Expertensysteme stellen neue Anforderungen an das Projekt-Management:

Knowledge-Engineering reicht allein nicht aus

04.03.1988

Die bisher in der Systementwicklung angewandten Methoden und Verfahren können bei Expertensystem-Projekten nicht mehr zum Tragen kommen. Der Erfolg, so Udo

Abel und Wilhelm Schulte*, hängt vielmehr von der fachlichen Umsetzung ab. Notwendig sei es deshalb, neben den Knowledge-lngenieuren künftig auch verstärkt die Fachabteilungsmitarbeiter in die Realisierung eines solchen Systems mit einzubeziehen.

Über den praktischen Einsatz von Expertensystemen wird heute nicht mehr nur diskutiert. Viele Unternehmen verfolgen und realisieren bereits konkrete Projekte. So gesellen sich in der Produktion in zunehmendem Maße auch konkrete Verfahren für betriebswirtschaftliche Anwendungsgebiete zu. Zu Recht, denn Expertensysteme können als eine flexible und technologisch fortschrittliche Problemlösung angesehen werden. Diese Entwicklung geht einher mit der wachsenden Reife der Werkzeuge, die für die professionelle Erstellung von Expertensystemen benötigt werden. Die in Frage kommenden Sprachen und Shells verlassen allmählich ihre entwicklungsbedingte Isolation und warten immer mehr mit Merkmalen auf, die sie für die professionelle Anwendungsentwicklung interessant werden lassen. Hierzu gehören eine hohe Funktionalität, die Integrierbarkeit in Host-Umgebungen, Anbindungsmöglichkeiten an bestehende oder geplante operationale DV-Verfahren und Easy - to - Use - Charakter für die Benutzung durch den Systementwickler und/oder Fachexperten.

Expertensysteme erscheinen dadurch mittel- bis langfristig als eine organisatorisch und ökonomisch sinnvolle Lösung. Knowledge - Engineering ist das Zauberwort, mit dessen alleinigem Einsatz man hofft, den für die Realisierung von Expertensystemen so wichtigen Wissenstransfer vom Experten in ein komplexes DV-Verfahren zu erreichen.

Die neue Technologie steht somit zur Verfügung. Wie sieht es aber mit den Methoden und Verfahren aus, diese Technologien in der Softwareentwicklung problemadäquat zu nutzen, damit die angegangenen Projekte auch erfolgreich verlaufen?

Wie so oft zeigt sich hier, daß die Werkzeug-Entwicklung wieder einmal der Weiterentwicklung des organisatorischen Umfeldes einen großen Schritt vorauseilt. Die konventionelle Rollenverteilung - in vielen Großprojekten von der Systementwicklung seit vielen Jahren mehr oder weniger gut eingeübt - läßt sich in Expertensystem-Projekten nicht oder nur eingeschränkt anwenden.

Auch die bisher bekannten und vielfach praktizierten Projekt - Management - Verfahren und Entwicklungsmethoden schaffen in Expertensystem - Projekten mehr Probleme, als sie zu lösen in der Lage sind. Anpassungen und ein radikales Umdenken sind erforderlich, will man zumindest von der organisatorischen Infrastruktur her den Erfolg von Expertensystem - Projekten sicher stellen. Denn der Einsatz eines entsprechenden Werkzeuges ohne Änderungen oder Anpassungen in den grundlegenden Verfahren und Methoden garantiert eher den Mißerfolg als den Erfolg eines Expertensystem - Projektes.

Mit dem Einsatz moderner Technologien änderten und ändern sich auch die Anforderungen an die Softwareentwickler und an die späteren Nutzer dieser Verfahren. Der technologische Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte hat gezeigt, daß Veränderungen immer dort leicht adaptierbar sind, wo rein Hardware-technologische Bereiche betroffen sind. Die Umstellung der Methoden und Verfahren vollzieht sich dagegen in einem um Größenordnungen langsameren Tempo. Es muß befürchtet werden, daß die für den Einsatz von Expertensystemen notwendigen fundamentalen Änderungen in vielen Unternehmen zu spät eingeleitet werden. Die Folgen sind Fehlschläge, die leicht zu einer Abkehr von der Expertensystem-Technologie führen können. Dies wird langfristig schwere Nachteile für die Unternehmen bringen.

Bisher haben aber weder die Wissenschaft noch universitäts- und herstellernahe Forschungseinrichtungen eine befriedigende Lösung für die angesprochenen Probleme gefunden. Zu gering sind noch die Erfahrungen im Knowledge-Engineering, in dem sich die professionelle Anwendungsentwicklung bei Großprojekten vollzieht. Praxiserfahrungen sind daher unbedingt notwendig. Sie werden aufzeigen, daß die bislang vielerorts eingeübten Methoden und Verfahren in der Systementwicklung bei entsprechenden Expertensystemen nicht mehr anzuwenden sind.

Auch kommen Pflichtenhefte oder ähnliche Instrumente, wie sie bei jedem klassischen DV-Projekt vorkommen, für die Entwicklung von Expertensystemen nicht mehr in Frage. Denn ein Pflichtenheft enthält die Beschreibung aller Funktionen des geplanten DV-Systems sowie alle zur Ausführung dieser Funktionen notwendigen Parameter. Gerade diese sollen während der Entwicklung in Zusammenarbeit mit dem Experten eruiert werden.

Auch wenn das Anwendungsgebiet klar abgegrenzt werden kann, ist eine "theoretische" Definition aller notwendigen Parameter (= Beschreibung des betrachteten Weltausschnitts) kaum möglich. Dies hat im wesentlichen drei Gründe: Ein großer Teil des Wissens über ein Anwendungsgebiet ist allgemeines Weltwissen und wird von den Experten unbewußt verwendet. Dies wird erst sichtbar, wenn zum Beispiel eine Regel in einem Prototyp zu selten oder zu oft angesprochen wird.

Auch ist die Bedeutung eines Parameters in der realen Welt selten so festgelegt, daß eine Formalisierung ohne Bedeutungsverlust erfolgen kann. Der Verlust ist erfahrungsgemäß erst dann festzustellen, wenn der Parameter in einem Prototyp implementiert und benutzt wird. Und schließlich ist die Verifizierung einer Regel nur in einem laufenden Prototypen möglich, da die meist vorhandene Masse von Ausnahmen nur durch intensive Simulation von Testfällen bewußt wird.

Fachliche Umsetzung rückt mehr in den Vordergrund

Die Entwicklung eines Expertensystems wird sich aber umso schneller und präziser vollziehen, je genauer die Kenntnisse des Experten in der streng formalen Handhabung der Parameter durch das System sind. Nur dann kann der Experte klare Regeln formulieren. Der Knowledge-Engineer wird dadurch keineswegs überflüssig: Sein Aufgabenschwerpunkt

- bedingt durch seine Ausbildung und Erfahrung - liegt vielmehr in der Erarbeitung einer geeigneten Objektstruktur, die das System flexibel und ausbaufähig macht sowie in der Koordinierung von Änderungen innerhalb des Gesamtsystems, die der Fachexperte nicht abzuschätzen vermag. Der Erfolg eines Expertensystem-Projektes ist also nicht nur abhängig von der Funktionalität des eingesetzten Tools. Vielmehr rückt die Frage nach der fachlichen Umsetzung immer mehr in den Vordergrund. Aus diesem Grund ist eine permanente Mitarbeit der Experten erforderlich, da nur sie die aus den genannten Problemfeldern resultierenden Ergebnisse deuten können.

Experten und Entwickler müssen zusammenarbeiten

Dies heißt aber, daß die Experten mit dem Knowledge-Engineer am Terminal arbeiten müssen, um Testfälle zu simulieren, die Ergebnisse zu analysieren und Korrekturen des Knowledge-Engineers unmittelbar zu verifizieren. Letzteres ist um so wichtiger, als mit der zunehmenden Komplexität des Expertensystems eine Veränderung kaum ohne unerwünschte Nebenwirkungen durchgeführt werden kann.

Die Experten müssen daher permanent in die Systementwicklung und die angewandten Methoden und Verfahren eingebunden werden. Der Ansatz, der bislang mehr oder weniger auf eine Trennung und genaue Schnittstellendefinition zwischen Auftraggeber/Anwender und Systementwickler hinauslief, ist nicht mehr durchführbar. Neue organisatorische und verfahrensmethodische Konzepte sind erforderlich, die diese Entwicklung berücksichtigen. Der Fachabteilungsmitarbeiter (Experte) und der Systementwickler müssen in Zukunft stärker als bisher aufeinander zugehen.

Das heißt zum einen, daß sich die Fachabteilungsmitarbeiter mehr als bisher mit den angewendeten Sprachen oder Shells vertraut machen müssen. Zum anderen müssen die Systementwickler lernen, ihr DV-Wissen an den Fachabteilungsmitarbeiter (Experten) zu vermitteln, um den erforderlichen Wissenstransfer zur Implementierung des Expertenwissens in das DV-Verfahren ohne unnötige Reibungsverluste sicherzustellen. Es zeichnet sich somit eine neue Herausforderung für alle Beteiligten ab. Speziell für die DV-Verantwortlichen wird neben der Beherrschung der neuen Software-Technologien vor allem auch die Gestaltung des organisatorischen Umfeldes eine wichtige Rolle spielen.

Etablierte Positionen sind zu überdenken

Expertensystem-Projekte können also nur dann erfolgreich verlaufen, wenn es organisatorisch gelingt, die entsprechenden Fachexperten in die Entwicklung miteinzubeziehen. Die Mitarbeit der Fachabteilungen bei der Verfahrensentwicklung wird daher erheblich steigen. Anteile von 50 Prozent und darüber hinaus - also

unter Einbeziehung des Knowledge-Engineers, des Systemspezialisten und des Organisators - werden zukünftig bei Expertensystem-Projekten keine Seltenheit mehr sein.

Die starke Integration der Fachexperten ist eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Realisierung solcher Projekte. Die damit verbundenen Probleme, wie insbesondere die richtige organisatorische Einbindung der Fachabteilung und die geeignete Methodenauswahl, müssen gelöst werden, bevor hohe Erwartungen an die Entwicklung gestellt werden. Dieses zwingt alle Verantwortlichen in der Systementwicklung, die bisherigen Positionen zu überdenken und sie den geänderten Rahmenbedingungen anzupassen.