betreiben bisher kein flächendeckendes ECM, und für viele kleinere und mittelständische Anwender sind die Lösungen sogar erst in den vergangenen Jahren attraktiv geworden, weil ehemals prohibitiv teure Hardwarekomponenten wie schnelle Scanner, großformatige Bildschirme oder Archivspeicher im Terabyte-Bereich heutzutage preislich kein Hinderungsgrund mehr sind. Umso größer ist bei kleinen und mittelständischen Unternehmen der aktuell zu beobachtende Nachholbedarf.

Für Interessenten wird die Übersicht schwieriger, weil die Vielfalt der Systemangebote und Varianten wächst und die verschiedenen Angebote miteinander kaum vergleichbar sind. Das liegt vor allem daran, dass sich unter Begriffen wie "Enterprise Content Management" oder "Dokumenten-Management" sehr viele unterschiedliche Produkte und Funktionen positionieren (siehe Abbildung).

Vor allem der deutschsprachige Markt ist dicht besetzt. Die aktuelle DMS-Marktübersicht des Branchenverbandes VOI (VOI Marktübersicht Dokumenten Management Systeme 2006) listet im Segment DMS (ohne dedizierte Web-Redaktions- und Collaboration-Systeme) 55 Produkte von 52 Anbietern auf - von der kleinen Lösung für die einfache Archivierung in Kleinunternehmen bis zu den echten ECM-Suiten mit umfassender Content-Funktionalität inklusive BPM-Engine, Web-Redaktionssystem und Collaboration-Funktionen.

Marktbereinigung oder Vielfalt?

Diese Fragmentierung schlägt sich auch in den Marktstrukturen nieder: Kein Anbieter hat mehr als fünf bis zehn Prozent Marktanteil, keiner der vier größten internationalen Anbieter IBM, FileNet, EMC/Documentum und OpenText erreicht im Kern-Content-Geschäft derzeit mehr als 500 Millionen Dollar Umsatz. In fast jedem europäischen Land gibt es eine Vielzahl regionaler Anbieter, die preislich und architektonisch auch mittelstandsgeeignet sind und die außerdem so manche nationale Branchenbesonderheit schneller umsetzen.

Wenn also auf der einen Seite immer wieder von einer Marktkonsolidierung unter den ECM-Anbietern gesprochen wird, so widerspricht dem die Praxis mit einer verwirrenden und eher noch wachsenden Vielfalt. Die beeindruckende Liste von Übernahmen und Fusionen der vergangenen Jahre hat aus zwei wichtigen Gründen nicht dazu geführt, dass die Zahl der angebotenen Systeme abnahm: Erstens ist der Druck auf die Anbieter gewachsen, ihre ehemaligen Funktionsinseln umzubauen zu Komplettlösungen für alle Anwendungsbereiche in einem Unternehmen - so genannten Enterprise-Content-Management-Suiten.

Integration auf dem Papier

Insbesondere die großen Anbieter haben diese Aufgabe durch Zukäufe erledigt, dabei aber keine direkten Konkurrenten übernommen, sondern Unternehmen mit ergänzenden Komponenten, deren Lösungen häufig auch heute noch verfügbar sind. Diese Methode brachte vielen Anwendern Nachteile, weil im Zuge der personellen Konsolidierungen nicht nur vertraute Ansprechpartner verloren gingen, sondern auch Unsicherheiten bei der Fortführung oder der Integration von Produktlinien entstanden. Der "Broschürenintegration" auf dem Papier folgte daher häufig genug langes Warten, bis die Produkt-Roadmaps funktional und vor allem architektonisch integriert waren.

Als zweiter Effekt ist festzustellen, dass mit dem Marktwachstum Begehrlichkeiten geweckt wurden und so ständig neue Anbieter auf den Markt kommen. So wird die Zahl der Systeme, die heute nicht mehr verfügbar sind - Philips Megadoc, DataGeneral AVImage, Siemens-Nixdorf Arcis, Watermark oder Docman - immer wieder übertroffen von der Anzahl der Neueinsteiger - ob es sich dabei um langjährige, ausländische DMS-Anbieter handelt, die auf dem deutschsprachigen Markt aktiv werden wollen, oder ob echte Neueinsteiger mit neuartigen DMS-Angeboten starten.

Aufgrund dieser Entwicklungen findet sich heute bei Großunternehmen typischerweise eine aufwendig zu betreibende Vielfalt unterschiedlicher Systeme, die ursprünglich für jeweils spezifische Abteilungs- oder Prozessanforderungen beschafft wurden. Hinzu kommen die Fusionen und Übernahmen auf Seiten der Anwender, die ebenfalls dazu beitragen, dass eine ständig wachsende Zahl unterschiedlicher, miteinander nicht kompatibler Content-Systeme gepflegt werden muss.

Abteilungslösungen dominieren

Zwar kann kein Anbieter heute von sich behaupten, den gesamten technisch-funktionalen Bereich oder das gesamte Spektrum der branchenspezifischen und fachlichen Anforderungen des ECM gleich gut und aus eigener Hand abzudecken. Aber die mittlerweile angebotenen DMS-Komplettlösungen beziehungsweise ECM-Suiten ermöglichen doch eine drastische Reduzierung der Systemvielfalt. Ob diese technischen Möglichkeiten für ein abteilungs- und prozessübergreifendes Content Management von Anwenderunternehmen auch tatsächlich genutzt werden, steht auf einem anderen Blatt. Denn nach wie vor prägen suboptimale Abteilungslösungen das Bild, werden beispielsweise Rechnungseingangsbearbeitung, Antragsbearbeitung, E-Mail-Archivierung oder Drucklistenarchivierung über unterschiedliche Systeme abgewickelt. Manche Unternehmen verfügen mittlerweile über ein umfangreiches DMS-Biotop mit komplexen Abhängigkeiten zwischen Einzelkomponenten, die daher kaum noch pflegbar und funktional sowie technisch veraltet sind.

Hohe Kosten, geringe Effizienz

Eine solche Arbeitsweise führt zu erheblichen betriebswirtschaftlichen Nachteilen. Der Betrieb solcher verteilten Lösungen führt zu unnötig hohen IT-Kosten durch erhöhten Aufwand für Wartung, Betrieb und Schnittstellenpflege unterschiedlicher Systeme. Die Nachteile solcher pseudo-integrierten Lösungen liegen auf der Hand:

- Mehrfacher Trainings- und Integrationsaufwand für gleiche oder ähnliche Funktionalität auf Basis unterschiedlicher Komponenten mit unterschiedlichen Oberflächen und Bedienelementen.

- Unterschiedliche Architekturen, vor allem auf der Client-Seite und in der Middle-Tier. Ignoriert die IT den Umstand, dass der Client im Gegensatz zum Middle-Tier von Hunderten oder Tausenden Benutzern bedient werden und somit ergonomische Maßstäbe erfüllen muss, droht eine Investitionsruine wegen Nichtakzeptanz durch die Endanwender.

- Beherrschung unterschiedlicher Entwicklungsumgebungen: Eine heterogene Client- und Server-Umgebung setzt eine Vielfalt an Qualifikationen voraus, um Entwicklung und Pflege der Anwendungen sowie deren Integration in die vorhandene DV-Landschaft leisten zu können.

- Unterschiedliche Ansprechpartner und Support-Strukturen. Der Support gestaltet sich wesentlich aufwendiger, wenn eine Lösung von verschiedenen Herstellern kommt, die sich bezüglich Fehleranalyse und Eskalation abstimmen müssen (was sie in der Regel nicht tun).

Die IT-Kosten sind aber nur eine Dimension des Problems. Viel gravierender ist, dass unter der Verteilung von Content und Content-Funktionen auf verschiedene Systeme die gesamte Unternehmenseffektivität leiden kann. Wenn nämlich aufgrund nicht abgestimmter, nicht integrierter Infrastrukturen die Prozesse nicht rund laufen, ist das Erreichen von Unternehmenszielen mit unverhältnismäßig hohem Aufwand verbunden. Vielen Managern ist das häufig nicht bewusst. Erst durch die Analyse der Geschäftsprozesse wird deutlich, welche Potenziale in den Unternehmen schlummern - und verschenkt werden. Dann werden die Abhängigkeit der Unternehmensprozesse von betrieblichen Inhalten, die Art und Weise, wie die Inhalte verwaltet werden, und die Kosten dafür erst transparent. Oft werden solche Analysen aber erst dann angestoßen, wenn neue Unternehmensstrategien entwickelt und BPM-Projekte gestartet wurden, weil man festgestellt hat, dass die Konkurrenz viel effektiver arbeitet - so zum Beispiel durch Benchmarking.

Reduzierung der Komplexität

Um zu einer dem Unternehmen entsprechenden ECM-Lösung zu kommen, ist eine Entwicklung einer eigenen ECM-Strategie notwendig, die sich an den Unternehmenszielen orientieren muss. Zu vermeiden ist etwa eine reine IT-Sicht, die auf eine Vereinheitlichung der Systeme fokussiert. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist es nämlich nicht immer ratsam, für das gesamte Unternehmen ein einziges System für alle Content-Probleme zu beschaffen, weil kein System alle Funktionen gleich gut abdeckt. Ziel sollte also sein, die Systemvielfalt zu minimieren und gleichzeitig die wesentlichen Anforderungen zu erfüllen. Die Reduzierung auf ein einziges System für alle Content-Funktionen in einem Unternehmen ist unseres Erachtens unrealistisch.

Der entscheidende Erfolgsfaktor einer ECM-Strategie liegt in der Analyse der Unternehmensziele, um die für die Zeilerreichung notwendigen betrieblichen Inhalte, deren Verarbeitungsfunktionen und die Integrationsanforderungen ermitteln zu können. In diesem Zusammenhang sind folgende Fragenkomplexe näher zu untersuchen:

- Analyse der geforderten Content-Funktionalität: Welche Content-Funktionen sind tatsächlich notwendig, und welche Anforderungen lassen sich mit einer reduzierten Zahl von Lösungen abdecken? SAP oder Microsoft bieten beispielsweise Content-Funktionen als logische Ergänzung ihrer Infrastruktur an. Wer also den SAP Content Server benutzt, ist in der Regel SAP-Anwender und verfügt als solcher bereits über viele Content-orientierte Funktionen. Im Sinne geringer Betriebskosten erscheint es hier sinnvoll, weniger Funktionalität zu akzeptieren, wenn man dafür eine weitere Anwendungsplattform vermeiden kann.

- Analyse aller Umgebungssysteme (kaufmännische Anwendungen, ERP-Systeme, Mail-Systeme und so weiter), die ECM-relevanten Content erzeugen. Hierbei geht es weniger um die Frage der Ablage selbst, sondern darum, wie man den Content aus dem anderen System übernimmt, ob man ihn konvertiert oder im Originalformat belässt und in welchem Format für welches System man ihn wieder zur Verfügung stellen kann.

- Analyse, für welche Zielsysteme (abfragende Systeme) Content aus dem ECM zur Verfügung gestellt werden muss, wenn der Content ursprünglich gar nicht aus dem abfragenden Anwendungssystem kommt. Die Kernfrage hier ist die der Verknüpfung zwischen dem Content und dem Anwendungssystem.

ECM als Content-Infrastruktur

Erweitert man diese Überlegungen um die Anforderungen aus der IT-Strategie in Bezug auf die technischen Plattformen, Architekturen und Ähnlichem, so ergibt sich daraus eine Enterprise-Content-Infrastruktur.

Auch der Content-Lebenszyklus ist auf vergleichbare Weise abzubilden. Konkret gilt es hier, folgende Fragen zu beantworten:

l Wie sollen Objekte übernommen werden? Manuell oder systemgesteuert, synchron (MS Office) oder asynchron (Druckspool)?

l Was soll mit dem Objekt im Quellsystem geschehen? Löschen oder durch Restobjekt ersetzen?

l Wie kommt das Quellsystem (Outlook, DB-Anwendung, Host-Anwendung) wieder an das ausgelagerte Objekt? Konkret: Wie sollen die beiden Anwendungen/Datenbanken so miteinander verknüpft werden, dass ein späteres Retrieval aus der Quellanwendung oder einer anderen anfragenden Anwendung wieder möglich ist? Ist sichergestellt, dass keine Indexlücke entsteht? Wenn die Eingangspost auf dem Host und auf dem DMS indexiert wird: Passiert das auch mit der zu archivierenden Mail, oder wird diese nur im Mail-System und im DMS indexiert?

l Wie soll das Objekt abgelegt/archiviert werden? Im Originalformat oder in einem konvertierten Format? Was soll man mit proprietären oder exotischen Formaten (1403 Drucklisten, AFP-Druckspools, Exchange-Objekten oder Auslagerungsdateien) aus Datenbankanwendungen tun?

l Welche Prozesse sind abzubilden? Typische Beispiele sind Entstehung, Versionierung, Genehmigung, Freizeichnung, Veröffentlichung in Original- oder Rendition-Format.

l In welche Prozesse der Fachanwendungen sind die Content-Abläufe zu integrieren?

Die sich daraus ergebenden Anforderungen an eine unternehmensweite ECM-Lösung müssen dann noch mit den gesetzlichen und betrieblichen Anforderungen zur Archivierung ergänzt werden. Die Archivierung ist und bleibt eine der Kernfunktionen eines ECM-Systems.

Compliance bleibt wichtig

Die Berücksichtigung der rechtlichen Rahmenbedingungen (Compliance) schließlich, die heute als Hauptverkaufsargument von den ECM-Anbieter ins Feld geführt wird, ist auch weiterhin ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn es um die Verwaltung von Content geht, der handels-, steuer- oder zivilrechtlich relevant ist. Um Schaden vom Unternehmen abzuwenden, muss geprüft werden, ob die gesetzlichen oder betrieblichen Vorgaben mit dem ECM-System umgesetzt werden können. Mit der zunehmenden Sensibilisierung des Gesetzgebers für die Relevanz elektronischer Dokumente behält das Thema Konformität der Systeme mit den geltenden regulatorischen Anforderungen (nichts anderes bedeutet der Begriff "Compliance") nach wie vor seine Bedeutung. Der Erfolg der Strategie ist maßgeblich davon abhängig, dass die richtigen Personen im Projekt integriert sind und ein strukturiertes, transparentes Vorgehen eingehalten wird.

Gerade in der DMS-Branche mit ihrer hohen Affinität zum Thema Workflow weiß man aus langjähriger Erfahrung, wie wenig reformierbar alte, historisch gewachsene Abläufe sein können. Je größer der wirtschaftliche Druck auf die Unternehmen aber wird, desto eher stehen auch alte Zöpfe zur Disposition. ECM-Projekte mit ihren unterschiedlichen Funktionskomponenten bieten den Anwendern die Möglichkeit des "sanften Einstiegs", ohne das eigentliche Ziel, nämlich eine Optimierung aller Content-basierten Prozesse, aus den Augen zu verlieren.

Bernhard Zöller ist Geschäftsführer, Holger Möller ist Berater bei der Zöller & Partner GmbH.